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Die erste Schuldige

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Vom Anfang spannt sich ein Bogen, der schon eine Richtung auf ein Ende hat. Dieser Bogen füllt sich aber nicht aus.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Eben hatte Karin noch ein blutiges Messer in der Hand gehalten. Oder hatte sie das geträumt? Nein, ihre Finger waren ja ganz blutverklebt. Lehnte ihr Ellenbogen auf einem fremden Knie?

Tatsächlich, sie stützte sich gerade auf ein breites Männerknie in fleckigen Jeans, und der dazugehörige Mann war tot, mit einem roten Loch in der Brust. Dieser Mann war ein gewisser Josef Gruber, genannt Joe, den sie über alles verabscheute. Konnte man jemanden noch verabscheuen, wenn er schon tot war? Ja, das konnte man, sie hatte kein Problem damit, sie hasste ihn von ganzem Herzen. Um sie herum anklagende Gesichter, die forschend auf sie herabsahen. Da war Cressida mit dem blauen Haar, blau wie die Hoffnung, die blaue Blume der Romantik, die war ebenfalls unerreichbar, es wäre besser, wenn sie selbst sich jetzt irgendwo verlieren könnte … Cressida streckte eine Hand nach ihr aus. So, als ob man sie irgendwo erreichen könnte, doch sie war tief nach unten gestürzt, bis auf den Boden, rock bottom.

»War das ein Bekannter von Ihnen?«, fragte jemand dicht neben ihrem Ohr. »Hat der Mann Sie belästigt oder auf andere Weise unter Druck gesetzt? Haben Sie ihn deshalb umgebracht?«

Das war der hagere Herr Storz, der jeden Tag zur gleichen Zeit in den Lesesaal kam. Was ging den das an? Er sollte weggehen. Wieso mischte sich überhaupt jemand ein? Sie war in der Hölle, wo sie hingehörte. Joes Tod hatte nicht geholfen.

Aber irgendetwas an der Frage hakte sich in ihrem Bewusstsein fest. Kannte sie diesen Joe wirklich? So, wie man jemanden kennen musste, um ein Urteil über ihn abgeben zu können? Sie zwang sich, den Toten anzusehen. Er war alt, uralt, weiße Bartstoppel über knittrigem Doppelkinn. Dicke uralte Männer sahen alle gleich aus, egal ob tot oder lebendig, das hätte sie sich nie zu denken getraut, wenn sie nicht schon außerhalb der Welt ganz unten säße. Er musste ein Leben hinter sich haben, von dem sie nur einen winzigen Teil kannte, doch dieser Teil war schlimm genug. Sie spürte, wie Tränen über ihr Gesicht liefen, und sie ließ es geschehen, dass Cressida sie zum nächsten roten Sessel führte. Nun saß sie dem Toten gegenüber. Dem riesigen Blutfleck gegenüber. So viel Blut, an ihren Händen noch mehr Blut, verschmiert, dunkelrote Schlieren. Ein alter Mann, der nicht mehr atmete. Schon wieder. Erst letzte Nacht war sie wieder aufgewacht aus diesem Albtraum und hatte einen Moment lang geglaubt, sie hätte sich alles nur eingebildet, es wäre gar nicht passiert. Aber es war geschehen, und es geschah immer wieder, ein ewiger Kreislauf, aus dem sie nicht mehr entkommen konnte. Jetzt war auch dieser Joe tot, und sie konnte trotzdem immer noch nicht nach oben fliegen. Sie hatte es nicht verdient. Sie musste es jemandem sagen, sie konnte es nicht mehr allein ertragen.

»Ich habe es getan!« Sie sah Cressida an. »Ich bin schuldig. Cressida, bitte hilf mir. Ich habe ihn umgebracht, mit meinen eigenen Händen. Blut an den Händen, sieh dir bloß das viele Blut an! Hilf mir!«

Durch die Tränen in ihren Augen konnte sie die Menschen um sich herum nur noch verschwommen erkennen. Jemand drückte ihr einen Becher in die Hand, in ihre blutverschmierte rechte Hand. Kaffee, dunkel und stark, kein Kaffee im Lesesaal, dachte sie noch, da wurde ihr wieder schwarz vor Augen.

Mord im Lesesaal

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