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Annäherung von außen II

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Wenn das Bild etwa die Begegnung Rotkäppchens mit dem Wolf darstellt, taucht die Frage auf, was der Wolf von Rotkäppchen will, in welchem Zusammenhang die beiden stehen, und wie die Begegnung wohl auslaufen mag.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Beim Glockenschlag zuckte Barbara Bärlich zusammen. Schon kurz vor 19 Uhr, fast hätte sie ihren Termin verpasst. Doktor Heinrich Oberstrass, Dozent der Neueren deutschen Literatur am Literaturinstitut Zürich, hatte sie persönlich gebeten, ihm bei der Korrektur der Hausarbeiten aus dem ersten Semester zu helfen! Das war nicht nur eine Ehre, sondern auch eine mega Chance für eine Studentin im letzten Semester. Vielleicht sprang ein Job oder ein Lehrauftrag dabei heraus, das durfte sie sich nicht entgehen lassen.

Inzwischen hatte sie sich wieder beruhigt. Erstaunlich, was eine kurze Pause ausmachen konnte. Alles war gut. Sie klappte den Siri Hustvedt-Roman zu und schaute aus dem Fenster. Unten auf der Gasse standen ein paar Touristen im Sprühregen und schossen Selfies. Das Leben war einfach weitergegangen, nichts hatte sich geändert. Manche Dinge fielen im Weltgeschehen wohl einfach nicht so ins Gewicht. Sie war auf dem richtigen Weg, da war sie sich sicher. Irgendwann würden Frauen frei bestimmen können, mit wem sie intim werden wollten, und mit wem nicht. Und wer ihnen blöd kommen durfte. Nämlich niemand.

Doktor Oberstrass war irgendwie süß. Sein offensichtlich gefärbtes Haar, das in alle Richtungen abstand, ließ ihn so verletzlich wirken. Warum versuchten Männer bloß, jünger auszusehen? Der intensive Blick seiner dunkelbraunen Augen unter den buschigen Brauen zeigte, wie ernst ihm seine Anliegen waren: die Literatur, die Forschung und seine Studenten. Super, dass er ausgerechnet sie aus allen Studentinnen des Abschlusssemesters ausgewählt hatte, obwohl sie da bisher nicht gerade als Star geglänzt hatte. Gut, sie gehörte zu denen mit den besten Noten; auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass einige andere etwas sorgfältiger recherchierten. Manche Leute hatten einfach zu viel Zeit, wahrscheinlich passierte nichts Besonderes in deren Leben.

Sie betrachtete sich im Flurspiegel. Doch, sie war schon speziell. Goldene Locken, schmale Nase, ein Mund wie eine Rosenknospe. Es tat gut, das zu wissen. Obwohl sie es nicht nötig hatte.

Die Kirchenuhr hatte aufgehört zu schlagen. Cowboystiefel, Wildlederjacke, fertig. Kein Mantel, an dem hingen noch die Erinnerungen von vorhin. Gut, dass sie diese Künstlerwohnung im Niederdorf von ihrer Schwester übernehmen konnte, man war so schnell überall.

Sie eilte den Rindermarkt hinunter und rannte fast den kurzen Weg zum Literaturhaus. Man konnte einen Mann schon warten lassen, aber nicht zu lange.

Mord im Lesesaal

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