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Die Verdächtigen sammeln sich

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Jede Ichverstrickung enthält aber schon eine Wirverstrickung.

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

»Ich protestiere gegen dieses unglaubliche Benehmen!« Eine schrille Männerstimme ertönte im Treppenhaus. Also hatten Heinrich Oberstrass und Martin Leeman noch jemanden im Haus entdeckt.

Der Mann, der – sichtlich gegen seinen Willen – durch die Tür vom Vorraum in den Lesesaal gezerrt wurde, kam Cressida bekannt vor. Woher nur – natürlich, sie hatte sein Foto gesehen, in der aktuellen Broschüre der Museumsgesellschaft, die man ihr letzte Woche feierlich überreicht hatte zum Beginn ihres Aufenthalts als Writer in Residence. Das war Jakob Wildenbruch, Präsident der Museumsgesellschaft, dem sie vorhin in ihrer Vorstellung zwei saftige Ohrfeigen verpasst hatte. Eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ein Amtsträger, ein hochehrenwerter Präsident, der nun wie ein verdächtiges Subjekt vorgeführt wurde. Nicht so erfreulich wie eine Ohrfeige, aber auch nicht schlecht.

»Sie wollen mich doch wohl nicht daran hindern, meinen Schirm zu nehmen und nach Hause zu gehen!«

Sein Blick schweifte auf die Gruppe bei den roten Ledersesseln, blieb kurz an dem Toten hängen, ging dann zurück zu Heinrich Oberstrass. »Was bilden Sie sich eigentlich ein?«

Das war seltsam. Warum war dieser Mann überhaupt nicht überrascht? Nicht neugierig darauf, wer oder was dort über dem Sessel hing? Sah er nicht, dass dort ein Toter lag? War er stark kurzsichtig?

Cressida ging auf ihn zu. »Herr Wildenbruch, hier ist ein Mord geschehen.«

»Das sagte Herr Oberstrass bereits. Schrecklich. Aber das Ganze hat nichts mit mir zu tun, ich habe gerade eben erst das Haus betreten. Und ich bin in Eile, ich werde zu einer wichtigen Sitzung erwartet.«

»Darauf können wir leider keine Rücksicht nehmen. Sie waren vorhin schon einmal hier, ich habe Sie gesehen. Deshalb muss ich Sie bitten, bei uns zu bleiben, bis die Polizei kommt, die wird Ihre Zeugenaussage aufnehmen.«

Das Donnerwetter, das Cressida auf ihre Worte hin von Jakob Wildenbruch erwartet hätte, blieb erstaunlicherweise aus. Er wurde blass und setzte sich ohne weitere Gegenrede an einen der Arbeitstische.

Jetzt erst bemerkte Cressida, dass auch Daniel den Lesesaal betreten hatte, unauffällig wie immer. Er sah sich um, erfasste die Situation und ging auf Karin zu, die teilnahmslos in dem Sessel gegenüber dem Toten saß. Wie selbstverständlich hockte er sich neben sie und legte sanft seinen Arm um ihre Schulter. Daniel, der starke Beschützer der Witwen und Waisen. Immer bereit, einer attraktiven Frau seine Hilfe anzubieten. Jedenfalls solange diese Frau zart und hilflos genug wirkte.

Er blickte in Cressidas Richtung, vorwurfsvoll. So als ob sie grundsätzlich an allem schuld und für alles verantwortlich wäre.

Fuck you, Daniel, dachte Cressida. Da war also wieder dieser Blick, wie damals. Es tat immer noch weh. Vielleicht hätte sie die Position als Writer in Residence doch nicht annehmen sollen. Aber sie konnte schließlich nicht für alle Zeiten vor ihren Erinnerungen davonlaufen, alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. Fuck you, wiederholte sie für sich, weil es sich gut anfühlte. Fuck you – fuck you – fuck you. Die Wut tat ihr wohl.

Ein Blick auf Karin ließ sie wieder nüchtern werden. Der Thermosbecher mit Kaffee war Karin aus der Hand gefallen, ihre Gesichtsfarbe war aschgrau. Langsam öffneten sich Karins Augen und starrten ins Leere. »Ich bin schuldig«, hatte sie gesagt, doch das konnte nicht wahr sein. Cressida spürte, dass die dahinterliegende Geschichte viel komplizierter war, als es den Anschein hatte. Allerdings war dies noch nicht der richtige Zeitpunkt zum Trösten und Abwarten. Es gab im Moment vieles, was sie klären musste.

»Da wir alle hier sind, können wir der Polizei ein bisschen Arbeit abnehmen«, verkündete sie laut. »Wenn wir schon mal vorab herausfinden, wer der Tote war und wer ihn kannte, kommen wir nachher schneller wieder nach Hause.«

»Und Sie als Krimi-Autorin und Philosophin fühlen sich berufen, die Untersuchung zu leiten? Da haben wir wohl Glück gehabt, dass Sie zufällig gerade hier sind!« Martin Leemans sarkastischer Tonfall war nicht zu überhören.

»Warum sollte ich die Untersuchung nicht leiten?« So leicht ließ Cressida sich nicht einschüchtern. »Immerhin habe ich für meine Romane viel über Polizeiarbeit recherchiert, ich weiß, was üblicherweise gefragt wird. Und wenn Sie als Biograf sich berufen fühlen sollten, ein Protokoll zu führen, hat sicher niemand etwas dagegen. Oder gibt es andere Freiwillige?«

»Das Vorgehen zu dokumentieren, ist eine vernünftige Idee. Damit können wir der Polizei die Täterin gleich mit allen Einzelheiten zur Tat übergeben, und wir sind von diesen unsinnigen Verdächtigungen befreit. Fangen Sie nur an, ich unterstütze das!« Der hagere Theodor Storz verlieh seinen Worten durch die Lautstärke seiner Bassstimme besonderes Gewicht. Niemand widersprach ihm. »Ich bin meinerseits gern bereit, alles zu notieren, schließlich bin ich selbst schriftstellerisch tätig, auch wenn mein Werk noch nicht seinen Platz in der Öffentlichkeit gefunden hat.«

Cressida blickte in die Runde. So eine große Gesellschaft, dachte sie. Das würde ein breiteres und dichteres Geschichtengewebe ergeben, als man an einem Abend durchleuchten konnte. Und außerdem konnte es an die Nieren gehen. Nicht nur Karin, nicht nur den anderen, sondern auch ihr selbst. Aber es war spannend.

Mord im Lesesaal

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