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Aufruhr

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Die Geschichte, in die der Täter verstrickt ist, kann von weitem oder in der Nähe auftauchen.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Cressida spürte, dass sie inzwischen nicht mehr allein vor dem Sessel stand. Körperwärme hinter ihr, scharf eingezogener Atem, ein tiefes Luftholen wie vor einem Panikwortschwall.

Was würde Wilhelm in so einer Situation tun, der Philosoph Wilhelm Schapp, erfahrener Privatdetektiv und Geschichtenverfolger ihrer drei Kriminalromane? »Alles Wichtige, was einen Menschen ausmacht, ist in den Geschichten enthalten, in die er verstrickt ist.« Durch seine langjährige Tätigkeit als Jurist in Agrarfragen war er bodenständig genug geworden, um sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn in seiner Gemeinde ein Streit zwischen Nachbarn entbrannte, wandte man sich gern an ihn, denn er hörte geduldig zu und ließ sich persönliche Geschichten bis ins letzte Detail erzählen. Er lud sich gern zu den in den Konflikt Verwickelten nachmittags zum Kaffee ein und ermunterte sie dann zum Reden, ohne sie jemals durch kluge Ratschläge oder gezielte Fragen zu unterbrechen. Seine Gelassenheit beim Auseinanderwickeln und Zusammenspinnen von Geschichten war sprichwörtlich. Schon darüber zu schreiben, ließ Cressida selbst jedes Mal ruhiger werden. Schon daran zu denken, brachte sie nun wieder in die Realität der aktuellen Geschichte zurück.

Wilhelm würde als Erstes Karin das Messer aus der Hand nehmen. Das war zwar für die Entwicklung neuer Geschichten kontraproduktiv, würde aber zur Entwirrung der schon vorhandenen Geschichten beitragen. Natürlich würde er das Messer unter Vorsichtsmaßnahmen sicherstellen, weil die Gegenstände, die von Menschen benutzt wurden, in deren Geschichten verstrickt waren, »Wozudinge« nannte er diese Gegenstände, und die mussten auf ihre Verstrickung hin untersucht werden. Moment mal – würde Wilhelm nicht zuerst die Polizei anrufen, weil die Polizei noch über zusätzliche Mittel verfügte, verborgene Narrative ans Licht zu bringen?

»Ich rufe die Polizei!«, rief eine Männerstimme hinter Cressidas Rücken. Das musste Martin Leeman sein. Umdrehen wollte sie sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht, denn sie hatte das Gefühl, sie dürfe Karin nicht aus dem Blick zu lassen, sonst würde etwas noch Schlimmeres passieren.

Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Jackentasche.

»Karin, ich nehme dir das Messer ab. So, das ist besser. Kannst du aufstehen?«

Sie legte das Messer mit dem Papier auf den Tisch vor dem Sessel und versuchte, Karin hochzuhelfen. Im Hintergrund hörte sie, wie Martin Leeman telefonierte. »Museumsgesellschaft Zürich, Limmatquai 62, erster Stock, Lesesaal. Ich möchte einen Todesfall melden. Es ist Mord! … Woher ich das weiß? Hier liegt ein toter Mann, er wurde erstochen, alles ist voller Blut! … Ja, die Täterin haben wir schon gefasst, wir halten sie hier fest … Wie bitte? … Was soll das heißen, kein dringender Handlungsbedarf? … Was sagen Sie da? … Das darf nicht wahr sein! … Wann? … Sie brauchen doch nur einen einzigen … Da muss man in so einem Fall eine Ausnahme machen … Das können Sie nicht verlangen! … Ich werde mich beschweren! … Ja. … Und bitte so schnell wie möglich!«

Das hörte sich nach Problemen mit dem Polizeieinsatz an. Cressida drehte sich zu Martin Leeman um.

»Was sagt die Polizei? Kommen die bald, mit Ambulanz und Spurensicherung?«

Er schnaufte. »Frühestens in zwei Stunden. Es ist nicht zu fassen! Wir sollen alle so lange hier bleiben und warten, haben sie gesagt.«

Der hagere Mann neben ihm räusperte sich. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie haben da sicher etwas falsch verstanden«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Die Kantonalpolizei ist immer sehr zuverlässig. Mit wem haben Sie gesprochen?«

Martin Leeman runzelte die Stirn. »Sie können es gern selbst versuchen. Die Polizei ist gerade im Großeinsatz für das Fußballspiel im Letzigrund, da haben sie zurzeit keine freien Ressourcen, wurde mir gesagt. Anscheinend ist dort eine Massenschlägerei im Gange, mit Schwerverletzten, vielleicht sogar Toten. Alle Rettungs- und Polizeikräfte sind gerade im Großraum Letzigrund im Einsatz.«

»Moment, das werden wir ja mal sehen.« Der Hagere holte ein Mobiltelefon aus der Tasche. »Sie werden mich einen Moment entschuldigen, ich muss kurz draußen ein Privatgespräch mit dem Polizeipräsidenten führen.«

Er ging in Richtung Tür, aber Cressida packte ihn am Arm und hielt ihn fest. »Niemand sollte den Raum allein verlassen, bis die Polizei kommt!«, sagte sie. »Im Moment sind wir alle verdächtig, mit dem Tod dieses Mannes etwas zu tun zu haben.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, zischte der Hagere. »Ich bin Theodor Storz, Inhaber der Firma Storz-Druckerzeugnisse, was sollte ich wohl mit dem Tod eines derartig derangierten Besuchers zu tun haben? Sie können doch nicht so mir nichts, dir nichts eine ganze Gruppe von unbescholtenen Bürgern verdächtigen!«

»Genau, das ist maßlos übertrieben«, mischte sich Martin Leeman ein. »Wir haben diese junge Frau auf frischer Tat ertappt, sie hatte das Mordinstrument ja sogar noch in der Hand!«

Der Hagere nickte und tippte in sein Smartphone. Er ging zum Fenster, murmelte ins Telefon, gestikulierte. Warum redeten Leute mit den Händen, wenn sie wissen mussten, dass ihr Gesprächspartner sie nicht sehen konnte? Bei unsympathischen Leuten fiel einem so etwas sofort auf. Cressida wandte sich an die anderen.

»Solange wir nicht wissen, was passiert ist, sollten wir darauf achten, dass niemand das Haus verlässt.«

»Das wollte ich auch gerade vorschlagen!« Heinrich Oberstrass lehnte im Türrahmen. Anscheinend stand er da schon eine ganze Weile, hatte sich jedoch bisher nicht bemerkbar gemacht. »Ich werde nachsehen, ob sich noch jemand in den Büros, in der Kaffeeküche, in den Toiletten oder im Debattierzimmer aufhält. Jeder, der heute Abend im Haus ist, könnte etwas Wichtiges beobachtet haben. Die Haustür lässt sich mit dem Hauptschlüssel absperren, der liegt in der Schublade der Lesesaalaufsicht.«

Woher wusste er das? Ehe Cressida nachfragen konnte, war er schon zum Schreibtisch hinter dem Pult geeilt und hielt den Schlüssel triumphierend hoch.

»Sie gehen nicht allein«, sagte Martin Leeman. »Wenn wir schon alle verdächtig sein sollen, müssen wir uns gegenseitig überwachen. Ich komme mit Ihnen auf den Rundgang durchs Haus.«

Der Hagere hatte aufgehört zu telefonieren. Er ging zu dem Toten hinüber und musterte ihn eingehend. »Gut, dann ist es wohl meine Aufgabe, hierzubleiben und zu sehen, dass nichts angerührt wird.« Er warf Cressida einen misstrauischen Blick zu. Anscheinend hielt er sie für eine gefährliche Komplizin der entlarvten Mörderin. Sie blickte eisig zurück. Das hatte sie über die Jahre perfektioniert, das funktionierte meistens wie ein Schlag zwischen die Beine. Dieser Theodor Storz sollte sich nur nicht einbilden, dass er sich hier als Autoritätsperson aufspielen konnte.

Mord im Lesesaal

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