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Der zweite Schuldige

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Ständig geistert die Zukunft in den vergangenen Geschichten, und ständig ist die Vergangenheit in der Zukunft lebendig.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

»Ich glaube Ihnen gern, dass dieser Tote nicht Ihr Vater ist. Aber warum sollte er nicht Solomon Leeman sein?«

Cressida drehte sich erstaunt um. Aus welchem Grund interessierte sich Jakob Wildenbruch plötzlich für die Identität des Toten, und was hatte er mit Solomon Leeman zu schaffen?

Jakob Wildenbruch kramte in der Innentasche seines Burberry-Mantels. Schließlich zog er ein gefaltetes blaues Briefpapier hervor.

»Ich wollte das eigentlich nicht, oder jedenfalls noch nicht, an die Öffentlichkeit bringen. Andererseits, unter diesen Umständen, wäre es nicht richtig, wenn ich die Angelegenheit für mich behalten würde. Herr Storz, wären Sie so gut, dieses Schriftstück den Anwesenden vorzulesen?«

Er reichte Herrn Storz den Brief. Basildon Bond-Papier, dachte Cressida, genau wie die englische Brieffreundin damals, verwendete das heute tatsächlich noch jemand? Wahrscheinlich gab es die Firma längst nicht mehr. Typisch für den Wildenbruch, dass er das Blatt nicht ihr, sondern Herrn Storz überreicht hatte.

Der schien sich der Ehre bewusst zu sein. Er drehte und wendete das Blatt (nur von einer Seite beschrieben, mit schwarzer Tinte), um es von allen Seiten gebührend zu betrachten, und hielt es Herrn Leeman zur Protokollierung hin. Dann räusperte er sich und begann vorzulesen.

»Datum: 2.11.2020, also vor fünf Tagen. Sehr geehrter Herr Wildenbruch, entschuldigen Sie bitte, dass ich mich auf diese Weise bei Ihnen persönlich melde. Die Umstände mögen das rechtfertigen – ich bin krank und habe möglicherweise nicht mehr viel Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen. Daher möchte ich das jetzt in Angriff nehmen und ich hoffe, dass Sie als literarisch interessierter Mensch und hochstehende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens mich dabei unterstützen werden. Gern würde ich Ihnen die Geschichte meiner letzten zehn Lebensjahre, der Jahre in selbstgewählter Askese und Einsamkeit, in allen Einzelheiten erzählen und außerdem die Gründe erläutern, die mich dazu bewogen haben, zu diesem Zeitpunkt zurückzukehren. Können wir uns in den nächsten Tagen in der Museumsgesellschaft treffen? Schreiben Sie mir bitte, ob und wann es Ihnen passen würde. – Unterschrift: Solomon Leeman.«

Jakob Wildenbruch blickte in die Runde mit einem Gesichtsausdruck, den er selbst wahrscheinlich für ein bescheidenes Lächeln hielt.

In die Stille hinein tönte Martin Leemans verächtliches Lachen. »So einen schwülstigen Brief hätte mein Vater niemals geschrieben! Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieses Dokument echt ist!«

»Und warum sollte es nicht echt sein?« Jakob Wildenbruch sah ihn mit gespieltem Erstaunen an. »In extremen Lebenslagen verwendet man selbstverständlich einen angemessen ernsthaften Schreibstil, das sollte Ihnen als Schriftsteller einleuchten. Aber ich verstehe natürlich, warum Sie versuchen, die Echtheit des Dokumentes abzustreiten. Die Sache ist Ihnen mehr als nur unangenehm. Denn – wenn Solomon Leeman vor fünf Tagen noch am Leben war, warum hat er sich dann nicht mit seinem Sohn in Verbindung gesetzt?«

»Eben. Schon allein deshalb kann er diesen Brief nicht geschrieben haben. Dieses Dokument ist eine ganz plumpe Fälschung.«

»Ich war natürlich zu Anfang misstrauisch. Als Person des öffentlichen Lebens bekomme ich laufend ungewöhnliche Zuschriften und Anfragen, ich muss vorsichtig sein, bevor ich mich in irgendeiner Form exponiere. Also habe ich recherchiert, meine Sekretärin hat mir dabei sehr geholfen. Zuerst die Presseberichte von vor zehn Jahren, als Solomon Leeman plötzlich verschwand. Er war immer sehr verschwiegen über sein Privatleben gewesen, man kannte nur sein Alter und seinen Wohnort, den Kreis 4 in Zürich. Über seinen Familienstand und seinen Werdegang war nichts bekannt. An der Universität Zürich hatte er einen Lehrauftrag für Poetik, doch auch seinen Studenten gegenüber war er immer sehr zurückhaltend. Er hatte einen Lieblingsstudenten, Martin Leeman. Aber niemals hat er angegeben, dass dieser Martin sein Sohn sei.«

»Obwohl mein Name ja wohl schon ein wichtiges Indiz dafür ist!«

»Leeman ist ein weit verbreiteter Name. Ich habe also im Geburtenregister nachschauen lassen und erfahren, dass ein gewisser Martin Gottfried Leeman, geboren am 1.8.1975 in Zürich, eingetragen wurde mit dem Vater Urs Weber, ledig, aus Winterthur und der Mutter Regula Leeman, ledig, aus Zürich. Das Geburtsdatum stimmt überein mit den Angaben auf dem Klappentext Ihres Buches, Herr Leeman. Was sagen Sie dazu?«

Ich würde mich gern setzen, aber dann wäre ich auf derselben Ebene wie der Tote und die Hauptverdächtige, diesen Gefallen tue ich dem Wildenbruch nicht, wer hätte ihm nur so viel Misstrauen zugetraut und diese Energie eines jagdsüchtigen Terriers. Ich muss mich zu seinen Vorwürfen äußern, entrüstete Verweigerung kann ich nun nicht mehr vorspielen. Wie soll ich es ihnen nur klarmachen, ohne wie ein kaltblütiger Betrüger dazustehen? Es wäre schön, wenn noch jemand außer mir wüsste, dass ich nicht so vernunftbestimmt bin, wie ich mich gebe, sondern dass eine tiefe Liebe mein Handeln bestimmt hat und immer bestimmen wird.

Dieser Tote hier ist nicht Solomon Leeman, schon der Gedanke ist ein Sakrileg. Solomon, ein schöner Geist in einem schönen Körper, niemals hätte er so eine abstoßende Form annehmen können. Ich werde ihn nie vergessen. Die edlen Falten seines Gesichts, der Bewegungsradius seiner Mundwinkel, das weiche Graugrün seiner Augen, die Form seiner Ohrläppchen haben sich in allen Einzelheiten in mein Gedächtnis eingebrannt. Einmal standen wir gemeinsam vor dem Spiegel, er mit seiner Herkulesgestalt und ich wie eine kleine weiße Säule, ungeformt. »Putto«, sagte er zu mir, »deine Flügel sind im Himmel hängengeblieben, du musst hoch aufsteigen, um sie dir zu holen.« Hoch aufsteigen, immer hat er mir Mut gemacht, auch wenn er während seiner Schaffenskrisen für sich selbst keinen finden konnte. Hoch aufsteigen möchte ich, nicht hochstapeln, wie sie behaupten werden. Diese Leute können mich nicht verstehen. Solomon war mein Vater im Geiste. Ich muss ihnen etwas geben, das sie verstehen können, vielleicht lassen sie mich dann in Ruhe.

»Dieser Tote ist nicht Solomon Leeman.«

Natürlich, dachte Cressida, das war seine beste Verteidigungslinie. Würde er das jedoch beweisen können? Niemand der Anwesenden schien das zu glauben, Jakob Wildenbruch leistete sich sogar ein kleines sardonisches Lächeln. Wenn er wüsste, dass er damit aussieht, als ob er Zahnschmerzen hätte, würde er so grinsen? Was sahen Männer, wenn sie in den Spiegel blickten? So etwas wie: Bei besserer Beleuchtung erinnere ich an George Clooney, die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend, selbst meine Figur habe ich behalten, vor dem Frühstück hätte man das noch besser erkannt?

»Und ich kann das auch beweisen.«

Mit spitzen Fingern hob Martin Leeman den Kopf des Toten an. »Sehen Sie her: Die Ohrläppchen dieses Mannes sind angewachsen. Mein Vater hatte normal hängende Ohrläppchen. Das wird sich ja wohl leicht verifizieren lassen.«

»Sie wissen genau, dass Solomon Leeman sich nicht fotografieren ließ! Und wenn Sie das nicht wissen, dann zeigt das nur wieder, wie unsinnig Ihre Behauptung ist, er sei Ihr Vater!« Jakob Wildenbruch schnaubte.

Cressida nahm den Ausweis vom Tisch hoch und kniff die Augen zusammen. Die ungeliebte Lesebrille musste irgendwo in den Tiefen ihrer Handtasche liegen. »Hat jemand von Ihnen zufällig eine Lupe zur Hand? Auf Ausweisfotos müssen die Ohren zu erkennen sein, das ist Vorschrift.«

»Warte, ich trage einen Sehkraftverstärker auf der Nase.« Daniel stand plötzlich neben ihr und beugte sich über den Ausweis. »Ja, das stimmt! Der Mann auf dem Ausweisfoto hat keine angewachsenen Ohrläppchen!«

Nach einem Moment der Stille erhob sich wieder Jakob Wildenbruchs quäkende Stimme. »Aber gesetzt den Fall, dass der Tote nicht Solomon Leeman ist – er muss mit ihm in Verbindung gestanden haben, woher hätte er sonst den Ausweis? Solomon könnte ihn als Boten geschickt haben, weil er selbst verhindert war, und er sollte mir etwas ausrichten – was er jetzt nicht mehr tun kann! Wer hätte wohl ein Interesse daran, so eine Nachricht zu unterbinden? Fest steht auf jeden Fall, dass Martin Leeman nicht mit Solomon Leeman verwandt ist, das sollten wir nicht vergessen!«

Martin Leeman schien sich gefasst zu haben. Er stand auf und stellte sich kriegerisch vor Herrn Wildenbruch. »Das ist ein spezielles Thema, das Sie alle nicht verstehen werden. Doch für mich steht fest, dass Solomon tot ist. Sonst hätte er sich mit mir in Verbindung gesetzt. Der Tote wird den Ausweis irgendwo entdeckt haben, vielleicht in einem antiquarischen Buch oder in einer Brockenstube, und einfach versucht haben, irgendwie Geld daraus zu machen. Herr Wildenbruch, Sie sind einem Betrüger aufgesessen, das hätte Ihnen von Anfang an klar sein müssen. Peinlich für Sie, in Ihrer Position darf Ihnen so etwas nicht passieren. In der nächsten Mitgliederversammlung der Museumsgesellschaft wird das bestimmt thematisiert.«

»Vor allem sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor wir nicht alle Informationen gesammelt haben.« Für einen Moment war Cressida dankbar, dass Daniel neben ihr stand. Er strahlte eine ruhige Besonnenheit aus, war sich seiner selbst immer so sicher. Damals hatte sie sich oft darüber geärgert. Damals. Nicht daran denken.

»Genau, wir kennen noch nicht annähernd alle Geschichten, in die dieser Mann verwickelt war! Im Moment kennen wir noch nicht einmal den gesamten Inhalt seiner Brieftasche.«

Herr Storz eilte an Cressidas Seite. »Da Herr Leeman befangen zu sein scheint, werde ich von nun an die Dokumentation übernehmen, Sie haben bestimmt nichts dagegen.«

Er zückte ein schlangenledernes Montblanc-Etui, das einen Block und einen Füllfederhalter und schon einige beschriebene Blätter enthielt. Was mochte dieser Mann schreiben? Böse Leserbriefe an die »NZZ«, um sich über Druckfehler zu beschweren? Aber er hatte ja behauptet, er sei Schriftsteller. Nach seiner Art, sich auszudrücken, konnte Cressida sich sorgfältig geschraubte Texte aus seiner Feder vorstellen. Woher hatte er so ein elegantes und teures Schreibetui? Waren das eingelöste Flugmeilen? Nein, das traute Cressida ihm doch nicht zu, er sah nicht weitgereist aus. Das war wohl eher ein Geschenk der Ehefrau für den bewunderten intellektuellen Gatten.

Herr Storz sah genau zu, wie Cressida die Brieftasche des Toten öffnete und den Inhalt des Münzbeutels und des Scheinfaches auf dem Tisch ausbreitete: einen mehrfach gefalteten Zettel aus Karopapier, fünf glänzend-neue Zweihunderternoten, drei Franken 55 in Münzen, zwei Eurostücke und einen Rabattgutschein für die Globus Beauty Days.

Cressida entfaltete den karierten Zettel. Mit lila Kugelschreiber war darauf ein Satz gekritzelt, offenbar in Eile: »Morgen 19 Uhr Lesesaal«. Die Handschrift und die Kugelschreiberfarbe kannte sie gut. Oft hatte Karin ihr in den letzten Tagen kleine Mitteilungen geschrieben, so wie »Kaffee in 10 Minuten?«, oder »Achtung, Nervensäge im Anmarsch«. Sie war froh gewesen, in ihrer neuen Residenz so schnell eine Freundin zu finden. Aber was hatte Karin mit diesem widerlich aussehenden alten Mann zu tun? Cressida würde sie natürlich nicht in aller Öffentlichkeit verraten, doch es störte sie, dass sie etwas Wichtiges nicht wusste über diese Frau, die ihr so sympathisch war.

»Ich frage nur mal pro Forma«, sagte Herr Storz und verzog den Mund zu einer Grimasse, die er sicher für ein ironisches Lächeln hielt, »bekennt sich jemand der Anwesenden dazu, diese Nachricht geschrieben zu haben?«

»Ich habe die Nachricht geschrieben.«

Alle Augen richteten sich auf Karin. Sie fuhr trotzig fort: »Dieser Mann heißt Josef Gruber und wohnt im Felix-und-Regula-Heim im Kreis 4 in Zürich. Er hat mich erpresst, seit etwa einer Woche, weil er wusste, dass ich meinen Vater getötet habe. Er stand in der Nähe der Tür und hat mich mit seiner Kamera gefilmt, während ich meinem Vater die Bettdecke auf das Gesicht drückte.«

Cressida gab sich keine Mühe, ihre Empörung herunterzuschlucken. »Er hat dich beobachtet und hat nicht versucht einzugreifen, obwohl er nicht wissen konnte, ob du zwingende Gründe hattest? Vor dem Gesetz ist das mindestens Beihilfe! Du hättest ihn anzeigen können.«

»Nein, das hätte ich nicht tun können.« Karin lächelte traurig. »Es ist blöd, doch ich fühlte mich so schuldig, dass ich dachte, ich hätte jede Strafe verdient. Selbst Erpressung. Denn wenn die Sache an die Öffentlichkeit gekommen wäre, dann hätte einfach das Gesetz die Schuld überprüft. Das wäre dann so, als wenn ich die Verantwortung abgegeben hätte. Soundso viele Jahre Gefängnis, erledigt, Schuld abgegolten. Aber es kann nie erledigt sein.«

»Logisch ist das nicht.«

»Nein.«

Herr Storz nahm den Zettel und wedelte damit vor Karins Gesicht hin und her. »Wir brauchen jetzt Fakten! Was hat der Erpresser von Ihnen gefordert? Hatten Sie sich schon in irgendeiner Weise mit ihm geeinigt? Warum wollten Sie sich unbedingt mit ihm treffen? Und überhaupt – wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?«

Mord im Lesesaal

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