Читать книгу Eternity - Stadt der Toten - Tamara Thorne - Страница 6
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ОглавлениеKate McPherson hatte sich vorgenommen, ihren freien Tag so gut wie möglich zu nutzen. Sie machte die Augen auf, reckte sich und genoss das warme Wasser und den Schaum ihres dekadenten nachmittäglichen Bades. Sie inhalierte den frischen Wohlgeruch der aus der dampfenden Wanne aufsteigenden Mineralsalze und seufzte glücklich. Josh kam erst in einer Stunde aus der Schule; sie konnte also alles tun, was sie wollte. Oder auch gar nichts.
Kate schloss die Augen wieder, ließ ihre Gedanken treiben und sah das Lächeln ihres Sohnes: Es war zwar noch unsicher, aber auf eine Weise unverkrampft wie nie zuvor, seit sie Carl verlassen hatte. Ihr Magen zog sich allerdings beim bloßen Gedanken an ihren Exmann noch immer zusammen.
Sie hatte den Psychologen Carl Leland als Frischling an der New Yorker Universität kennen gelernt. Er war zehn Jahre älter, sah gut aus, wirkte sehr selbstsicher und betrieb eine florierende Privatpraxis. Er war Kate noch interessanter erschienen, weil er sich auch schriftstellerisch betätigte und gerade an seinem ersten Buch arbeitete – einem einfach geschriebenen psychologischen Lebenshilfewälzer, der ihr damals ungeheuer wichtig erschienen war.
Kate reckte sich erneut und spürte, wie die Seifenblasen ihre Haut streichelten. Carl hatte sich als Manipulator entpuppt. Er hatte nicht gewollt, dass sie arbeitete, und zwar aus ebendem Grund, aus dem er ihre wenigen Freunde vergraulte: Er wollte sie einfach nicht mit anderen Menschen teilen.
Als Josh in den Kindergarten gekommen war, hatte Carl auch die Freunde seines Sohnes vergrault. Er war so weit gegangen, dem Jungen einzureden, seine Kameraden würden ihn nur zu Festen oder zum Spielen einladen, weil er der Sohn eines berühmten Autors und Psychologen sei.
Da man nicht mit ihm reden konnte, war Kate einige Monate später an einem sonnigen Montagmorgen – als Carl im Büro gewesen war – mit Josh geflohen.
Nun hob sie ein Bein aus dem Schaum und seifte es ein. Die ersten Monate waren hart gewesen. Sie hatte auf Carls Reaktion bezüglich der Scheidungspapiere gewartet. Sie hatte sich nur über einen Anwalt mit ihm verständigt, denn sie hatte keine Lust, sich von ihrem eloquenten Ex in spe überreden zu lassen, zu ihrem leichten und luxuriösen Leben zurückzukehren.
Zu Kates Überraschung hatte Carl die Scheidung nicht angefochten – vielleicht deswegen, weil sie keine Alimente für den Jungen haben wollte. Er hatte auch ihren Antrag auf das alleinige Sorgerecht für Josh nicht in Frage gestellt, sondern nur um allgemeines Besuchsrecht gebeten.
Alles war wunderbar. Zu wunderbar. Kate hatte Carls Zusagen damals nicht getraut und traute ihnen auch heute nicht. Ein so besitzergreifender Mensch wie Carl Leland würde sich nie bereit erklären, sein »Eigentum« kampflos aufzugeben. Es sei denn, er hatte eine Geliebte ... oder plante eine machiavellistische Falle. Kate wusste bis heute nicht, was er vorhatte, aber sie hoffte noch immer auf Ersteres, denn Letzteres fürchtete sie.
Sie fröstelte trotz der Wärme des Badewassers. Vor eineinhalb Jahren hatte es sie nach Eternity verschlagen. Sie war hiergeblieben, weil der Ort so abgelegen war, dass Carl wahrscheinlich nie hier vorbeikommen würde. In dieser Hinsicht hatte sie Recht gehabt: Er rief Josh zwar hin und wieder an und versprach, ihn zu besuchen, doch daraus war bisher nie etwas geworden.
Kate seifte das andere Bein ein. Sie hatte Carl vor fast zwei Jahren zuletzt gesehen. Die Zeit hatte ihre Besorgnis freilich nicht verringert. Carl gehörte nicht zu den Menschen, die loslassen konnten. Außerdem war er ungeheuer geduldig. Früher oder später würde er Anspruch auf seinen »Besitz« erheben. Aber jetzt werde ich mit ihm fertig.
Vor dem Zwischenfall am Icehouse Circle war Kate sich dessen nicht ganz sicher gewesen, aber dieser Tag hatte ihr Selbstvertrauen gestärkt.
Sogar in dem schrecklichen Augenblick, in dem ihr klar geworden war, dass sie einen Mörder bei der Arbeit gestört hatte, hatte sie die zusätzliche Kraft gefunden, die sie brauchte. Sie wusste, dass Josh auf sie angewiesen war.
Zuerst hatte sie nicht geglaubt, dass dieses Erlebnis eine große Auswirkung auf ihr Leben haben könnte, doch sie musste zugeben, dass sie neuerdings bei jedem leisen Geräusch und jedem Knarren im Haus zusammenschreckte. Auch hatte sie nun Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. Es fiel ihr schwer, nicht ständig an den Mörder zu denken und sich zu fragen, ob er wusste, wer sie war.
Denk nicht schon wieder darüber nach! Kate zog den Stöpsel aus der Wanne, stieg heraus und schlüpfte in den langen blauen Bademantel. Nachdem sie den Gürtel verknotet hatte, löste sie ihr dunkelblondes Haar und bürstete es. Selbst in dem schwülen Badezimmer knisterte es vor statischer Entladung. Eine Eigenart der Ortschaft, fiel ihr ein. Fast überall in der Umgebung des merkwürdigen Städtchens konnte man auf kleine Auswirkungen von Little Stonehenge stoßen.
Mit den zwar netten, doch irgendwie bizarren Bürgern passte Eternity zu ihr. Kate hatte hier ihre Privatsphäre, und es gab eine kleine, aber tolle Schule für Josh. Sie hatte einen Job gefunden, der zu ihrem Interesse an der Geschichte des Wilden Westens passte und sie körperlich fit hielt. Ihre Stellung als Fremdenführerin mochte zwar, soweit es ihren entsetzten Exgatten betraf, keine erstrebenswerte Position sein, doch sie hatte echten Spaß daran.
Kate ging durch den Korridor ins Schlafzimmer. Es war klein, hell, luftig und hatte weiße Wände. Auf dem Eichenboden lag ein geflochtener Bettvorleger. Ihr aus einem Billigladen stammendes Messingbett war von einer bunten Tagesdecke verhüllt.
Kate nahm eine saubere Jeans aus der Kommode und kramte anschließend in einem Riesenhaufen Pullover herum. Unordnung gefiel ihr – auch sie war ein Zeichen ihrer Unabhängigkeit von Carls Regeln und Vorschriften. Sie wählte einen türkisfarbenen Rollkragenpullover aus und zog ihn über den Kopf. Und zwar ohne Büstenhalter, Carl – ohne Büstenhalter!
Nachdem sie ihre Sneakers angezogen hatte, ging sie hinunter. Die untere Etage bestand aus einem kombinierten Wohn-Esszimmer, einer Toilette und einer Küche mit zwei Türen. Die eine führte zur Garage, die andere zu der kleinen Hinterveranda und dem Schuppen, hinter dem wiederum ein nicht umzäunter Hinterhof lag.
Kate durchquerte das Wohnzimmer und ging durch die Glasschiebetür auf die große Vorderveranda. Von dort aus blickte man auf Tannen, Fichten und Kiefern. Abends, wenn der Wind heftiger wehte, sah man die funkelnden Lichter von Eternity.
Die Rotholzveranda war ihr Lieblingsplatz. Kate hatte sie mit schmiedeeisernen weißen Möbeln und Töpfen möbliert, in denen Kräuter und Blumen wuchsen. Kate betastete den Boden rings um eine Basilikumpflanze und drehte sich dann um, um die Gießkanne zu holen.
Aus dem Augenwinkel erspähte sie auf der mit »Willkommen« beschrifteten Fußmatte vor der Haustür einen Umschlag. Kate ging neugierig nach drinnen und öffnete die Tür.
Sie nahm den Umschlag an sich und ging wieder hinein. Ihr Vorname war in einer ihr nicht vertrauten Schrift auf einen Umschlag gekrakelt, der weder mit einer Briefmarke noch mit einem Stempel versehen war.
Eine Einladung zu einer Party? Kate drehte den Umschlag neugierig um, fand aber keinen Hinweis auf den Absender. Dann öffnete sie ihn und entnahm ihm einen gefalteten Zettel.
Meine Liebe,
Sie haben einen entzückenden Sohn. Es wird mir eine große Freude sein, ihn näher kennen zu lernen.
Jacky
Kate las das Gekrakel erneut. Ihr Magen verkrampfte sich, ihre Kopfhaut fing an zu jucken. Was ist das denn für ein geschmackloser Scherz?
Hinter ihr klapperte etwas.
Kate fuhr herum. Der Zettel – sie hatte ihn bereits vergessen – flatterte zu Boden. Wieder ein Klappern. Die Hintertür? Oder die Garagentür? Kate wusste nicht mehr, ob sie sie abgeschlossen hatte.
Ihr Revolver war im ersten Stock, das nächste Telefon am Ende des Wohnzimmers, an den zurückgezogenen Gardinen vorbei. Kate eilte zum Kamin, packte den Schürhaken und ging auf Zehenspitzen an der Essecke vorbei zur Küchenschwelle. Dort wartete sie, doch da sie nichts hörte, spähte sie um die Ecke. Die Küche wirkte unberührt, durch das Fenster hinter dem Spülbecken war niemand zu sehen.
Kate ließ den Schürhaken sinken, betrat den Raum und lauschte dem heftigen Pochen ihres Herzens. Sie sah sich selbst, in Joshs Alter: ein erschrecktes Mädchen mit einem Übermaß an Fantasie, das aus seinem Schlafzimmerfenster schaute und genau wusste, dass das gesichtslose Ungeheuer, das es ausschließlich auf sie abgesehen hatte, draußen umherschlich, ihre Fährte aufnahm und mit spitzen Krallen an der Scheibe kratzte und einzudringen versuchte.
Du hast dir das hier nicht nur eingebildet. Kate durchquerte die Küche und überprüfte das Schloss der schweren Hintertür. Sie war fest verschlossen. Hier war niemand gewesen. Und es hielt sich auch niemand hinter dem Haus auf.
Kate begab sich an die Tür, die zur Garage führte. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie war nicht verschlossen. Sie war nicht mal richtig ins Schloss gefallen. Kate zog sie auf und enthüllte ein paar Stufen in der Dunkelheit. Hier und da ein Sonnentupfer.
Ein plötzliches Rascheln unter ihr ließ sie zusammenfahren. Sie warf die Tür zu und schloss ab. Schwer atmend verwünschte sie sich, weil sie die Garagentür hatte offen stehen lassen.
Ob es Waschbären sind? Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes. Die Müllabfuhr kam erst morgen, und ihr Mülleimer quoll fast über. Ja, Waschbären. Kate entspannte sich ein wenig.
Wieder ein Klappern in der Garage. Kate warf einen nervösen Blick auf das Telefon. Sollte sie das Büro des Sheriffs anrufen? Nein. Wenn der Deputy kam und in der Garage nur eine umgekippte Mülltonne fand, wäre das ziemlich peinlich.
Aber angenommen, da ist wirklich jemand? Der Mörder
Kate ging zögernd zum Telefon. Sie fuhr entsetzt zusammen, denn es schrillte los, als sie den Hörer in die Hand nahm. Er fiel scheppernd zu Boden.
»Katherine?«, fragte eine blecherne Stimme. »Joshua? Hallo?« Carl. Der hat mir gerade noch gefehlt. Kate hob den Hörer und den Zettel auf, der ebenfalls auf dem Boden gelandet war, dann zählte sie bis fünf. Die Garage war vergessen. »Hallo, Carl. Was willst du?«
»Katherine? Stimmt was nicht?«
»Nein«, erwiderte sie kühl. »Ich hab nur die Hände voll.«
»Du bist ja ganz außer Atem«, sagte er übertrieben besorgt. »Ist ganz bestimmt alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut.« Kate fiel auf, dass sie im Begriff war, den Zettel zu zerknüllen, und zwang sich, damit aufzuhören. »Warum rufst du an?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich nächste Woche zu einer Signierreise für mein neues Buch aufbreche. Es könnte also sein, dass du eine Weile nichts von mir hörst.«
»Das ist doch kein Problem«, entgegnete sie, während in ihrem Kopf alles durcheinanderwirbelte. Carl hatte ihr hin und wieder kurze Briefe geschickt, handgeschriebene Plattitüden, denen die Schecks für Josh beigefügt waren. Er schickte auch noch immer Karten zum Valentinstag und zu den Geburtstagen. Hatte er vielleicht den Zettel geschrieben? Die Handschrift sah zwar nicht so aus wie seine, aber das musste nichts bedeuten. »Ich wusste gar nicht, dass du wieder ein Buch rausgebracht hast. Herzlichen Glückwunsch.«
»Es steht seit sechs Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times.« Carl kicherte selbstgefällig. »Du scheinst ja da oben wirklich sehr isoliert zu leben. Gibt’s da keine Zeitung?«
»Nur die Lokalzeitung.«
»Und kein Fernsehen? Hast du mich nicht bei Oprah gesehen?«
Die letzte Bemerkung sollte Kate neidisch machen, aber sie fiel nicht darauf herein. »Tut mir leid, aber ich schau mir nie Talkshows an«, flötete sie. »Ich muss arbeiten. Ist sonst noch was?«
»Brauchst du irgendetwas? Geld für Josh? Für dich?«
»Wir kommen ganz gut zurecht.« Dann fügte sie grollend hinzu: »Danke der Nachfrage.«
»Ich hab keine Ahnung, was ich getan haben soll, dass du mich so behandelst. Ich würde gern mehr über deine Verärgerung wissen, Katherine.«
»Ich hab keine Zeit, mich zu unterhalten, Carl. Die Schule ist gleich aus, und Josh erwartet, dass ich ihn abhole. Ist sonst noch was?«
»Also wirklich, Katherine, wir haben August.« Carl kicherte. »Du brauchst nicht zu lügen. Josh hat doch Ferien.«
»Aber nicht in Eternity. Hier haben wir nur Winterferien. Der Schnee ist schuld daran.« Seine Unwissenheit brachte sie auf den Gedanken, dass Carl sich nicht im Ort aufhalten konnte. Also konnte er auch den Zettel nicht geschrieben haben.
»Warum wohnst du eigentlich in einem Kaff am Ende der Welt, obwohl du alles haben kannst, was du willst?«
»Ich habe alles, was ich will. Auf Wieder–«
»Moment.«
Kate hielt den Hörer zögernd wieder ans Ohr. »Was ist denn noch, Carl?«
»Ich komme euch bald besuchen.«
»Warum?«, fragte sie. »Du hältst doch wohl in unserem Kaff keine Signierstunde ab, oder?«
»Ach, Katherine ... Könntest du doch nur die ungelösten Konflikte in deiner Stimme hören. Ich könnte dir helfen, das Kind in dir zu finden, aber dazu müsstest du mir erlauben –«
»Ach, leck mich doch am Arsch«, sagte Kate. Die erfreuliche Stille am anderen Ende der Leitung ließ sie erröten. Die heftigen Worte waren ihr einfach so herausgerutscht.
»Katherine, ich glaube, du bist krank ...«
»Nein. Es geht mir besser als je zuvor. Rede nicht mit mir, als wäre ich ein Patient oder Fan von dir, Carl. Sprich offen heraus, nicht wie ein Seelenklempner. Kannst du das überhaupt?«
»Tut mir leid, Liebling. Mir war gar nicht bewusst ...«
Kate schwieg.
»Ich habe dir ein Exemplar meines neuen Buches geschickt. Ich glaube, es wird dir gefallen.«
Kate schwieg weiterhin.
»Es heißt Heilen durch Manipulation.«
»Das Buch, das zu schreiben du geboren wurdest«, sagte Kate trocken.
Er verstand die Ironie nicht. »Ja. Genau. Ich glaube, wenn du es lesen würdest, könntest du davon profitieren.«
»Hast du es schon abgeschickt?«
»Ja. Heute Morgen.«
»Hast du in letzter Zeit noch was anderes geschickt? Irgendwelche Zettel?«
»Nein. Leider nicht. Ich war sehr beschäftigt und habe Josh und dich schrecklich vernachlässigt. Du kannst dir nicht vorstellen, unter welchem Druck ich stehe.«
Kate erkundigte sich auch nicht danach, aber sie sagte: »Ich hoffe, deine Signierreise wird erfolgreich. Mach dir keine Sorgen um uns. Wir haben alles, was wir brauchen.«
»Nur mich nicht.«
Gott, der Mann war eine Schlange. Bevor Kate vollends ausrasten konnte, fuhr Carl fort: »Meine Reise endet am Labor-Day-Wochenende in Oregon. Ich werde mir einen Wagen mieten und dich und Josh besuchen kommen.«
»Wirklich?«, fragte sie, während ihr bewusst wurde, dass es nichts brachte, wenn sie negativ klang: Es würde ihn nur ermutigen.
»Ja, wirklich. Ich verspreche es. Habt ihr ein Gästezimmer, Katherine?«
»Nein. Aber wenn du willst, kann ich dir ein Ferienhäuschen mieten.« Am anderen Ende der Stadt.
»Das wäre wunderbar. Ich komme am Labor-Day-Wochenende und bleibe eine Woche. Kannst du dich um alles kümmern?«
»Ja. Ich rufe deine Sekretärin an, damit sie sich um die Vorauszahlung kümmert.«
Carl zögerte, dann stimmte er zu. Nach ein paar weiteren unnötigen Ratschlägen zum Thema, wie sie ihr Leben verbringen sollte, legte er auf. Er hatte sich nicht mal nach Josh erkundigt. Typisch.
Sie würde also ein Ferienhaus für ihn mieten – gab es eine bessere Möglichkeit, ihn auf Distanz zu halten? – und seine Sekretärin anrufen. Es war unwahrscheinlich, dass er hier aufkreuzte – das Zögern in seiner Stimme, als sie zugestimmt hatte, eine Unterkunft für ihn zu suchen, hatte ihr das verdeutlicht. Carl hatte nur gewollt, dass sie gegen seinen Besuch Einspruch erhob. Oder dass sie ihn einlud, bei ihr zu wohnen.
Kate war froh darüber, wie sie mit ihm fertig geworden war. Sie warf einen Blick auf den Zettel, den sie in der Hand hielt. Es waren wahrscheinlich Kinder, die mir einen Streich spielen wollten.
Als jemand an die Haustür klopfte, machte ihr Herz vor Schreck einen Satz. Sie schob den Zettel in die Tasche, atmete tief durch und machte sich auf, um einen Blick durch den Spion zu werfen. Der Bürgermeister stand vor der Tür. Sein buschiger Schnauzbart verhüllte seine Oberlippe. In der Hand hielt er seinen glänzenden Spazierstock.
Für einen Menschen, der weit über siebzig sein musste, war Ambrose Abbott unheimlich gut in Form. Seine Persönlichkeit war faszinierend bizarr, seine Ausdrucksweise spitzzüngig. Er war eine menschliche Dampfwalze und sprach immer aus, was er dachte – ob es den Menschen in seiner Umgebung gefiel oder nicht. Was sein Privatleben anging, war er absolut zugeknöpft. Kate erfreuten seine kurzen Besuche. Vielleicht lag es an seiner erfrischenden Ablehnung jeglicher Schönschwätzerei. Vielleicht auch daran, dass sie sich auf perverse Weise geehrt fühlte, dass ein berüchtigter Misanthrop wie er sich gerade sie als Gesellschaft aussuchte.
Kate öffnete die Tür. »Kommen Sie rein, Bürgermeister Abbott!«
Abbott bewegte nickend seinen von dichtem grauem Haar bedeckten Kopf und spazierte entschlossen in die Küche. »Besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre köstliche Limonade gerade hier rumstehen haben?«
Kate folgte ihm und öffnete den Kühlschrank. »Ich hab gestern Abend welche gemacht.« Dann fügte sie hinzu: »Setzen Sie sich doch.« Aber er saß schon.
Kate trug den Krug und zwei Gläser zum Tisch. »Haben Sie einen Spaziergang gemacht?«
»Sieht so aus.« Abbott leerte sein Glas zur Hälfte. »Überall wimmelt es von Menschen. Eternity ist momentan einfach überbevölkert. Man findet kaum einen Platz, an dem man nachdenken kann.«
»Überbevölkert?«, fragte Kate überrascht. »Ist eine Busladung Touristen zu früh eingetroffen?« Sie wusste, dass er das Urlaubsgeschäft für eine unvermeidbare Notwendigkeit hielt.
»Nein, nein. Und ich danke den dafür zuständigen Göttern. Ich hab nur eine Menge Politik am Hals und muss noch einiges für den neuen Sheriff regeln. Deputy Settles schmollt mehr als üblich, da er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, den Posten abzugeben, den er kommissarisch verwaltet. Und unser singender Ratsherr weist mal wieder unüberhörbar darauf hin, dass auch er ein toller Sheriff wäre, wenn der neue Mann sich nicht einfügen kann. Ich musste einfach ’ne Runde drehen, sonst wäre ich bei dem ganzen kleinkarierten Gelaber noch ausgerastet.« Abbott schüttelte den Kopf. »Menschen! Ich kann Menschen nicht ausstehen. Andererseits kann ich sie ja nicht alle erschießen und in eine bodenlose Grube werfen.«
»Ist der neue Sheriff schon unterwegs?«
»Verdammt, meine Liebe, er ist sogar schon da.Er hat sich zwar noch nicht gemeldet, aber man hat ihn hier und da wie einen Wolf, der sein Revier markiert, rumstromern sehen.« Abbott leerte sein Glas.
Kate füllte nach. »Ich hab im Herald den Artikel über ihn gelesen. Was für eine schreckliche Sache, seine Familie ermordet aufzufinden.«
»Halb so wild. Das Leben ist nun mal ein Witz. Es spielt einem Streiche. Riesengroße.« Abbott schüttelte den Kopf. »Ich sollte lieber meinen Spaziergang fortsetzen. Ich glaube, ich könnte heute Nachmittag der Bergwiese mal einen Besuch abstatten.« »Das sind fast zwölf Kilometer. Haben Sie keine Angst, Sie könnten den Sheriff verpassen?«
Abbotts boshaftes Grinsen enthüllte eckige Zähne. »Er stromert hier rum, ohne sich um meine Zeit zu scheren. Soll er doch warten, bis ich mit meinem Spaziergang fertig bin.«
»Vielleicht sollte ich auch mal mit ihm reden.«
»Warum?« Abbott stand auf und schob seinen Stuhl unter den Tisch.
»Weil ich die Leiche gefunden habe.«
»Ich bin mir sicher, irgendwann werden Sie unserem neuen Sheriff schon begegnen.« Abbott begab sich zur Haustür und packte seinen Spazierstock. »Sie machen sich doch nicht etwa Sorgen um Ihre Sicherheit, oder? Inzwischen ist so viel Zeit vergangen ... Wenn der Mörder etwas gegen Sie unternehmen wollte, hätte er inzwischen längst reagiert.«
»Ich mache mir noch immer Sorgen.«
Abbott drehte sich um und beäugte sie. »Und warum?«
Kate zog den Zettel aus der Tasche und reichte ihn ihm. »Das hier habe ich kurz vor Ihrer Ankunft vor der Haustür gefunden.«
Abbott setzte eine Lesebrille mit Metallbügeln auf, glättete das Stück Papier und las es. »Kann ich es behalten?«
»Soll ich es nicht lieber dem neuen Sheriff geben?«
»Ich kümmere mich darum.« Er schob den Zettel in seine Tasche, als hätte sie eingewilligt. »Machen Sie sich deswegen Sorgen?«
»Es ist eine Drohung, und sie richtet sich gegen meinen Sohn«, sagte Kate zunehmend irritiert. »Außerdem habe ich, kurz nachdem ich den Zettel gefunden hatte, Geräusche in der Garage gehört. Ja. Ich glaube, ich kann durchaus sagen, dass ich mir Sorgen mache.«
Abbott zeigte ein halbes Lächeln. »Sie haben die Garagentür offen gelassen. Das ist geradezu eine Einladung zu einem Festessen. Aber ich schau mich trotzdem mal um.«
Kate folgte ihm hinaus. Sie war noch immer nicht ganz davon überzeugt, dass sie die Garagentür offen gelassen hatte; es passierte ihr nur selten. Aber vielleicht war es Josh gewesen. Kurz darauf spielte das jedoch keine Rolle mehr: Sie sah, dass die Mülltonne umgekippt und ihr Inhalt auf dem Boden und unter dem Wagen verstreut war. Auf der Kühlerhaube des Sentra lag sogar eine Bananenschale.
Abbott deutete auf den Müll. »Sie müssen besser aufpassen. So was ist geradezu eine Einladung für die Bären.«
»Mach ich.« Kate hielt inne. »Schon wegen des Zettels.«
»Ich werde ihn so schnell wie möglich dem Gesetz übergeben. Vergeuden Sie keine Zeit, indem Sie sich Sorgen machen. Sie wissen doch, dass in unserer Gegend mehr exzentrische Typen wohnen, als wir brauchen. Shady Pines liegt gleich hinter dem Hügel dort. Sie wissen, wie oft manche der Leute, die dort wohnen, uns besuchen kommen ... und wie fantasievoll sie sind, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
Er drehte sich um, und ehe Kate protestieren konnte, nahm er den Berghang in Angriff. Er meinte es gut, aber seine Shady-Pines-Theorie war haarsträubend. Eine kalte Brise stach durch die dünne Wärme der Sonne und verursachte Kate unter dem Pullover eine Gänsehaut.