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15. JULI
ОглавлениеWie der Körper lebt auch die Seele
von der ihr zugeführten Nahrung …
Gilbert Holland
Er war schon immer in Äxte vernarrt gewesen. Er schwang sie mit dem Geschick eines Holzfällers, obwohl er eigentlich alles andere war.
Als Jack seine Arbeit begutachtete, warfen die Steinsäulen einen nachmittäglichen Schatten über die Leiche. Frank Lawsons sauber abgetrennter Kopf – das Einschussloch war eine kleine, dunkle Grube in der Mitte der Stirn – lag mit dem Hals genau auf einer Linie. Die Arme waren an den Schultern von seinem Oberkörper getrennt, die Ellbogen und Handgelenke durchschnitten. Jack überlegte, ob er auch Lawsons Finger von den Händen trennen sollte, doch er entschied sich dagegen, denn seine nur in dünnen Handschuhen steckenden Hände schmerzten schon jetzt in der kalten Luft des Icehouse Mountain.
Er hatte Lawsons Beine – Fleisch und Knochen – glatt an den Leisten abgehackt und das rechte am Knie und am Knöchel zerlegt. Jeder seiner präzisen Schnitte war nur am trägen Quellen des gerinnenden Blutes erkennbar. Doch nicht mal dies war – aus der Ferne betrachtet – allzu verräterisch, denn die dunkelbraune Sheriffuniform tarnte es.
Jack hob die Axt kniend noch einmal und zielte genau auf Lawsons linkes Knie. Die Klinge sauste herab, und er lächelte angesichts der simplen Freude an einem weiteren vollkommenen Schnitt. Es war zu lange her, seit er auf seine Arbeit stolz gewesen war und sich die Zeit genommen hatte, ihr richtig nachzugehen. Viel zu lange.
Als er den letzten Schnitt in Angriff nehmen wollte, ließ ihn das Brummen eines Motors innehalten, der sich oberhalb der Wiese die Bergstraße hinauf plagte. Jack warf einen verärgerten Blick auf seine Armbanduhr. 14.00 Uhr. Die nächste Führung sollte doch erst in neunzig Minuten stattfinden. Aber vielleicht brachte jemand Touristen zum dreihundert Meter höher gelegenen Anfang des Wanderweges. Wahrscheinlicher war es allerdings, dass das Fahrzeug Touristen beförderte, die zum Icehouse Circle wollten, dem beliebtesten Ausflugsziel der hiesigen Bergwelt.
Es war ein Jeep. Jack erkannte es am Motorengeräusch, als der Fahrer in einen niedrigeren Gang schaltete, um die letzte Haarnadelkurve vor der Ausweichstelle zu erklimmen. Dort stand Lawsons schwarzweißer Ford Explorer. Jack trat hinter einen der uralten Steinmegalithen. Er wartete und lauschte dem Knirschen des Schotters, als das Fahrzeug von der Straße abbog. Kurz darauf wurde der Motor ausgeschaltet.
Verdammt. Die Leiche lag vor ihm, mitten im Icehouse Circle – beziehungsweise Little Stonehenge, wie die geistlosen Touristen sagten. Hinter dem Kreis aus hoch aufragenden Steinen führte ein steiler Pfad zum Parkplatz an der Straße hinauf.
Jack begutachtete die Wiese. Über ihm wurden Autotüren zugeschlagen. Alte Schneehaufen lagen in den Schatten verborgen. Struppige graue Flechten klammerten sich an Felsen und uralte Baumstümpfe, während Sommerblumen im funkelnden Sonnenschein blau, rosa und gelb erblühten. Die Bergwiese dehnte sich hundert Meter zur südlich gelegenen Treppe und sechzig Meter nach Osten, Norden und Westen hin aus, wo sie jäh an einem halbkreisförmigen, tückischen Gletschersturz endete. Es gab keinen Fluchtweg und kaum einen Ort, an dem man sich verstecken konnte.
Eine weibliche Stimme drang zu ihm herunter, gefolgt vom Lachen eines Kindes. Jack trabte etwa fünfzehn Meter zu einem umgestürzten Rotholzbaum, der nicht weit vom Nordrand des Steinkreises entfernt lag. Faulende Borke zerbröselte, als er über ihn hinwegstieg. Blinde, weiße Larven schlängelten sich in einem Hohlraum in ihrem Nest. Jack ging hinter dem Gewirr aus knorrigen toten Wurzeln in Deckung, zog die hellrote Windjacke aus und schob sie unter den Stamm. Er fröstelte in dem schwarzen T-Shirt und verwünschte stumm seinen völlig untypischen Mangel an Weitblick. Er atmete frische Luft ein, und plötzlich durchfuhr ihn ein Adrenalinstoß: Feuer in den Adern, ein seltener Schatz, fast schon vergessen.
Das Gefühl ließ ihn beinahe schwindlig werden. Fast hätte er gelacht. Seine Taten waren kein Fluch, sondern eine Gabe zur Milderung der Langeweile – seiner eigenen und der der anderen. Ohne ein paar Genüsse, eine gelegentliche Überraschung, gab es keine Herausforderung, keine Lebensfreude.
Als zwei Gestalten auf dem Weg erschienen, zuckte ein Lächeln um Jacks Mundwinkel. Er sah eine Frau – sie trug einen violetten Parka, der sie als Angestellte von Bigfoot-Reisen auswies. Die andere Gestalt war ein Junge von neun oder zehn Jahren in einer himmelblauen Jacke.
»Ist es das, Mom?«, fragte er. Jack spürte einen neuerlichen Ausbruch von Feuer, als der Junge über die Wiese auf den Steinkreis deutete. In Richtung auf sein Versteck.
»Das ist es, Josh«, sagte die Frau, als sie das untere Ende des Weges erreichten. »Little Stonehenge. Gefällt es dir?«
»Sieht toll aus.« Josh nahm die Hand seiner Mutter und wollte sie weiterziehen, doch sie wich nicht von der Stelle.
»Sieht aus wie das echte Stonehenge in England«, sagte sie und machte ein paar Schritte auf dem von Steinen eingefassten Wiesenpfad. Ihr Blick war fast starr auf den Steinkreis gerichtet. »Der Kreis ist zwar kleiner, aber möglicherweise genauso alt. Es gibt allerdings einige Leute, die behaupten, er wäre eine Fälschung.«
»Wenn er alt ist, wie kann er da eine Fälschung sein?«
Die Frau lachte. Ihre Stimme hatte einen hellen, angenehmen Klang. »Ich vermute, es hat damit zu tun, dass ein paar so genannte Fachleute behaupten, die Erbauer dieses Kreises seien die gleichen gewesen wie die von Stonehenge – sie seien nach Amerika gekommen, um auch diesen Kreis zu errichten, was aber unmöglich ist, da der Bau von Stonehenge mehr als tausend Jahre gedauert hat. Außerdem soll Merlin der Chefingenieur gewesen sein ...«
Ihre Worte hingen in der Luft. Sie legte die Hände fest auf die Schultern des Jungen und zog ihn von hinten an sich.
Jack lächelte, denn er begriff, dass sie gerade die Leiche erspäht hatte.
»He, Mom, was ist denn los?«
»Bleib stehen.«
»Warum?«
Sie machte »Pssst« und rief dann: »Sheriff Lawson?«
Lawson antwortete natürlich nicht.
»Sheriff?«, rief sie erneut. Nach einer kurzen Pause beugte die Frau sich vor und flüsterte dem Jungen etwas ins Ohr. Als sie sich wieder aufrichtete, verschränkte er trotzig die Arme vor der Brust. Doch als sie sich den Megalithen allein näherte, rührte er sich nicht von der Stelle. Sie zögerte am Rand des Kreises und blickte furchtsam zu dem etwa sieben Meter von ihr entfernten Leichnam. »Sheriff?«
Du weißt doch längst, dass er tot ist, gute Frau. Jetzt geh hin und bewundere mein Werk.
Ein kalter Windstoß ließ die Wildblumen zittern, dann wehte er der Frau die Kapuze vom Kopf und enthüllte anziehende Gesichtszüge und weizenblondes, in Wellen über ihre Schultern fallendes Haar. Jack erkannte sie.
Die Frau zögerte kurz, dann drehte sie sich um und ermahnte den Jungen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Ihr Blick fiel wieder auf Lawsons Leiche, dann trat sie langsam – sehr langsam – in den Steinkreis hinein.
Jacks Wadenmuskeln zuckten in einem extrem unangenehmen Krampf, doch er hielt die Luft an und konzentrierte sich darauf, den Schmerz zu ignorieren. Ein paar Sekunden später löste sich der Krampf. Jack atmete aus – froh, dass der Wind den Dunst seines Atems sofort davonwehte.
Die Frau blieb etwa drei Schritte vor der Leiche stehen und starrte sie an. Ihr Atem kam in kleinen weißen Stößen. Jack sah, dass die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Er hätte gern ihre Gedanken und Gefühle gekannt, denn nun wurde ihr bewusst, was da vor ihr lag.
»Mom?«, rief der Junge.
»Bleib, wo du bist«, befahl die Frau. Ihre Stimme war überraschend kräftig. Sie schaute langsam auf. Ihr tastender Blick und ihre bebenden Nasenflügel verrieten, dass Panik in ihr aufstieg. Sie erinnerte Jack an einen Jagdhunde witternden Fuchs. Er hielt den Atem an, bis sie endlich wieder auf das hinabblickte, was vom Sheriff des Eternity County übrig geblieben war.
Er hatte erwartet, dass sie schrie, weglief oder beides tat. Es war eine ziemliche Überraschung für ihn, dass sie so viel Rückgrat bewies – dass sie die Leiche langsam umkreiste und sich alles genau anschaute.
Jedes Teil. Und sei es noch so klein. Jack beobachtete sie erheitert, als sie ihm den Rücken zuwandte und die Beine des Sheriffs begutachtete. »Lieber Gott«, keuchte sie. Vielleicht, dachte Jack, ist sie klug genug, um die Bedeutung des Knöchels zu erkennen, der noch mit dem Unterschenkel verbunden ist.
Plötzlich fuhr die Frau herum. Ihr Blick verengte sich. Sie suchte erneut die Umgebung ab. Sie sah die Axt im gleichen Moment wie er – das Blatt blitzte auf, als ein Sonnenstrahl darauf fiel. Es war schlampig gewesen, die Axt zu vergessen, doch nun war Jack zu fasziniert, um sich Gedanken darüber zu machen.
Er glaubte kurz, dass sie ihn enttäuschen würde, dass sie die Nerven verlor, doch ihre Lähmung endete schon einen Herzschlag später. Er schaute erfreut zu, als sie auf dem Absatz herumfuhr und ihr Blick über jeden Felsen und jede Blume huschte. Dann hob sie schweigend mit einer energischen Geste die Hand und blickte erneut zu ihrem Sohn.
Als sie sich wieder der Leiche zuwandte, zog Jack kurz in Erwägung, sie aus rein sportlichen Erwägungen zu packen. Denn sie würde sich wehren.
Dann ging sie abrupt an der Leiche vorbei und vorsichtig auf den Umgestürzten Baum zu. Jack machte sich sprungbereit, doch bei der Axt blieb sie stehen. Er öffnete schweigend den Mund und holte tief Luft. Als sie sich das blutige Axtblatt anschaute, witterte er ihre Angst. Ihre in schwarzen Handschuhen steckenden Hände wollten zugreifen, doch dann verharrte sie. Erneut nahm sie die Landschaft in Augenschein.
Eine kluge Frau, dachte Jack bewundernd. Eine Seltenheit, denn sie ahnte, dass sie den Künstler bei der Arbeit unterbrochen hatte. Diesmal bewegte sie sich nicht; diesmal wandte sie sich nicht von ihm ab. Er fragte sich, ob sie seinen Blick spürte – ob sie ahnte, dass man einem Raubtier nicht den Rücken zudrehte.
Sie blieb eineinhalb Minuten stehen – Jack zählte die Sekunden –, und ihr Blick huschte hin und her. Ihre Finger waren leicht gebogen, aber steif vor Anspannung.
Plötzlich ging sie an der Axt und dem äußeren Megalithen vorbei, genau auf ihn zu. Jack hielt die Luft an, als sie nach Westen, nach Osten und schließlich nach Norden und in seine Richtung schaute. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete den Baum, und er spürte, dass ihr Blick den Stamm durchbohrte, dass sie ihn sah und kannte.
Als sie den nächsten Schritt machte, spannten Jacks Muskeln sich zum Angriff, doch dann blieb sie stehen und schaute etwas an, das vor dem Stamm am Boden lag.
Jack blickte hinab und sah seine rote Windjacke. Ein Ärmel lugte ein Stück unter dem Baumstamm hervor. Jetzt weiß sie, dass ich hier bin. Er machte sich bereit, war aufgeregt und ungeduldig.
Doch sie kam nicht näher. Plötzlich drehte sie sich um und lief über die Wiese zu ihrem Sohn. Jack schaute zu, als sie und der Junge den Weg hinaufeilten und hinter dem Hügelkamm verschwanden. Kurz darauf erwachte der Jeepmotor brüllend zum Leben. Der Geruch des versengten Gummis erfreute sein Herz.
Jack nahm die Axt schnell wieder an sich und beendete den Lawson betreffenden Job. Danach trug er sie zur nördlichen Klippe hinter dem umgestürzten Baum und schleuderte sie in die tiefe Gletscherspalte. Er beugte sich über das alte Holzgeländer und schaute zu, wie die Axt in die eisige Finsternis hinabfiel. Kurz darauf war sie verschwunden. Für immer. Und ewig.