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ELENA

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Mein Tag begann ganz normal. Ich war noch mitten im Tiefschlaf, als die Stimme meiner Mutter mich weckte: »Steh auf, El!«

El stand für Elena. Meine Mutter hatte angefangen, mich El zu nennen, sobald sie sicher sein konnte, dass ich ganz genau wusste, dass ich Elena hieß und nicht El.

Müde rieb ich mir die Augen und schlug die Decke zurück. Es war Winter. Die Kälte ließ mich schaudern. Schnell sprang ich auf und schlüpfte in meine alten Jeans und mein löchriges T-Shirt.

»El?«, rief meine Mutter aus der Küche.

»Komme schon«, dachte ich, bemühte mich aber nicht, das laut zu sagen, denn ich bog bereits um die Ecke. »Mmh, mmh«, brummte ich verschlafen.

»El, hol Wasser.«

»Mmh, mmh«, sagte ich und machte mich auf den Weg.

Um diese Zeit waren die Straßen voller müder Kinder und Erwachsener. Sie alle trugen Wasserbehälter auf dem Kopf, den Schultern oder in der Hand. Vor dem Haus schnappte ich mir einen leeren Kübel und machte mich auf den Weg zum Brunnen. Dort stand bereits eine kleine Menschenmenge. Ich schob mich nach vorne und stellte mich an.

Zum Glück gab es noch genug Wasser. In einem kalten Winter wie diesem froren die Leitungen oft ein. Der automatische Schöpfmechanismus, der das Wasser aus dem Brunnen heraufholte, lieferte dann kein Wasser mehr. Das passierte nicht nur bei kaltem Wetter, sondern auch, wenn es besonders trocken oder heiß war, manchmal auch einfach so. Manchmal fragte ich mich, ob die Maschine absichtlich das Wasser abstellte, damit wir alle verdursteten. Aber das war natürlich Blödsinn.

Auf dem Heimweg beobachtete ich einen der silbrig glitzernden Sternenvögel, wie er mit einem Paket in den Klauen über die Siedlung flog. Mein Vater sagte, dass diese Vögel die Haustiere der Adeligen waren, doch ich war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte. Die Vögel flogen stets in geraden Bahnen und so schnell und hoch, dass man sie nur als weißen Stern am Himmel sah.

Ich trug den schweren, schlackernden Kübel mühevoll nach Hause. Mir taten die Arme weh, als ich ihn endlich abstellte.

Doch schon schickte meine Mutter mich, um ein wenig Holz von hinter dem Haus zu holen. Der Stapel war erschreckend klein, doch ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Man durfte kein Holz aus den Wäldern schlägern. Sie waren irgendwie heilig oder so.

Danach kochte ich unseren Reis, was ewig dauerte, da es eine Temperaturbeschränkung gab, die den Ofen kühl hielt. Die Scheibe am Dach, die aus dem Sonnenlicht Strom machte, war zu klein, um mehr Energie zu liefern. Das bisschen Holz, das ich unerlaubterweise in unsere Feuerschale warf, brachte auch nicht viel. Eigentlich durfte man das Holz nur zum Bauen verwenden, aber wir verbrannten das meiste in einem kleinen Kessel, um das Haus zu heizen.

Ich putzte den Boden, bis es Zeit war, meinen Vater zu wecken. Ich ging hinüber in den kleineren der zwei Räume unseres Hauses und sagte leise zu meinem Vater: »Aufstehen, Dad!«

Er begann sich zu wälzen und ich beschloss, das als Wachsein zu werten. Außerdem fror ich bereits und wollte mich neben den Ofen stellen, auf dem meine Mutter das Frühstück zubereitete. Er hatte sich durch das Holz, das wir illegal verbrannten, etwas erwärmt.

»Er ist wach«, sagte ich zu meiner Mutter, als ich mich an den Ofen lehnte.

»Und das gibt dir das Recht, dumm rumzustehen, oder was?«, fauchte sie mich an. Ich seufzte. Eigentlich war es nicht die Schuld meiner Mutter, dass es so viel zu tun gab, aber es war schwer, nicht wütend zu werden, auch wenn ich es mir immer wieder vornahm. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass sie hier geboren worden war. Obwohl es ja eigentlich nicht darauf ankam, wo du geboren wurdest, sondern wer deine Eltern waren. Wären meine Eltern Adelige gewesen, dann wäre ich nicht in einem Barackenviertel aufgewachsen, hätte länger als nur zwei Jahre die Schule besuchen können, müsste nicht jeden Tag Wasser holen und mich von Maschinen drangsalieren lassen. Und vor allem müsste ich nicht jeden Tag in der Fabrik arbeiten.

Nein, wenn ich die Eine aus einer Million Menschen gewesen wäre, die adelig war, dann würde ich in einer Villa leben, jeden zweiten Tag in die Schule gehen und könnte mir von Robotern alles bringen lassen, was ich gerade wollte. Aber wie gesagt, wir alle gehörten zu den 999.999, die nicht-adelige Menschen waren. Zu denjenigen, die von allen Redbloods genannt wurden – Rotblute. So, als hätten die Adeligen wirklich blaues Blut. Es war eine Erinnerung an unseren Stand als minderwertige Menschen.

»He! Seit wann so ungehorsam? Ich dachte, du wärst diejenige, die jeden Tag was zu essen haben will! Also Marsch, geh zum Händler und kauf Reis!«, riss meine Mutter mich aus meinen Gedanken.

»Entschuldigung …«, murmelte ich, griff nach dem wenigen Geld, das wir hatten, und ging zur Tür hinaus. Doch kaum hatte ich das Haus verlassen, rief mir meine Mutter nach: »Was? Was hast du gesagt? Red‘ gefälligst lauter mit mir!«

Genervt drehte ich mich um und steckte meinen Kopf durch die Eingangstür: »Nichts, Mutter, ich habe lediglich ‚Entschuldigung‘ gesagt.« Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern machte mich gereizt auf den Weg.

Ich duckte mich instinktiv, um den Blicken der anderen Menschen auszuweichen. Ich sah einen Mann mit fettigen Haaren und einem fanatischen Glitzern in den Augen, der mit sich selbst redete. Erst, als er seine Finger nach dem langen Zopf eines Nachbarsmädchens ausstreckte, wurde mir klar, was er vorhatte.

Ich atmete tief ein und rang mit mir selbst. Ich wusste den Namen des Mädchens nicht mehr, aber ich hatte sie hier schon öfter gesehen. Ich konnte doch nicht einfach so zuschauen …

Der Mann packte den Zopf und zog kurz an. Mit der anderen Hand riss er ihr ein Päckchen Mehl aus den Armen. Ich sah mich um, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der ihr helfen konnte. Ich spürte, wie sich Erleichterung in mir ausbreitete, als ich einen unserer Nachbarn vor einer Hütte entdeckte. Er war in ein Gespräch vertieft, eine Axt gedankenverloren in der Hand.

»Carter!«, rief ich und winkte ihm zu, damit er mich sah. Er drehte sich um, erblickte mich, als ich meine Hand ausstreckte, um sie auf das zitternde Nachbarsmädchen zu richten. Carters Augen verengten sich und er fing an zu laufen. Ganz kurz dachte ich, er hätte mich falsch verstanden, doch dann sah ich den Dieb mit den fettigen Haaren die Gasse hinuntereilen, seine Schultern gebeugt und seine Arme fest um das Mehl geschlossen. Carter war ihm bereits dicht auf den Fersen. Ich beschleunigte meine Schritte und schloss beide Hände fest um mein Geld.

Beim Händler stand bereits eine Menschentraube, doch das war nichts Ungewöhnliches. Ich schob mich vorsichtig durch die Menge, während ich die Gesichter der Leute genau im Blick behielt. Jeder wusste, dass man hier auf seine Sachen gut aufpassen musste, aber es war etwas anderes, die Tat des Stehlens mitanzusehen. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

Eine laute Stimme riss mich aus meinen Gedanken: »He, da! Du! Was willst du?« Ich schaute zu dem Händler hinauf. »Drei Packungen Reis!«, schrie ich zurück. Es waren so viele Menschen hier, die sich laut unterhielten, schrien, oder versuchten, etwas zu essen zu kaufen, dass man meine Stimme kaum hörte. »Da!«, sagte er barsch. Ich drückte ihm das Geld in die Hand und schlang dann die Arme um das Bündel mit dem Reis. Ich wollte kein Risiko eingehen.

Kaum war ich zuhause angekommen, gab es Frühstück. Es war immer sehr still am Frühstückstisch. Ich nahm mir meine Portion Reis und aß schweigend vor mich hin.

Nach dem Frühstück verließen mein Vater und ich die Hütte, um zur Arbeit zu gehen. In der Fabrik arbeiteten fast alle aus unserem Viertel. Eigentlich war es ja gar nicht nötig, dass wir hier schufteten. Eigentlich könnten Roboter unsere Arbeit erledigen, doch die Adeligen wollten, dass wir beschäftigt waren und nicht auf dumme Gedanken kamen. Und da wir alle nichts zum Leben hatten, kam jeder, der alt genug war, um nicht mehr zur Schule zu gehen, hierhin. In meiner Familie arbeiteten mein Vater und ich. Früher hatte meine Mutter auch gearbeitet, aber eines Tages wurde uns alles gestohlen, was wir hatten, weil wir das Haus alleine ließen. Daher blieb sie jetzt zuhause. Zumindest hatte mein Vater mir das so erzählt. Manchmal fragte ich mich, ob es noch einen anderen Grund gab.

***

Es war harte Arbeit. Kaum hatte ich die Fabrik verlassen, ließ ich mich zu Boden sinken und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Bei der Arbeit schwitzten wir auch bei -10°C.

»Hey, komm!«, sagte mein Vater und zog mich hoch. Er schleifte mich ein paar Meter die Gasse hinunter, dann stellte er mich auf die Füße. Ich machte ein paar wackelige Schritte auf meinen müden Beinen, dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg nach Hause.

Wie jeden Tag. Wie jede Woche. Wie jeden Monat. Wie jedes Jahr. Wie immer. Für immer. Bis der Tod kam.

Goldmond

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