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Annäherung von innen I

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Man erkennt nicht zuerst eine Geschichte und ist dann in sie verstrickt, sondern das Verstricktsein ist das letzte Unteilbare. Es hat keinen Sinn, nach dem Wahrheitswert des Verstricktseins zu fragen. So, wie man in Geschichten verstrickt ist, so existiert die Geschichte.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

»Tick-tock … Tick-tock … Tick-tock … Die Uhr an der Wand des Lesesaals tickte die letzten Sekunden seines Lebens herunter.«

Cressida Kandel strich sich mit ungeduldiger Hand die langen Strähnen aus der Stirn. So funktionierte das nicht! Die Szene wirkte nicht dramatisch genug. Ein Mordopfer, das schon wusste, dass es gleich sterben würde, hatte einfach nur Angst. Angst ließ sich literarisch gut ausschlachten, aber hier fehlte das Überraschungsmoment. Sie wollte die plötzliche Panik und Verzweiflung in den Augen des Opfers sehen, das letzte Aufbegehren, die verzweifelte Frage nach dem Warum, das schreckliche Ahnen einer Antwort kurz vor dem Ende. Der Mann musste anders sterben.

Beim Haareraufen hatte sie sich versehentlich ein einzelnes ausgerissen, es glänzte pfauenblau auf dem weißen Papier. Ein gutes, solides Haar, perfekt eingefärbt. So etwas bekam die Natur nicht hin. Eine satte, kräftige Farbe. Das brachte sie auf eine neue Idee: rotes Blut auf weißem Hemd, viel Blut, das sich ausbreitete wie eine sich öffnende Blüte im Zeitraffer, das leuchtend über den Ledersessel rann, sich mit den Teppichfarben vermischte. Das war gut, das musste sie gleich notieren.

»Hallo, Cressida. Wie geht es mit dem neuen Romanprojekt voran?«

Sie hatte ihn nicht heranschleichen gehört. Daniel Krumholz, der Leiter des Literaturhauses der Museumsgesellschaft, in Schlabberpullover und Cordhosen, die Lesebrille noch auf der Nase, stand direkt neben ihrem Tisch und sah auf sie herunter. Sanfter Gang, sanfte braune Augen, weicher Cardigan in gedämpften Farben. Cardigans waren jetzt wieder total angesagt, hatte sie der Vogue und der Annabelle entnommen, die hier im Lesesaal auslagen. Je verfilzter und unförmiger, desto trendiger. Daniel hatte sich überhaupt nicht verändert, aber er war modemäßig beim Puls der Zeit angekommen. Oder vielmehr hatte der Puls der Zeit ihn endlich erreicht.

Es gab keinen Grund dafür, dass sie bei seinem Anblick irgendetwas Besonderes empfand. Schließlich hatte sie ihn schon zweimal gesehen, seit sie nach Zürich zurückgekehrt war, einmal hatte sie sogar lange mit ihm gesprochen. Natürlich ging es bei diesem Gespräch ausschließlich um Literatur und um ihre bevorstehende Lesung. Aber es war immerhin ein richtiges Gespräch gewesen.

»Danke, es läuft gut, der Mord ist schon geplant«, flüsterte sie zurück. Einen Moment lang befürchtete sie, er würde jetzt seine Hand auf ihre Schulter legen. Aber dann ging er mit einem freundlichen Nicken weiter, nahm eine Zeitschrift vom Regal und verließ den Lesesaal.

Sie schrieb: »Die Uhr tickte weiter, während sein Blut aus den Herzkammern rann, das Herz langsam zuckte und endlich zum Stillstand kam.« Dann strich sie den Satz wieder. Unten auf dem Limmatquai herrschte früher Sonntagabend, das Grau war in klumpiges Tintenblau übergegangen. November. Auf der Straße liefen ein paar Touristen in warmen Jacken, die Smartphones schussbereit in der Hand, und suchten nach Motiven. Sie sahen nicht glücklich aus. Überall herrschte eine Atmosphäre, die nach brütenden Aggressionen schmeckte, nach enttäuschten Erwartungen in unpersönlichen Hotelzimmern, Hass auf den selbstsüchtigen Dauerpartner, Neid auf diejenigen, die sich auf der fernen Sonnenseite des Lebens zu befinden schienen. Selbst hier, im Lesesaal der Museumsgesellschaft, an diesem Ort des Studierens und Reflektierens, lauerte in den dunklen Ecken eine Aura der Missgunst.

Das war Wasser auf die Mühlen einer Geschichtensammlerin. Als ob sie noch zusätzlichen Stoff bräuchte! Das menschliche Leben offenbarte eine Fülle von spannenden Geschichten, sie vermehrten sich wie Kaninchen. Deshalb war der Kriminalroman – wie kulturell sensible Menschen längst erkannt hatten – die ideale literarische Darstellungsform für das heutige soziale Leben. Ständig entdeckte man neue Verbrechen, Kapitalverbrechen, Familienfehden, Vergehen gegen die eigene Befindlichkeit. Indizien für die Schuldigen waren jederzeit einfach zu finden. Das Schlimmste hielt man automatisch für das Richtige, und davon ließ man sich auch mit roher Gewalt nicht abbringen. Auch nicht durch die Polizei oder durch einen Gerichtsentscheid.

Schluss mit dem eigenen alten Kram! Neue Geschichten lagen überall in der Luft, sie warteten nur darauf, eingefangen zu werden. Eine davon bot sich ihr gerade an: Den arroganten Präsidenten der Museumsgesellschaft, diesen misogynen Gockel Jakob Wildenbruch, der beinahe ihre Nominierung zum Writer in Residence im Literaturhaus Zürich verhindert hätte, würde sie gern ein wenig bestrafen. Ihm nur ein bisschen wehtun, ein paar kräftige Ohrfeigen würden schon reichen. Klatsch – klatsch, eine rechts und eine links, verdutztes ungläubiges Gesicht, dazu sogar ein bisschen Angst? Dieser ignorante Hammel hatte seine Pläne, sie zu diskreditieren, noch nicht aufgegeben, dafür hatte sie einen sechsten Sinn. Schließlich hatte sie lange genug darum kämpfen müssen, als Schriftstellerin ernst genommen zu werden. Das würde sie sich von so einem lächerlichen Typen nicht ankratzen lassen. Aber da war sie schon wieder bei ihrer eigenen Geschichte. Andere Leute hatten auch Probleme, das war viel interessanter.

Wie wäre es zum Beispiel mit dem? Der hagere Mann ihr gegenüber, der mit den riesigen dunklen Nasenlöchern, war in den letzten fünf Tagen (solange Cressida selbst ihre Nachmittage im Lesesaal verbracht hatte) immer um Punkt 17 Uhr aufgetaucht und hatte jeden Tag eine andere Literaturzeitschrift durchgearbeitet, wobei er sich mit einem teuren Füllfederhalter nebenbei Notizen machte. Um Punkt 18 Uhr war er dann wieder gegangen. Wahrscheinlich wollte er seiner Frau die Gelegenheit geben, ungestört ein feines Abendessen für ihn vorzubereiten. Was, wenn er eines Abends früher nach Hause käme und sie mit ihrem Liebhaber im Bett entdeckte? Heute saß er noch spät im Lesesaal, es war schon kurz vor 19 Uhr. Hatte er seine Frau bereits erwischt und sie mit einem schweren Folianten aus seiner eigenen Bibliothek erschlagen, und ihren Liebhaber gleich dazu, sodass er keinen Grund mehr hatte, nach Hause zu gehen? Was würde so ein Mann mit den Leichen anstellen? Er sah ein wenig hinterhältig aus, wie ein schurkischer Buchhalter in einem Fernsehkrimi, vielleicht würde er sie bei seinen Nachbarn in den Keller legen, das wäre ihm zuzutrauen.

Einen Tisch weiter saß eine lokale Berühmtheit, Martin Leeman. Rundschultrig, spärliches Haupthaar, Mitte 40, mit beflissenem Gesicht und geschürzten Lippen. Er war ihr gestern vorgestellt worden, feuchter weicher Händedruck, wässrige Augen. Das war also der bekannte Sohn des noch bekannteren verstorbenen Schriftstellers Solomon Leeman. Die kommentierte Gesamtausgabe der Werke seines Vaters mit bislang unveröffentlichten Texten war ihm gelungen, das musste Cressida zugeben. Die lyrische Sprache des Sohnes ergänzte die Prosafragmente des Vaters auf glückliche Weise. Martin Leeman wirkte bescheiden, trotz seines Ruhmes. Allerdings war Cressida aufgefallen, dass er keine Gelegenheit ausließ, sein Buch öffentlich sichtbar zu machen. Seit Monaten schon veranstaltete er einen regelrechten Lesemarathon in Buchgeschäften, Nachbarschaftszentren, Bibliotheken, Literaturhäusern und Universitäten. Und jetzt war er sogar für den Literaturpreis nominiert – ob man dafür wohl jemanden bestechen konnte? Cressida hatte Gerüchte darüber gehört, aber sie mochte das nicht glauben, die waren sicher nur von neidischen Mitbewerbern erfunden worden. Die Welt war schlecht und voller boshafter Menschen. Glücklicherweise, denn woher sollten Krimi-Autoren sonst ihre Stoffe nehmen?

Faszinierend fand sie auch den struppigen brünett gefärbten Mann am hauseigenen Computer, den man laut Vorschrift nur eine Viertelstunde lang benutzen durfte. Der Struppige saß oft viel länger daran, vertieft in Recherchen, die Cressida von ihrem Platz aus nicht erkennen konnte. Er schien im Literaturhaus zu leben – wann immer Cressida durch das Haus ging, sah sie ihn in irgendeinem der Räume. Sie hatte bei der öffentlichen Hausführung vor ein paar Tagen gehört, dass sich die Bücherregale des Archivs im Keller immer noch in Luftschutzbetten umwandeln ließen – wahrscheinlich konnte man dort zur Not übernachten. Der Mann könnte der Geist der unterirdischen Räume sein, allgegenwärtig und allwissend, Kenner sämtlicher Geheimnisse des Hauses. Wofür er wohl alle diese Informationen verwendete – hortete er sie nur für sich selbst? Ein Netz von möglichen Geschichten breitete sich vor ihr aus.

Hinten, in einem der roten Ledersessel, saß ein Mann, der aus dem Rahmen fiel, und das nicht nur, weil seine voluminöse Gestalt über die Sessellehnen quoll. Fett, hätte man früher gesagt, heute durfte man das nicht mehr, wirklich erschreckend, wie schnell sie sich ganz automatisch an das allgemein verordnete Newspeak angepasst hatte. Verfilztes graues Haar, langer Bart, dunkelroter Schal, die breite Gestalt in einen fleckigen Trenchcoat gehüllt, weit über den nächsten Sitzplatz zur Seite gekippt, offenbar im Tiefschlaf. War das ein Penner von der Straße, der sich hier eingeschlichen hatte? Im Allgemeinen fühlten Obdachlose sich im Helmhaus auf der anderen Straßenseite ganz wohl. Dort war alles ebenerdig, keiner war dort lärmempfindlich, und es gab eine öffentliche Toilette. Warum sollte einer der Obdachlosen also bis in den Lesesaal der Museumsgesellschaft heraufsteigen? Kannte er hier jemanden? Vielleicht war er der vom Leben gebeutelte Onkel eines Mitglieds, dessen man sich schämte, der jedoch immer wieder ungefragt auftauchte und nur mit viel Alkohol und Drogen ruhiggestellt werden konnte. Wie lange er hier wohl schon unbehelligt saß? Der Lesesaal war den Mitgliedern der Museumsgesellschaft vorbehalten, und Karin war immer pflichtbewusst genug, das zu überprüfen. Lieb, aber irgendwie zwanghaft, die Arme. Cressida nahm sich vor, ihr ein bisschen mehr Lebensfreude und Frechheit einzuimpfen. Dies wäre gerade eine gute Gelegenheit, mit ihr zusammen eine Kaffeepause einzulegen. Cressida drehte sich zum Pult der Lesesaalaufsicht um. Doch der Platz war leer.

Mord im Lesesaal

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