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Ledersessel II

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Die Geschichte ist sich ständig selbst voraus und ist auch ständig rückwärts gewandt.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Abwärtsfliegen war nicht dasselbe wie Abstürzen. Ein Abwärtsflieger hatte einen Plan, wollte auf dem Boden ankommen, während ein Abstürzler bestenfalls das unten Ankommen billigend in Kauf nahm. Ich fliege in einem flachen, nach unten gerichteten Winkel, dachte Karin Zwingli, die kritische Flughöhe habe ich noch nicht unterschritten. Außenstehende hatten wahrscheinlich den Eindruck, dass sie gerade auf Zehenspitzen durch den Lesesaal der Museumsgesellschaft schlich und auf einen der roten Ledersessel zusteuerte, so als ob sie etwas Heimliches vorhätte. Hoffentlich schaute keiner her. Denn sie hatte etwas Heimliches vor.

»Joe?«

»Nenn mich Joe«, hatte er gesagt, und sie musste das tun, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte, auf mehr Distanz drängte.

Joe antwortete nicht. Sein grauhaariger Kopf hing schwer über der breiten Brust, der rote Schal hatte sich von seinem Hals gelöst, die Brille war bis ans Ende der Nasenspitze gerutscht. Waren seine Lider geschlossen, oder hatte er einfach nur die Augen zusammengekniffen, um die kleine Schrift des Lexikons des Aberglaubens besser entziffern zu können?

Laut reden sollte man hier im Lesesaal nicht. Karin fasste den Mann an der Schulter und schüttelte ihn leicht.

»Joe?«

Stille. Schon den ganzen Morgen über hatte Karin nichts gehört außer dem Rascheln von umgeblätterten Zeitungsseiten und einem sägenden Schnarchen von den Sesseln her. Das Schnarchen hatte inzwischen aufgehört.

Sie zog vorsichtig das dicke Buch unter Joes Händen weg. Sein Kopf geriet ins Schwanken, sonst regte Joe sich nicht. Ein wildes Hoffen drängte sich in ihren Kopf: War er etwa tot? Wäre es nicht eine wunderbare Erleichterung, wenn er plötzlich weg wäre, eine unangenehme Konstante entfernt aus der Gleichung des Lebens, die sie dann ganz neu wieder ausbalancieren konnte? Film ab: Ambulanz, Friedhof (um sicherzugehen, dass er wirklich unter die Erde kam und der Sargdeckel geschlossen war), dann endlich frei. In eine andere Wohnung ziehen, in ein anderes Quartier, weg von den Erinnerungen. Neu anfangen. Niemals vollkommen frei, das war ihr klar. Doch wenigstens von der äußeren Bedrohung befreit sein. In einem steilen Winkel nach oben fliegen.

Ein massiger alter Mann mit mehr Macht über sie, als sie ertragen konnte. Warum sahen sich die meisten alten Männer so ähnlich? Bekamen die gleichen Hängelider, Gehässigkeitsfalten, den gleichen talgartigen Altmännergeruch? Erinnerungen stießen nach oben, brodelten unter dem Deckel, den sie notdürftig auf die jüngste Vergangenheit gesetzt hatte. Dieser Joe roch heute besonders unangenehm, ein saures Stinken, das sie nicht identifizieren konnte.

Sie rüttelte stärker an seiner Schulter. Gleich würden seine Arme vom Tisch rutschen, seine behaarten Hände neben dem Stuhl baumeln, sie würde den schweren Körper stabilisieren müssen, damit er nicht auf den Boden rutschte, während sie den Rettungswagen rief, aber für eine Rettung würde es längst zu spät sein.

»Verdammt, hör auf damit! Was soll denn das?« Seine Bassstimme war kräftig, wie schon beim letzten Treffen. Von einem der Tische am Fenster schreckte einer der Stammgäste hoch, sah Karin strafend an.

Der Traum war vorbei.

»Du hast mich gebeten, dich hier zu treffen, es ist 18.45 Uhr«, flüsterte sie Joe zu.

Er schaute zu ihr hoch, ein Glitzern in seinen graugrünen Augen. »Später. Wenn ich Zeit für dich habe.«

»Wann später?« So schnell ließ sie sich nicht abspeisen.

»Du kannst oben im Debattierzimmer auf mich warten.«

Mord im Lesesaal

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