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Annäherung von innen II

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Wir können höchstens sagen, dass die Geschichten nicht aus dem Nichts auftauchen, dass sie irgendwie in einem Horizont liegen, vorhanden sind, aus dem sie mehr oder weniger schnell heraustreten.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Karin Zwingli saß am offenen Fenster des Debattierzimmers und zog heftig an ihrer Zigarette. Der Rauch, den sie einsaugte, war durchmischt mit kalter Abendluft, und der ersehnte Kick in der Lunge fiel schwach aus, ein kleiner Knuff statt eines Befreiungsschlages. Es half nichts, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Es waren Dinge passiert, die sich nie wieder rückgängig machen ließen. Kein Grübeln würde jemals etwas daran ändern können. Es ließ sich nicht wegerklären. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie war froh, allein im Debattierzimmer zu sein. Das fröhliche Schwatzen unbeschwerter Studenten hätte sie jetzt nicht ertragen.

Sie ließ ihren Blick unscharf werden, um nur noch Farben und Hell und Dunkel vor sich zu haben. Schmutzigschwarz. Tiefenschwarz. Grelle Lichtpunkte in Gelb und Blau. Seltsam schön, wenn man nicht genau hinschaute. Grelb und Pickblau. Lichtblau und Blaulicht. Braubleich. Grelles Gericht. Jemand würde über sie richten. Nicht über ihre schlechte Lyrik. Sondern über sie, über ihre Tat. Ihre Untat, die sich nicht ungeschehen machen ließ.

Irgendwann musste sie in den Lesesaal zurückkehren, schließlich hatte sie heute Abend dort Aufsicht. Das sagte ihr das Pflichtgefühl, aber seine Stimme war leise, überlagert vom Dröhnen der Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Sie rutschte weiter auf das Fensterbrett und schaute hinunter auf den Limmatquai. Dritter Stock, vielleicht würde sie einen Sprung überleben, möglicherweise querschnittsgelähmt. Ihr Noch-Freund Mark würde sich verpflichtet fühlen, bei ihr zu bleiben, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Grace Period. Amazing Grace. Nicht für sie.

Sie schüttelte sich und trat in das Zimmer zurück. Stand da jemand an der Tür? War das Joe? Sie konnte wirklich nicht länger auf ihn warten.

»Ich habe mich schon gewundert, wo du bist.« Heinrich natürlich, der strubbelige Heinrich, den man nicht Henry nennen durfte, schon gar nicht Heini. Der sich am liebsten mit Doktor Oberstrass anreden lassen würde, wenn es zurzeit nicht so angesagt wäre, links und nicht-elitär zu sein. Heinrich, der Allgegenwärtige. Immer da, wenn man ihn nicht sehen wollte. Er hielt ihr einen Zettel hin. »Ich suche hier eine Signatur, und in der Bibliothek ist keiner mehr, kannst du mir helfen?«

Nicht mein Job, dachte sie.

»Tut mir leid, ich habe zu tun.« Rasch ging sie an ihm vorbei, die Treppen hinunter in den Lesesaal. Dort war alles ruhig. So, als ob die Welt noch in Ordnung wäre. Sie nahm einen Stapel Literaturzeitschriften vom Schreibtisch und ging auf die Regale zu.

Mord im Lesesaal

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