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Punktlandung

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Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Karin Zwingli blickte misstrauisch über den Rand der Zeitschriftenregale zu den roten Ledersesseln hinüber. Joe hing über zwei Sesseln, er schien eingeschlafen zu sein. Aber sie spürte, dass sie nicht länger warten konnte. Irgendwann musste er Stellung beziehen zu ihrem Ultimatum. Vielleicht konnte sie ihn aufwecken, ohne ihm zu nahe kommen zu müssen, einen Versuch war es jedenfalls wert.

Mit Schwung zog sie die Schublade der orte-Literaturzeitschrift auf. Das Thema des neuen Heftes lautete »Gesponnen – das Lügenheft«. Die Redaktion hätte sie um Mithilfe bitten sollen, dachte sie bitter und warf das Heft hinein, dass es gegen die Rückwand knallte.

Joe rührte sich nicht. War irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung? Falls er Drogen genommen oder einen Herzinfarkt erlitten hatte, würde sie wohl den Notarzt rufen müssen.

Karin atmete tief ein, zog die Schultern zurück und ging entschlossen auf die Ledersessel zu. Joe roch noch unangenehmer als vorhin, nicht nach ungewaschenen Kleidern, sondern nach etwas Metallischem. Sie schnüffelte, konnte es aber nicht identifizieren. Da fiel ihr Blick auf den Boden.

Zwischen Joes Füßen hatte sich eine dunkle Lache gebildet. Burgunderfarben, an den Rändern hellrot, die Flüssigkeit fraß sich in den beigefarbenen Teppich ein. Es tropfte immer noch vom unteren Metallrand des Sessels. Diesen Teppich hatte sie immer schon grässlich gefunden, er erinnerte sie an schlechte Filme aus Zeiten, als ein Teppichboden das Nonplusultra an eleganter Wohnungseinrichtung war. Frühe 70er, dazu passten auch diese kubusförmigen Ledersessel mit den dünnen blanken Metallfüßen. Im Moment waren diese Metallfüße allerdings nicht mehr blank, sondern an den Kanten blutbesudelt.

Sie zwang sich, Joe ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren weit geöffnet, und ein geronnener Speichelfaden hing aus seinem Mund. Sein Kinn ruhte auf dem Hemdkragen, das Hemd leuchtete weiß mit einem glänzenden dunkelroten Fleck in der Mitte, und in der Mitte des Flecks steckte ein schmaler Griff aus Messing.

Wie im Fernsehkrimi, kunstvoll vom Maskenbildner hergerichtet. Das war lächerlich. Konnte nicht sein. Aber sie träumte doch nicht!

Joe war tot.

Vorhin hatte sie es sich noch sehnlichst gewünscht, als Befreiung herbeigesehnt. Doch jetzt wirkte Joes maskenhaftes Totengesicht wie eine Bedrohung, als ob er sich selbst im Tod noch eine Gemeinheit für sie ausgedacht hätte.

Direkt vor ihr schrillte ein Fanfare, Trompetenklang, elektronisch verzerrt. Sie hatte das Gefühl, vor Schreck mindestens einen Meter in die Höhe gesprungen zu sein, aber anscheinend stand sie immer noch vor diesem Sessel, völlig erstarrt. Die Fanfare wurde lauter, und allmählich begann ihr Hirn wieder zu arbeiten. Ein Mobiltelefon. Völlig verpönt in diesem Raum.

Joes Telefon. Der Klang schien direkt aus der blutverschmierten Hemdtasche vor ihr zu kommen. Das musste aufhören, sofort. Sie versuchte, nach dem unsichtbaren Handy zu greifen, ohne allzu genau hinzusehen. Plötzlich spürte sie einen spitzen Gegenstand in ihrer Hand. Ich falle, dachte sie noch, dann wurde alles um sie herum dunkel.

Mord im Lesesaal

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