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LEANDER

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Merlin, meine Eltern und ich saßen im Auto. Henry flog, damit Merlin sich noch etwas ausruhen konnte. Ich konnte Henrys Hand sehen, sie schwebte seit zehn Minuten unbeweglich über dem Notfall-Knopf. Es war nicht so, dass Merlin das nicht auch gekonnt hätte, aber wir konnten nicht sicher sein, ob der Virus gänzlich gelöscht war. Mein Vater hatte versprochen, mit ihm zu einem Spezialisten zu fahren.

Unter uns zog die verschneite Schweizer Landschaft vorbei. Wälder, Wiesen, Häuser, Dörfer, Baracken. Ich sah nichts davon, obwohl ich hinaussah. Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Ich dachte daran, was jetzt gleich passieren würde. Unsterblichkeit. Das hier waren meine letzten sterblichen Minuten. Es war still im Auto. Man hörte absolut nichts.

Nach einer halben Stunde griff meine Mutter, die vor mir saß, nach meiner Hand. Sie schloss ihre kleinen Finger um meine Faust.

»Es ist so weit«, flüsterte sie.

Ich sagte nichts. Das Auto landete lautlos auf einem Parkplatz vor einem langgestreckten, neumodischen Holzhaus. Im ersten Stock waren nur kleine Fenster, doch es gab eine Glasfront im zweiten Stock. Da wir von Wald umgeben waren, hatte man von dort aus bestimmt einen guten Ausblick. Doch hineinsehen konnte ich nicht, denn feinste Vorhänge verdeckten die Fenster. Das Gebäude hatte ein zum Teil begrüntes Flachdach. Die andere Hälfte war mit Solarzellen ausgestattet.

Meine Mutter nahm mich an der Hand. Sie sah unglaublich schön aus in ihrem hellblauen Kleid. Doch sie schien nicht zu frieren. Verlieh Unsterblichkeit auch Immunität gegen Kälte? Ich hatte merkwürdigerweise noch nie darüber nachgedacht. Mein Vater trug einen schlichten Anzug, der etwas wärmer war.

Vor der Tür blieben wir stehen. Meine Mutter sah mich an.

»Ich hab dich lieb«, flüsterte sie und schloss mich in ihre Arme.

Mein Vater räusperte sich und sie ließ los, nahm jedoch meine schweißnasse Hand in ihre.

»Mom, ich hab dich auch lieb!«, flüsterte ich zurück.

Mein Vater räusperte sich noch einmal und erst, als meine Mutter sich die Tränen von der Wange wischte, wurde mir klar, warum. Er mochte es nicht, wenn sie Gefühle zeigte.

Doch dann ließ meine Mutter meine Hand los, trat einen Schritt zurück und mein Vater nahm mich unvermittelt in seine kräftigen Arme.

»Ich hoffe, wir konnten dir viel beibringen, Leander. Ich bin stolz auf dich und jetzt geh. Geh!«, sagte er eindringlich. Seine Stimme klang laut nach der langen Stille.

Er ließ mich los und nervös trat ich einen Schritt auf das Gebäude zu. Ich sah zurück. Meine Eltern standen Händchen haltend nebeneinander und lächelten mich liebevoll an. Die Wangen meiner Mutter waren nass. Merlin stand etwas abseits. Er würde auf mich warten. Wie lange, wusste ich nicht. Wie lange dauerte es, unsterblich zu werden?

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. Ich öffnete das schwere Holztor und atmete einmal tief durch, dann flüsterte ich: »Ich hab euch lieb«, ohne mich umzudrehen. Meine Eltern würden es trotzdem hören. Dann machte ich einen Schritt in den dunklen Flur.

In dem Moment, in dem das Holztor mit einem lauten Knall zufiel und der Raum in Finsternis zu versinken drohte, gingen Lichter an. Eine nach der anderen erleuchteten die grellen Neonröhren den Gang vor mir. Es war völlig still. Im Gang gab es mehrere Türen, von denen aber nur eine offen stand.

Meine Schritte hallten auf dem polierten Marmorboden. Als ich schließlich bei der Tür ankam und sie aufdrückte, war es wieder völlig still. Und doch war ich nicht allein.

In dem Zimmer saß, gekleidet in Schwesterntracht, eine hübsche junge Frau, wobei ihr junges Aussehen natürlich nichts über ihr wahres Alter verriet. Sie lächelte, als sie mich sah, sagte aber nichts, sondern gab mir Zeit, mich umzuschauen.

Das Zimmer sah aus wie eine Mischung aus Zahnarztpraxis und Kaffeehaus. In der rechten hinteren Ecke war ein Sofa in L-Form zu einem weißen, polierten Tisch geschoben worden. Die Ärztin saß auf einem Rollhocker, der vermutlich normalerweise dem Sofa gegenüberstand. In der linken hinteren Ecke wand sich eine Wendeltreppe ins Obergeschoss. Auch sie war in Weiß gehalten. An der linken Wand stand ein langer, etwa ein Meter hoher Kasten. An der hinteren Wand war ein kleines, abgedunkeltes Fenster zu sehen.

Den Raum dominierte ein verstellbarer Stuhl, der mich so sehr an eine Zahnarztpraxis erinnert hatte. Es gab jedoch keine Bohrer und auch keine OP-Lampe. Das Zimmer wurde durch eine wunderschöne Deckenlampe erhellt, die die gesamte Decke ausfüllte.

Die Ärztin lächelte.

»Hallo, ich bin Maria.« Sie sprach ihren Namen, wie so viele Leute heutzutage, englisch aus. Englisch war schließlich die Weltsprache. Englisch war die Sprache der Klima-Verhandlungen gewesen, es war die Sprache der neuen, weltweit geltenden Verfassung und es war auf der ganzen Welt Amtssprache. »Lass dir nur Zeit. Wenn du das Zimmer eingehend untersucht hast, kannst du dich zu mir setzen. Ach ja, du kannst du zu mir sagen, wenn du willst.«

Dann rollte sie ihren Stuhl zu dem Tisch an genau die Stelle, die ich mir vorgestellt hatte. Ich lächelte, ließ meinen Blick noch einmal schweifen und setzte mich dann auf das Sofa.

»Ich hatte einmal einen Patienten, der hat das wörtlich genommen. Er ist eine halbe Stunde hier auf und ab gegangen und hat in jeden Winkel geschaut.« Sie lachte bei dem Gedanken daran. »Entschuldige. Das ist vermutlich unhöflich. Er hat es schließlich mit viel Bedacht getan. Allerdings war es sehr amüsant, ihm dabei zuzusehen.«

»Ist schon okay. Es ist nur … viel zu verarbeiten.«

Sie nickte. »Kann ich verstehen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es bei mir war. Die gleißend weißen, fluoreszierenden Lichter im Gang waren schrecklich.« Sie lächelte.

Irgendwie entspannte mich diese Schwester. Sie schien so offen und freundlich, dass ich zugab: »Sie sind wirklich hell.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen schon gesagt, dass sie die dimmen sollten, aber«, sie zuckte mit den Schultern, »das haben sie immer noch nicht gemacht. Obwohl sie, glaube ich, während meiner Studienzeit einmal gedimmt wurden.«

Da ich nicht sagen konnte, wie alt sie war, wusste ich auch nicht, wann das gewesen war. Vor fünf oder vor fünfzig Jahren? Na ja, ich schätzte zwar, dass es irgendwo dazwischen war, aber wer wusste das schon so genau?

Sie seufzte. »Ich habe ihnen auch schon gesagt, dass sie die Fenster größer machen sollen, und du siehst ja, wie viel Effekt das hatte.« Sie deutete sarkastisch auf das kleine Fenster. Dann lächelte sie. »Aber ich schätze, wer sich so sehr vor den Lampen im Gang und dem Fenster hier ängstigt, würde ohnehin nicht hierherkommen, ohne dass man ihn ziehen müsste.«

»Man kann dazu gezwungen werden?«, fragte ich verwundert und leicht entsetzt.

Sie riss die Augen auf und lachte. »Mein Gott, nein! Ich meinte doch nur. Theoretisch bist du verpflichtet, mit 18 Jahren in eine Klinik zu gehen, aber wenn du nicht willst, kannst du immer noch einen Teil deines Geldes nehmen und als Sterblicher leben. Allerdings verfällt dein Anrecht auf eine Initiation mit dreißig Jahren.«

Ich hörte aufmerksam zu.

»Wenn du Fragen hast, dann stell sie ruhig. Du kannst mich alles fragen. Mich hat zwar daraufhin einmal jemand gefragt, ob ich ihn heiraten würde, aber … du kannst mich trotzdem alles fragen.«

»Hast du Ja gesagt?«

Sie lachte. »Nein. Ich habe Nein gesagt.«

»Gibt es auch eine Initiation für Redbloods?«

Sie schürzte die Lippen. »Theoretisch ja. Wenn sich ein Adeliger oder eine Adelige in ein Redblood beziehungsweise eine Redblood verliebt, dann dürften beide an der Initiation teilnehmen. Das würden Adelige aber niemals tun, wie du weißt.«

»Und haben sie dann auch bessere Fähigkeiten?«

»Ja, natürlich.«

Ich nickte, so als würde mich das interessieren, und sah dann zu Boden. Schließlich beschloss ich, es zu versuchen. Sie wirkte so nett …

»Tut es weh?«

Sie wurde sofort ernst. »Manche sagen, dass sie ein bisschen was gespürt haben. Einen kurzen Stich. Ein Brennen. Aber die meisten spüren nichts. Es ist aber bei allen anders. Was weißt du denn schon über die Initiation?«

Ich musste das erst einmal verarbeiten. Aber hatte meine Mutter nicht so etwas Ähnliches schon angedeutet? Außerdem konnte ich es ohnehin nicht ändern …

»Also, nur die Grundlagen. Meine Mutter hat mir schon ein wenig darüber erzählt.«

Sie lächelte verständnisvoll. »Erst einmal bewirkt das Unsterblichkeitsserum, dass sich dein Körper verändert, das dauert ein paar Stunden. Wie lange genau, hängt von der Dosis ab. Die Dosis wiederum hängt davon ab, wie viel dein Körper verträgt und wie viel dein Körper braucht. Irgendwo zwischen diesen Werten liegt die Dosis. Ich werde dich dann noch untersuchen, um diese Werte zu bestimmen. Es gilt: Je mehr Serum, desto mehr Veränderung. Bis zu einem gewissen Maß ist das gut. Du wirst stärker …«

Wie auch meine Mutter konnte sie es nicht lassen, mir das vorzuführen. Doch sie nahm sich einen härteren Gegner vor: Es war ein Küchenmesser. Ich hielt die Luft an, als sie damit auf ihrem Handrücken ansetzte und lachte.

»Hat dir deine Mutter das auch gezeigt?«

»Sie hat Papier zerknüllt.« Der Vorwurf war in meiner Stimme deutlich zu hören. Sie lachte noch einmal.

»Es hat tatsächlich einmal jemand versucht, mir das Messer wegzunehmen, um mich daran zu hindern, Selbstmord zu begehen.« Sie lachte wieder.

Ich lachte nicht. Ich war zwar beherrscht genug, um ihr das Messer nicht zu entreißen, aber ich war dennoch besorgt. Was hatte meine Mutter gesagt? Sie könnte sich kaum mit einem Küchenmesser schneiden. Kaum? Dieses Messer war wesentlich schärfer als ein normales Küchenmesser.

Doch sie zog das Messer kräftig über ihren Handrücken. Ich rechnete damit, Blut zu sehen, aber da war nur eine weiße Linie. Sie fuhr noch kräftiger darüber. Die weiße Linie wurde ausgeprägter und das Messer ächzte.

»Wie …?« Ich konnte die Frage nicht fertig stellen.

»Jeder und jede Unsterbliche ist einzigartig. Ich habe sehr feste Haut und eine sehr große physische Toleranz. Es kann also durchaus sein, dass ich die Haut deiner Mutter damit locker durchschnitten hätte.«

»Und meine Mutter hat behauptet, man wäre nicht Superman.«

Sie lachte. »Na ja, das stimmt auch so. Denn man kann mich zwar mit diesem Messer nicht verletzen, aber ich könnte mir beispielsweise immer noch das Genick brechen. Außerdem ist das für uns normal. Superman ist ja deswegen etwas Besonderes, weil er einzigartig ist.«

Wieder etwas zum Nachdenken. »Und was ist mit psychischen Dingen? Meine Mutter hat gesagt, dass man sozusagen schneller und effektiver denken kann, aber dass sich die Gedanken selbst nicht ändern.«

Maria nickte. »Da hat sie völlig recht. Jeder und jede Unsterbliche hat zwei Talente. Mein erstes hast du ja schon gesehen … Ich habe außerdem das Talent, psychischen Belastungen standzuhalten. Das heißt, du könntest mir eine Pistole an den Kopf halten und ich würde trotzdem – verhältnismäßig – klar denken können. Aber ja, man denkt schneller, bemerkt Dinge, die für ein normales Gehirn zu schnell sind. Außerdem ist dein Gedächtnis besser. Du kannst dir viel mehr merken.«

»Und wie stark ausgeprägt sind diese Begabungen?«

»Das ist unterschiedlich. Normalerweise halten sie sich in Grenzen. Viele wissen gar nicht, wo ihre Begabungen liegen, weil es etwas so Alltägliches für sie ist. Ich würde mir darüber keine Sorgen machen. Es gibt viele Studien und Fragebögen dazu, wenn du wirklich wissen willst, was für eine Begabung du hast. In der Regel entspricht sie immer deinem Charakter. Die meisten sind nicht so ausgeprägt wie meine, aber zur Sicherheit gibt es eine Liste mit den Namen aller Adeligen, die besonders mächtige oder gefährliche Talente haben. Sie werden dann speziell überwacht und dürfen je nach ihrer Gefährlichkeitsstufe bestimmte Tätigkeiten nicht ausführen und müssen sich an strikte Regelungen halten.«

Ich schwieg eine Weile.

»Noch Fragen? Sonst fange ich an, dich zu untersuchen.«

Goldmond

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