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Karins Geschichte

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Geschichte und Vorgeschichte haben einen Hintergrund, der sich im Halbdunkel verliert.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

Sie hören mir zu, und ich sage, was ich denke, aber habe ich noch einen Überblick darüber, was ich denke und was ich tatsächlich ausspreche? Eigentlich kommt es nicht darauf an, nicht nach alledem, sollen sie mit mir machen, was sie wollen, vielleicht versteht ja doch irgendjemand, wie es war, wie es sich angefühlt hat.

Immer wieder dieser Geruch, in dem ich ertrinke, wenn ich die Eingangshalle betrete. Essigreiniger, Ammoniak, künstliches Vanillearoma, Karbol, gekochte Zwiebeln. Immer wieder der Schläfrige im Empfangs-Glaskasten, zerknitterter Anzug, Namensschild E. Schmidt, Verwaltungsfachangestellter. »Guten Tag, Karin Zwingli, für Urs Zwingli, Zimmer 207.«

Sein Kugelschreiber bewegt sich langsam über dem Besucherbuch. Kein Computer für Herrn Schmidt. Dabei steht einer hinter ihm im Regal, sieht sogar ziemlich modern aus. Wahrscheinlich ist er nicht angeschlossen. Offline. Hier in diesem Haus ist keiner an das Leben angeschlossen.

Sauber geputzte Treppen, die benutzt außer mir wohl keiner. Nummer 207, ich klopfe an, als ob das wichtig wäre. Ich komme jeden Tag um 16.30 Uhr, er weiß das, zählt wahrscheinlich die Minuten. Klar bei Verstand, sagt der Heimleiter stolz, als ob das erstens sein Verdienst und zweitens etwas Tolles wäre. Scharf wie eine Rasierklinge, steckt uns alle in die Tasche. Mein Vater, der weise alte Mann des Felix- und Regula-Heims.

Diesmal liegt er im Bett, das ist neu. Sonst sitzt er immer in seinem Bademantel am Fenster und tut so, als ob er Zeitung lesen würde. Er ist fast blind, das wissen wir beide, doch das Zeitunglesen war ihm immer wichtig. Du könntest es dir vom Computer vorlesen lassen, sage ich ihm. Ich will mit Stil untergehen, antwortet er, sonst ist mir nichts weiter geblieben.

Heute ist es anders. Er liegt im Bett, als wenn es Schlafenszeit wäre, auf dem Rücken, den Kopf in die Mitte des Kissens gebettet, die Bettdecke gerade bis an sein Kinn hochgezogen. Erst als ich an sein Bett trete, schlägt er die Augen auf. »Komm näher«, flüstert er, »setz dich, jetzt ist es so weit, ich habe sie alle genommen.«

Er hat mir erzählt, dass er seit Monaten Schlaftabletten hortet, ich sollte ihm noch weitere mitbringen, und ich habe Nein gesagt.

»Sie sind hier zu schnell, passen immer auf«, sagt er, »sie werden mich finden und mir den Magen auspumpen, dann lebe ich weiter, aber kränker als vorher, das willst du nicht. Sag, dass du mir das nicht antun wirst. Du hilfst mir. Versprich mir, dass du mir hilfst.«

Er drückt meine Hand. Nicht so fest wie sonst, die Tabletten machen ihn schon schläfrig. »Ich kann nicht«, sage ich, »du weißt das. Verlang nichts Unmögliches von mir.«

»Es ist ganz einfach«, sagt er, »du musst noch ein paar Minuten warten, dann drückst du mir die Decke über das Gesicht, ich schlafe dann, lass mich einschlafen, ich rutsche ins sanfte warme Dunkel, lass mich nicht wieder aufwachen zu diesem Nichtleben hier.« Sein Griff wird schlaff, seine Augen fallen zu, die Bettdecke liegt dick und weich an seinem Kinn. Früher hat er mich nie um etwas gebeten, er wusste immer alles besser, konnte immer alles besser, ich war die dumme kleine Tochter, für einmal kann ich seine Heldin sein, haben seine Augen mir gesagt. Er war immer schon ein Tyrann, wahrscheinlich muss ich deshalb um ihn weinen, er war so groß und hat alles verloren, kann fast nichts mehr ohne Hilfe tun, nicht die einfachsten Dinge des Alltags, jeden Tag verfällt er ein bisschen mehr. Seine Gesichtsfarbe ist gelblich, schon jetzt sieht er fast aus wie ein Toter, es fehlt gar nicht mehr viel. Die Bettdecke fühlt sich flauschig an in meinem Griff, wenn er sich auch nur ein kleines bisschen regt, werde ich sofort aufhören, ich darf das nicht vollbringen, ich darf es nicht, und doch muss ich es für ihn tun, es ist das Letzte und das Einzige, was ich für ihn tun kann. Ich möchte die Augen schließen aber ich darf nicht muss sehen muss auf Zeichen achten darf nicht aufgeben darf nicht …

Sie spürte eine warme Hand auf ihrer Linken. Cressida, die so gern den harten Hund spielte, hatte eine starke mütterliche Seite. Ungewohnt für jemanden wie sie selbst, die ohne Mutter aufgewachsen war, es war gut, sich in diese Wärme hinein zu lehnen. Sie atmete tief durch.

»Ich habe meinen Vater getötet, auf Verlangen. Er litt unter multipler Sklerose im Endstadium und konnte es nicht mehr ertragen. Dem Altenheim habe ich gesagt, dass ich ihn tot im Bett vorgefunden habe, dass er kurz zuvor im Schlaf gestorben sein muss.«

Als ob sie so cool hätte reden können an dem Tag. Der Pfleger, der sie auf dem Boden neben dem Bett gefunden hatte, musste ihr den Rücken massieren, damit sie aufhörte zu würgen. Keinen Moment lang hatte er gezweifelt, dass der Anblick ihres toten Vaters sie so aus der Fassung gebracht hatte, sie musste ihm gar nichts erklären.

»Darüber können wir mal in Ruhe sprechen, nur du und ich, wenn du möchtest. Ich weiß, du bist keine Mörderin, und du hast diesen Mann hier nicht getötet.« Cressida sprach mit Zuversicht. Ob sie immer noch so sicher sein würde, wenn sie die ganze Geschichte kennen würde?

»Aber Frau Zwingli hat heute mit diesem Mann hier geredet, ich habe das genau gesehen!« Der hagere Herr Storz bekam vor Aufregung eine unerwartet kieksige Stimme. »Also muss sie ihn gekannt haben! Sie verschweigt uns doch etwas. Kann sie vielleicht mal jemand richtig in die Mangel nehmen, damit wir endlich die Wahrheit erfahren?«

Karin setzte sich gerade in den Sessel, zog energisch die Schultern nach hinten. Sollten sie ihr vorwerfen, was sie wollten, sie fühlte sich nun gegen alles gewappnet. Daniel hatte recht gehabt: Reden befreite tatsächlich.

»Ich denke, wir sollten zunächst einmal auf die forensischen Methoden zurückkommen und die vorhandenen Hinweise sammeln.« Martin Leeman ging zum Toten. »Nachdem jetzt alles fotografiert worden ist, können wir anfangen, die Taschen des Opfers zu untersuchen.«

Er umwickelte seine Hand mit einem Papiertaschentuch und durchsuchte nacheinander die Taschen des Trenchcoats des Toten. Seine Ausbeute legte er auf den Tisch: eine alte lederne Brieftasche, eine angebrochene Schachtel Schmerzmittel, eine noch originalverpackte Schachtel Viagra, eine fast leere Rolle Pfefferminzbonbons, ein gebrauchtes Taschentuch, einen lederbezogenen Knopf.

Cressida sprang auf und öffnete die Brieftasche. »Herr Leeman, ich glaube, wir haben uns geeinigt, dass Sie das Protokoll führen! Hier haben wir also …«

Sie stockte, als Herr Storz sich ostentativ neben sie stellte und ihr betont genau auf die Finger sah.

»Also, wie Herr Storz bestätigen kann, haben wir hier als Erstes eine Identitätskarte mit dem Namen Solomon Leeman.«

Die schockierte Stille, die auf diese Feststellung folgte, dauerte ein paar Sekunden lang an. War es möglich, dass es sich bei diesem heruntergekommenen Alten um den seit zehn Jahren verschollenen großen Dichter Solomon Leeman handelte? Alle hielten den Atem an: Wer würde als Erstes protestieren?

»Das ist nicht wahr.« Martin Leeman sagte das mit unbewegtem Gesicht. »Dies ist nicht mein Vater Solomon Leeman.«

Mord im Lesesaal

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