Читать книгу Eternity - Stadt der Toten - Tamara Thorne - Страница 7
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ОглавлениеNach der Abfahrt aus Horse Junction fühlte sich Tully sehr verlockt, den Wagen zu wenden, den Schwanz einzuziehen und nach Los Angeles zurückzufahren. Er wechselte auf die nach Norden führende Interstate 5. Chief Ladd hatte ihn in Sachen Eternity entweder auf den Arm genommen oder maßlos übertrieben. Als alles gesagt war, hatte die grundlegende Wahrheit darin bestanden, dass Tully noch immer Veränderung brauchte und seine Wahl getroffen hatte.
In der Ferne machte er den weißen Gipfel des Icehouse Mountain aus, und fünfzehn Kilometer später kam er an eine Ausfahrt, die ihn ans Ziel bringen würde. Er wandte sich dem schmalen Eternity-Highway zu und nahm den letzten Teil der Reise in Angriff.
Bald war er von Kieferwäldern umgeben, die die Berge vor seinen Blicken abschirmten. Die Straße stieg langsam an. Tully drehte die Seitenscheibe des Camaro herunter, schaltete die Klimaanlage aus und erfreute sich an der Tatsache, dass die Luft zwar draußen wärmer war, sich aber nicht mehr wie der siebente Kreis der Hölle an einem Augustnachmittag anfühlte. Der zu Kopf steigende Duft der Kiefern erneuerte seine Hoffnungen und Erwartungen.
Er kam nur langsam voran, was ihm Zeit zum Nachdenken gab. Als er fast zwei Stunden später die Grenze des Eternity-Landkreises erreichte, war er sich mehr oder weniger bewusst geworden, dass er sich nur deswegen nicht näher über seine künftige neue Heimat informiert hatte, damit er keinen Grund hatte, einen Rückzieher zu machen.
Als er ins Eternity County einfuhr, wurde die Straße noch schmaler, zeigte noch mehr Schlaglöcher und war noch kurvenreicher. Ihr Zustand führte dazu, dass er sich fragte, ob Eternity wirklich der blühende Touristenort war, von dem Abbott gesprochen hatte. Die Straße erschien ihm zu still, zu verlassen und zu trostlos.
Es war erst 2.00 Uhr nachmittags, doch es kam ihm viel später vor, da die Kiefern- und Rotholzhaine sich um ihn schlossen, den größten Teil der Sonne verhüllten und die Straße und den Waldboden nur hier und da mit Lichtsprenkeln erhellten. Während der letzten dreißig Kilometer war er konstant in einer Höhe von ungefähr tausend Metern gefahren, doch als er durch eine Haarnadelkurve kam, führte die Straße wieder nach oben.
Als Tully zwischen den Bäumen eine Hirschkuh mit einem Kitz erblickte, verlangsamte er. Er spürte, dass er bei ihrem Anblick wie ein Idiot grinste. Er hatte außerhalb eines Streichelzoos noch nie einen lebendigen Hirsch gesehen, und dabei hatte er mit Kevin doch mehr als eine Angeltour in die San Bernardino Mountains unternommen. Sein Herz schlug schneller, als er an seinen Sohn dachte, doch er schob die Erinnerungen rasch beiseite.
Die Straße erstreckte sich nun allmählich nach Norden, und Tully erhaschte durch eine Waldlichtung wieder einen Blick auf den Icehouse Mountain. Er fuhr an den Straßenrand, schaltete den Motor ab, verließ das Fahrzeug und reckte seine steifen Muskeln. Als er durch den Wald schaute, sah er hoch oben den Gipfel des Icehouse.
Die Nachmittagssonne reflektierte kristalline Prismen, die auf uralten Gletschern zu tanzen schienen, und plötzlich verstand er, warum so viele Mythen und merkwürdige Geschichten den Berg umgaben. Der Icehouse war nicht nur majestätisch, sondern beinahe magisch. Eine Stelle aus einem Lied seiner Kindheit fiel ihm ein – Oh, the birds and the bees and the lemonade streams on the Big Rock Candy Mountain –, und ihm wurde klar, dass er, als er noch sehr klein gewesen war, Fotos des Berges gesehen haben musste, denn dies war der Ort, den er sich bei diesem Lied immer vorgestellt hatte.
Nach einer Weile kehrte Tully zu seinem Wagen zurück. Bald darauf führte die Straße rund um den südwestlichen Fuß des Berges. Eine Anzeigetafel verkündete, er befände sich in einer Höhe von 2000 Metern. Kurz danach meldete ein anderes Schild, Eternity sei nur noch sieben Kilometer entfernt.
Irgendwo rechts bewegte sich etwas im Wald. Tully schaute auf ein dunkles Geschöpf, das zwischen den Bäumen fast unsichtbar war. Es war kein Hirsch, denn es stand aufrecht. Vielleicht ein Mensch. Oder ein Bär. Tully lächelte vor sich hin und fragte sich, ob es etwas war, das ihn als Bigfoot-Sichter qualifizierte. Irgendetwas heulte tief im Wald; es war ein gespenstisches Klagen, das dazu führte, dass Tullys Nackenhaare sich aufrichteten. Eine Sekunde später kreischte ein Vogel und brach den Bann. Die massige Gestalt verschwand.
Ein Schild verkündete die Nähe der Icehouse-Klamm, dann führte der Weg durch eine tückisch ansteigende schmale Schlucht. Rechts säumte Sprenggranit den Straßenrand. Links gab es weder Leitplanken noch Seitenstreifen. Sechs, sieben Meter hinter der Gletscherspalte klammerten sich Zwergkiefern verbissen an jedes Stückchen Erde, das sie zwischen dem Vulkangestein zu fassen kriegten. Eine Todesfalle. Tully fragte sich, wie viele rostige Wracks am Boden der Schlucht lagen.
Die Klamm endete an der 2200-Meter-Anzeige. Hinter der nächsten Biegung ragte ein Rotholzschild auf. Eingeritzte weiße Buchstaben verkündeten: WILLKOMMEN IN ETERNITY. Darunter, in verblassender Farbe, zwei Bekanntmachungen: 498 EINWOHNER und EIN STÜCKCHEN HIMMEL AUF ERDEN. Gleich dahinter stand eine zwei Meter hohe Schrifttafel, die ein massiges Lebewesen mit braunem Fell zeigte. Es hob ein Plakat hoch, auf dem stand: SCHAU DIR DEN BIGFOOT IM KURIOSITÄTENLADEN »SNAKES ALIVE« AN! Der Wald war mittlerweile weniger dicht. Zwischen den Bäumen sah Tully unbefestigte Wege und Häuschen. Am Straßenrand warben Schilder für Ferienhotels, Geschäfte und Restaurants. Tully fuhr wieder einen Hügel hinauf, und als er den 2500 Meter hohen Gipfel erreichte, sah er den Ort unter sich. Er trat auf die Bremse, hielt unbewusst den Atem an und schaute auf die Stadt hinab. Auf seine Stadt.
In einem Fall hatte Abbott die Wahrheit gesagt: Eternity war wirklich ein schöner Anblick. Das Ortszentrum war um einen großen, mit Bäumen bewachsenen Platz herum erbaut worden. Landhäuser mit Spitzdächern säumten ihn mehrere Blocks weit und endeten am Wald.
Hinter Tully hupte jemand. Tully gab gerade noch rechtzeitig Gas, um einen gelben Mustang daran zu hindern, ihn auf die Hörner zu nehmen. Bremsen kreischten, dann raste der Wagen, ohne sich um den gelben Doppelstreifen zu scheren, an ihm vorbei, setzte sich eine Sekunde später vor ihn und entging nur knapp einem entgegenkommenden Bierlaster. Der Lkw-Fahrer betätigte die Hupe und drohte dem Raser mit der Faust. Als er vorbei war, beschloss der Mustang-Fahrer, Tully zu ärgern, indem er so sehr verlangsamte, dass er nur noch dahinzockelte. Doch der Unsichtbare tat eigentlich nur eins: Er gab Tully genügend Zeit, sich sein Nummernschild einzuprägen. Bald wurde der Raser seines Spiels überdrüssig und beschleunigte. Entzückend,dachte Tully. Er malte sich das Vergnügen aus, ihn irgendwann zu überholen.
Tully fuhr zum Stadtplatz hinunter und beschloss, den Ort zuerst ein wenig zu erkunden, bevor er sich bei Ambrose Abbott meldete. Der rechteckige Platz war groß und mit Gras, Blumen, Espen und Eichen bewachsen, die allmählich schon rotgelbe Herbstfarben annahmen. Hohe Kiefern standen da und dort auf den Wiesen. An einem Ende des Parks säumten Bänke einen großen Teich. Auf der anderen Seite umgaben sie hell gestrichene Rutschen, Schaukeln und andere Spielgeräte. Einige Frauen saßen dort und schauten ihren Kindern beim Spielen zu. Ein älteres Ehepaar schlenderte Händchen haltend über einen kurvenreichen Pfad, der an weiteren schmiedeeisernen Bänken vorbeiführte. Unter den Bäumen standen Picknicktische, und eine weiße Orchestermuschel erhob sich auf einer Lichtung neben einem großen Springbrunnen.
Altmodische Straßenlaternen säumten Gehsteige und idyllische Ladenfronten. Tully hatte plötzlich das Gefühl, in die Vergangenheit gereist zu sein. Die auf der Ladenseite der Straße abgestellten modernen Fahrzeuge trugen wenig dazu bei, diesen Eindruck zu dämpfen.
Gegenüber dem westlichen Ende des Parks erspähte er eine Drogerie, ein kleines Kaufhaus, eine Eisenwarenhandlung und mehrere Geschenkläden. Er wandte sich der Main Street East zu und entdeckte eine Reinigung, mehrere Restaurants, Buchhandlungen, ein Antiquitätengeschäft und eine Kneipe mit dem Namen Oktoberfest.Dem Teich gegenüber befanden sich das Gerichtsgebäude, das Postamt, das Touristeninformationszentrum, die Feuerwehr und eine Bibliothek.
Als Tully sich nach links wandte, fiel sein Blick auf eine Bar namens Shalimar.Sie war mit einer rot gepolsterten Tür aus den sechziger Jahren versehen, und von ihrem Dachfirst hingen imitierte Eiszapfen herab. Dann kamen ein ehemaliges Theater (inzwischen zu einem Duplex-Kino umgebaut), ein italienisches Restaurant, ein Maklerbüro, ein Feinkostladen, das Büro der Lemuriagesellschaft und »Kings Törtchen«, eine Konditorei, aus der so wunderbar süße Düfte über die Straße wehten, dass sein Magen anfing zu knurren. Tully beschloss, dennoch zuerst seine Runde zu beenden und dann etwas zu essen.
Er fuhr weiter und erreichte das letzte Gebäude des Blocks, in dem der Eternity Weekly Herald untergebracht war. Beim nächsten Block sah Tully ein kleines Schild, das ihm die Richtung zum Sheriffbüro wies. Er folgte dem Pfeil und rollte langsam an seinem neuen Arbeitsplatz vorbei. Er glich zwar eher einer Ranger-Blockhütte als einer Polizeistation, aber Tully hatte nichts dagegen einzuwenden.
An dem Mast davor wehten die Flaggen Kaliforniens und der Vereinigten Staaten. In niedrigen Ziegelsteinbeeten wuchs eine verschwenderische Fülle hell- und dunkelroter Blumen. Tully bog direkt hinter dem Büro auf den briefmarkengroßen Parkplatz ein. Dort waren ein roter Nissan-Pick-up und zwei Streifenwagen abgestellt – der eine ein Crown Vic, der andere ein klotziger Ford Explorer mit Allradantrieb. Tully hätte sich beinahe dazwischengeschoben, doch er überlegte es sich anders: Wenn sein Hiersein bekannt wurde, wäre es um seine Freizeit geschehen.
Er kehrte auf die Straße zurück, fuhr den Rest der innenstädtischen Straßen ab und kehrte nach Norden an den Eternity Highway zurück, um sich anzusehen, was auf der anderen Seite der Stadt los war. Er kam an zwei schäbigen Motels vorbei und erspähte eine Imbissbude. Er kaufte einen Papphamburger, fetttriefende Pommes und eine lauwarme Cola und fuhr wieder los. Tully hätte sich nie träumen lassen, dass er McDonald’s oder Taco Bell vermissen könnte, doch mit jedem fettigen Bissen wurde seine Gier nach dem, was es hier nicht gab, größer.
Die Straße beschrieb eine weite Kurve und führte dann an einem riesigen alten Hotel mit Namen Eternity Hot Springs vorbei. Teure Fahrzeuge aller Marken standen auf dem Parkplatz. Tully fuhr noch einige hundert Meter, ohne weitere Anzeichen von Leben zu entdecken, doch als er umdrehen wollte, um in die Stadt zurückzukehren, sah er erneut eine Reklametafel mit dem Bigfoot. »SNAKES ALIVE«! KURIOSITÄTENLADEN! SCHAU DIR BIGFOOT AN! NUR 300 METER! Tully wollte sich das nicht entgehen lassen.
Der Laden war die billigste Touristenfalle, die er je gesehen hatte. Und er hatte eine Menge gesehen. Eigentlich war er ein Freund solcher Unternehmen, denn sie erinnerten ihn an die Familienausflüge seiner Kindheit. Jedes Jahr war er mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder zwei Wochen lang mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das Land und wieder zurück gerast. Alligatorfarmen und Touristenläden waren praktisch die einzigen Orte gewesen, an denen sie angehalten hatten, da sein Dad ihnen nicht widerstehen konnte – selbst dann nicht, wenn er einen fünfzehn Kilometer weiten Umweg über Schotterstraßen fahren musste, um sie zu sehen: die grässlichste Mutation der Welt, die spottbilligen Dinosaurierknochen oder gar das Häufchen geheimnisvoller Steine vom Planeten Mars. Tully hatte fast ein schlechtes Gewissen, als ihm bewusst wurde, dass er sich nie die Zeit genommen hatte, Linda und Kevin gefälschte Mumien oder ausgestopfte Krokodile zu zeigen.
Tja, und jetzt ist es zu spät. Das Wissen half ihm auch nicht weiter, und als er auf dem unbefestigten leeren Platz vor dem baufälligen Gebäude anhielt, wurde seine Stimmung noch düsterer. Er schaltete die Zündung aus und starrte auf das Lenkrad.
»Howdy, Mister! Kommen Sie rein?«
Tully blickte überrascht auf und sah in die hellen Augen eines schnauzbärtigen alten Mannes. Er war klein und rüstig, trug eine Latzhose und ein verblasstes kariertes Hemd. Er sah so aus, als hätte er normalerweise eine Maiskolbenpfeife zwischen den Zähnen und eine Spitzhacke in der Hand.
»Sie sind hier, um Bigfoot zu sehen, was?«
»Nein«, erwiderte Tully. »Glaub ich nicht.«
»Was immer Ihnen auch zu schaffen macht, Mister ... Sobald Sie mein Bigfoot-Diorama gesehen haben, ist es damit vorbei. Kommen Sie rein. Geht aufs Haus.«
Tully wusste aus langer Erfahrung, dass er nur noch deprimierter werden würde, wenn er sich nicht schnellstens aus seiner miesen Stimmung herausholte. Auch nach all der Zeit fiel es ihm noch immer schwer, diese Gefühle zu verdrängen, weil er nach wie vor die Empfindung hatte, ihm stünde nach dem Tod seiner Familie kein Vergnügen mehr zu. Er hatte all diese Dinge mit dem Polizeipsychiater durchgekaut, hatte jeden Aspekt der Schuld und Selbstbestrafung von allen Seiten beleuchtet. Die ganze Episode war eine Übung in Vergeblichkeit gewesen, weil nichts von dem, was der Seelenklempner gesagt hatte, den Schmerz verschwinden ließ. Tully wusste natürlich, dass er mit seinem Leben fortfahren und aufhören musste, sich in schlechtem Gewissen zu suhlen. Entweder hörte er damit auf oder er nahm seine Waffe und erlöste sich von seinem Elend. Manchmal klang die Sache mit der Kugel verdammt gut.
»Sie sind ’n verträumtes Kerlchen«, sagte der alte Mann, öffnete einen Beutel mit Kautabak und schob einen schwarzen Klumpen zwischen seine braunfleckigen Zähne.
Tully zwang sich zu einem Lächeln. »Ich komme rein, danke.« Er stieg aus dem Wagen.
Der Alte streckte ihm die Hand entgegen. »Jackson Coop«, sagte er und schüttelte Tully überraschend kräftig die Hand. »Ich bin der Besitzer von ›Snakes Alive‹. Ich hab den ›Kuriositätenladen‹ an den Namen meines Unternehmens drangehängt, weil die Leute, die früher hier vorbeikamen, immer geglaubt haben, ich hätte nur ’ne Schlangenfarm. Haben Sie schon mal ’ne zweiköpfige Schlange gesehen?«
Tully hatte schon mal eine gesehen, und zwar auf einer Alligatorenfarm, aber er wusste, dass Coop diese Antwort nicht hören wollte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht.«
»Tja, wird nicht mehr lange dauern, dann haben Sie eine gesehen. Sie haben sich ’ne gute Zeit ausgesucht, um hier reinzuschneien. Hier ist nämlich momentan nicht viel los. Sie sind auf der Durchreise?«
Tully zögerte. »Nein, bin ich nicht.«
Jackson Coop runzelte die Stirn, während er Tully musterte. »Soll das heißen, Sie wohnen hier? Ich hab Sie hier in der Gegend noch nie gesehen.«
»Ich bin gerade erst angekommen, Mr. Coop.«
»Sagen Sie einfach nur Coop, das tun alle. Hat mir auch immer besser gefallen als mein Taufname. Meine Mom hatte ’ne Schwäche für Old Hickory, deswegen hat sie mich Jackson genannt. Aber ich hatte immer das Gefühl, ich sollte andersrum heißen: Coop Jackson, nicht Jackson Coop.«
»Ihre Mutter stand auf Andrew Jackson?«, fragte Tully und zwang sich zu einem Lächeln.
»Hab ich das nicht gerade gesagt, mein Sohn?«
Tully nickte und fragte sich, ob der alte Mann vielleicht eine Schraube locker hatte. Immerhin war Andrew Jackson schon länger tot, als sie beide lebten.
Coop spuckte aus und verfehlte den Reifen des Camaro um Haaresbreite. »Wie werden Sie genannt?«
»Ich heiße Zach Tully –«, begann er.
»Zach Tully.« Der Alte ließ den Namen über seine Zunge rollen. »Tully. Zach Tully. Ich kenn den Namen.« Er zupfte an seinem Bart. »Ein Schläger, der mit Hank Antrims Bande rumlief, war ’n Tully. Sind Sie mit dem verwandt?«
Ist er senil? »Meines Wissens nicht.«
Coop kicherte und wischte sich den Kautabaksaft mit dem Ärmel vom Mund ab. »Das verdammte Zeug bringt mich noch um, aber es ist das Einzige, was meine Vermieterin daran hindert, mich abzuküssen.« Er spuckte den Klumpen aus und wedelte mit dem Zeigefinger vor Tullys Nase herum. »Sie sind der neue Sheriff. Der Tully sind Sie, nicht wahr?«
Tully lächelte. »Ja, der bin ich.«
»Tja, Sheriff, Sie brauchen nie zu bezahlen, wenn Sie ins Museum wollen. Das ist keine Bestechung, sondern nur ’ne Tatsache.«
»Danke.«
»Weiß jemand, dass Sie hier sind?«
»Ich dachte, ich schau mir erst mal die Stadt an.«
»Kluger Bursche. Tja, dann kommen Sie mal rein. Sehr wahrscheinlich werden Sie hier oben einen oder zwei Bigfoots sehen, deswegen sollten Sie lieber lernen, wie man sie von ’nem Bären unterscheidet. Wo kommen Sie her?«
»Los Angeles.«
»Esst Ihr Großstädter eigentlich wirklich so viele Donuts, wie das Werbefernsehen behauptet?«
Tully lachte. »Natürlich nicht.« Es war eine allgemeine Aussage, denn er selbst war ein Zuckerjunkie, und er hatte den herrlichen Duft aus der Konditorei in der Innenstadt noch nicht vergessen.
»Haben Sie schon mal ’nen Bären gesehen?«, fragte Coop.
»Klar.« Im Zoo.
»Tja, wenn sich ’n Bär auf die Hinterbeine stellt, kann man ihn leicht mit ’nem Bigfoot verwechseln. Ich zeig Ihnen lieber mal, worauf Sie achten müssen.« Coop setzte sich in Bewegung. Tully folgte ihm und fragte sich, auf was er sich da eingelassen hatte.
»Ich«, sagte Coop, ohne sich umzudrehen, »hab ’ne Menge von beiden gesehen. Bären sind zwar gefährlicher, aber wenn ein Bigfoot die Witterung einer Frau aufnimmt, die ihre Periode hat, kann das echt problematisch werden. Ich habe einen von denen erschossen, der ins Haus einer Lady eingebrochen ist und versucht hat, an sie ranzukommen.«
»Sie haben einen Bigfoot erschossen?«
»Klar. Den größten hab ich ausgestopft, die Felle der anderen hängen an den Wänden.« Coop hielt inne. »Es gibt doch kein Gesetz, das verbietet, sie zu erschießen, oder? Mein Jagdschein muss hier irgendwo sein.« Er fing an, in seiner Tasche zu kramen.
Tully hob die Hand. »Nein, nein, schon in Ordnung. Es ist ... es ist nur so, dass es so wenige Sichtungsmeldungen gibt, dass es mich erstaunt, dass Sie einen erlegt haben.« Lieber Gott, lass mich ernsthaft klingen. »Wenn Sie die ganzen Felle haben, könnten Sie ein reicher Mann sein«, fügte er lahm hinzu.
»Gottverdammte Regierungsverschwörungen.« Coop kniff die Augen so fest zusammen, dass er wie Popeye aussah. »Die verbreiten, ich wäre ’n exzentrischer Irrer. Agenten haben das verbreitet, damit die Fernsehsender mich gar nicht erst befragen – jedenfalls nicht die, die zählen. Ich glaube fast, die werden von der Regierung bedroht.« Coop hielt inne, dann wurde seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Einmal ... vor ungefähr zwanzig Jahren ... war ’n halbes Dutzend Leute vom Fernsehen hier draußen. Eine Frau wurde ermordet. Der Rest ist getürmt.« Er schüttelte den Kopf. »Seitdem haben die sich hier nicht mehr sehen lassen.«
»Ermordet?«
»Na ja, offiziell hat ein Bär sie erwischt.« Coop kicherte. »Vielleicht hatte sie ihre Periode, und Bigfoot hat sie sich geschnappt.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernster, dann fügte er hinzu: »Nee, das mit Bigfoot ist nicht ernst gemeint. Ich hab die Leiche der Frau gesehen und glaub, dass es Mord war. Wahrscheinlich steckt die Regierung dahinter.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Es könnte natürlich auch einer von den Killern sein, die hier in der Gegend wohnen, aber wer weiß das schon? Also, wenn Sie mich fragen, ich glaube, dass die Regierung dahintersteckt.«
Tully nickte. Der erste Mensch, der mir in meinem neuen Revier über den Weg läuft, ist ein seniler alter Knacker, der Bigfoots erlegt. Im Inneren seines Schädels konnte er John Mendoza fröhlich lachen hören. »Vielleicht sprechen wir noch mal darüber, wenn ich etwas mehr Zeit habe«, sagte Tully und hoffte, dass er diplomatisch klang.
Coop nickte. »Das wollte Frank Lawson auch, aber er hat nicht lange genug gelebt.« Er lächelte und zeigte seine gelben Zähne. »Ich hoffe, Sie haben mehr Glück.« Er hielt die Tür auf und winkte Tully hinein.
Coops Unternehmen war von den Reihen verstaubter Postkarten, den fußförmigen Krügen und Bigfoot-Pfeffer-und-Salzstreuern bis hin zu den Buttons mit den Slogans Icehouse Mountain! – Ich habe den Strudel besucht und ihn überlebt! – Bigfoot lebt! und In Little Stonehenge steppt der Bär! purer Billigtourismus. Coop stand offenbar auf Ausrufezeichen.
»Da ist einer von meinen Pelzen.« Er deutete auf ein mottenzerfressenes Fell an der hinteren Wand. »Es ist der kleinste. Kommen Sie hier entlang.« Er führte Tully zu einer Tür neben dem Fell, an einer weiteren riesigen Bigfoot-Werbetafel vorbei, auf der BIGFOOT-MUSEUM! EIN ECHTER HAMMER! NUR $ 4,50! stand. Tully folgte Coop an einem Terrarium voller Taranteln vorbei, dann blieben sie vor einem anderen stehen, in dem eine kleine Königsschlange mit zwei Köpfen lebte. Nachdem er das Reptil bewundert hatte, traten sie über die Schwelle der Museumstür. Tully untersuchte den angeblichen Bigfoot-Pelz. Es musste ein Bärenfell sein. Ein stechender Geruch hing an dem Ding.
Coop öffnete die Tür in die Finsternis. Dahinter war der Gestank noch schlimmer und vermischte sich mit dem übermäßig süßen Geruch von Mottenkugeln und Schimmel. Der Alte verschwand, dann erblühte im Inneren des Museums staubiges gelbes Licht.
Glasvitrinen, die dringend der Reinigung bedurften, säumten drei Wände des sieben mal sieben Meter großen Raumes, in dessen Mitte zwei weitere standen. Drei Wände stellten außerdem handgezeichnete Plakate sowie »Bigfoot«-Pelze zur Schau. Die vierte Wand war hinter einem verblassten grünen Vorhang verborgen.
»Da sind wir.« Jackson Coop zog an einer Kordel. Der Vorhang ging auf und enthüllte das Diorama. Die Wand war auf amateurhafte Weise bemalt und zeigte eine Landschaft mit Kiefern und einem hellblauen Bach. Im Hintergrund ragte der Icehouse Mountain in die Höhe, und bedrohliche Sturmwolken umhüllten den Gipfel. Bigfoot stand zwischen mehreren Weihnachtsbaumimitationen auf einem Bett aus Kiefernnadeln vor dem Gemälde. Tully musste zugeben, dass das Geschöpf beeindruckend aussah. Es ragte fast zweieinhalb Meter in die Luft, hatte die Beine gespreizt, die Arme über dem Kopf ausgestreckt und die Fäuste auf bedrohliche Weise halb geballt. Das äffische Gesicht war zu einem bösartigen Fauchen verzogen.
»So sieht also ein Bigfoot aus«, sagte Tully. Seiner Ansicht nach war das Ungeheuer hauptsächlich Bär – das Fell wirkte echt – und zu einem geringeren Anteil Schimpanse.
»Das ist er.« Coop musterte Tully kichernd. »Hab ihn genau an der Stelle erwischt, die das Gemälde zeigt. Ich hab den Hintergrund selbst gemalt, damit alles genau stimmt. Hab ihn vor fast dreißig Jahren erwischt. Wissen Sie, was ’n Bigfoot wirklich ist?«
»Das verschwundene Glied in der Kette?«
Coop kicherte erneut. »Das scheinen alle zu glauben, aber so ist es nicht. Er ist ein Überbleibsel des untergegangenen Volkes von Lemuria.«
»Lemuria«, sagte Tully, um Zeit zu schinden. Coop schaute ihn an, als müsse er wissen, wovon er redete. »War das nicht ein Ort – so was wie Atlantis?«
Coop zog seinen Kautabakbeutel hervor und schob sich einen neuen Priem in den Mund. »Atlantis wurde von den Lemurern gegründet«, erklärte er geduldig. »Lemuria war vor etwa fünfzehntausend Jahren ’ne große Insel vor der kalifornischen Küste, Sheriff. Vielleicht sogar vor dreißigtausend Jahren. Die Lemurer hatten alles. Sie haben Häuser aus Gold gebaut. Sie hatten auch Raumschiffe und Telepathie und waren viel weiter entwickelt als wir. Aber irgendwie waren sie es dann leid, weil sie nichts anderes zu tun hatten, als sich gegenseitig schweben zu lassen und Bücher zu lesen.« Coop kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Da sie nun nichts mehr zu tun hatten, fingen sie an, allerlei perverse Sachen zu machen, so dass ihre Götter ihnen sagten, sie sollten sich gefälligst am Riemen reißen, weil sie ihre Insel sonst in die Luft jagen würden. Tja, aber die haben immer so weitergemacht und alle Todsünden begangen, die auch wir kennen. Sie wissen schon: Ehebruch, Gier, Orgien, Trägheit. Sie haben dem Vulkan Jungfrauen geopfert, solche Dinge eben. Und dann wurde es noch schlimmer. Zuerst fingen sie mit Inzest an.« Coops Augen blitzten. »Ich schätze, darin waren sie verdammt gut. Dann wurde es ihnen langweilig, und dann haben sie angefangen, es mit Tieren zu treiben.«
»Ist das ’ne Tatsache?«, fragte Tully, um die plötzlich einsetzende Stille zu überbrücken.
»Ja klar, Sheriff. Sodomie kam bei ihnen noch besser an als jeder Inzest. Bald haben sie es alle mit Tieren getrieben – und Sie wissen ja, was dann passiert ist ...« Coop beäugte Tully neugierig.
Der Alte erwartete eine Antwort, aber Tully hatte keine auf Lager. »Ich weiß nicht. Was ist denn passiert?«
Coop schaute ihn an, als wollte er sagen: Mann, du hast aber wirklich keine Ahnung. »Mutierte Kinder«, erklärte er finster. »Halb Mensch, halb Tier.« Er deutete mit dem Daumen auf den Bigfoot. »Wie er.«
»Ich verstehe.« Tully warf einen bedeutungsschwangeren Blick auf seine Armbanduhr, aber Jackson Coop verstand den Hinweis nicht.
»Tja, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Götter haben den Vulkan ausbrechen lassen. Haben die ganze verdammte Insel vernichtet und im Meer versinken lassen. Es gab eine kleine Gruppe von Auserwählten – Lemurer, die noch zu hundert Prozent menschlich waren, die nicht an Sodomie oder Inzest glaubten und die entwischten, ungefähr so wie Noah mit seiner Arche, nur dass ihr Schiff flog und sie abhauten und Atlantis gründeten. Die meisten sind gestorben. Aber ein paar entkamen und nahmen ihre halbblütigen Kinder mit. Die kamen dann hierher.«
»Was für eine Geschichte.« Tully warf erneut einen Blick auf seine Uhr. »Haben die Lemurer Little Stonehenge gebaut?«
»Klar. Wer hätte es sonst tun sollen? Ja, ich kann Ihnen sagen –«
»Vielleicht ein anderes Mal«, unterbrach ihn Tully. »Es ist schon spät. Der Bürgermeister fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe.«
»Natürlich fragt er sich das, falls er nicht gerade irgendwo rumwandert. Der alte Ambrose wandert nämlich gern. Der hält nicht viel von den Menschen.« Coop zog den Vorhang wieder zu. »Eins dürfen Sie nie vergessen: Bigfoots sind verdammt glitschig. Manche Leute glauben, dass sie sich entmaterialisieren können, aber ich persönlich halte das für ’nen Haufen Mist.«
Jackson Coops Gesichtsausdruck war unergründlich. Als Tully ihm zurück durch den Laden folgte, fragte er sich, was der Alte eigentlich vorhatte – vorausgesetzt, er hatte etwas vor. Je länger er seinem Geschwafel lauschte, desto weniger glaubte er an seine Senilität. Coops Augen zeigten zu viel Intelligenz, und irgendwie spitzte er die Lippen so, als amüsiere er sich über etwas. Vielleicht war er ein Ex-Shady-Pines-Patient? Doch eigentlich konnte er sich das nicht vorstellen. Wahrscheinlich wurde der Neuzugang gerade einer Prüfung unterzogen. Vielleicht kam irgendwann eine Einladung zu einer Schnepfenjagd auf ihn zu.
»Nochmals danke«, sagte Tully, als er an der Tür Coops Hand schüttelte. Er wandte sich zum Gehen.
»He, Tully.«
Tully drehte sich um. Die Schärfe in Coops Stimme überraschte ihn.
»Sie gefallen mir.«
Tully wartete.
»Würd nicht gern sehen, dass Ihnen was passiert.« Coops Blick zuckte hin und her, als befürchte er, man könne ihn belauschen.
»Was meinen Sie damit?«
»Hier passieren Dinge.«
»Dinge?«
»Sie werden’s schon sehen. Frank Lawson ist umgebracht worden, weil er seine Nase in Dinge gesteckt hat, von denen der Stadtrat sagt, sie gingen ihn nichts an.«
»Dann hat der Stadtrat ihn umbringen lassen?«, fragte Tully.
»Das will ich damit nicht sagen. Soweit ich weiß, weiß außer dem Killer niemand, wer ihn umgebracht hat. Ich will damit nur sagen, dass Sie auf den Stadtrat hören sollen, wenn er sagt, Sie sollen die Finger von irgendwas lassen. Die beste Möglichkeit, gesund zu bleiben, ist die, dass man tut, was der Stadtrat sagt. Es ist nicht klug, den Lebenslänglichen die Zähne zu zeigen – nicht mal denen, die nicht im Stadtrat sind.«
Da war er wieder, der geheimnisvolle Begriff, den er schon bei Chief Ladd gehört hatte. »Was sind Lebenslängliche?«
»Na, natürlich die Leute, die schon immer hier waren.«
»Menschen, die hier geboren sind?«
Coop schüttelte den Kopf. »Soll das heißen, dass Sie nichts über den Icehouse Circle wissen? Und über Little Stonehenge?«
»Ich weiß, dass sich eine Menge Mythen um diesen Ort ranken. Und dass man dort Frank Lawsons Leiche gefunden hat.«
»Warten Sie mal.« Der Alte verschwand in seinem Laden und kam kurz darauf mit einer rot umhüllten Broschüre zurück. »Lesen Sie das.« Er hielt sie ihm hin. »Und seien Sie wachsam.«
Tully nahm die Broschüre, und als er den Titel las, stöhnte er innerlich auf. Die okkulten Geheimnisse des Icehouse Mountain. Der Umschlag zeigte eine Zeichnung des Berges, über dem eine fliegende Untertasse schwebte. Davor war die Silhouette eines Bigfoot zu sehen. Zweifellos war auch dies ein Produkt von Coops Kunst. »Danke. Und da steht alles drin, was ich wissen muss?« Er griff in die Hosentasche, um seine Geldbörse zu zücken.
»Kostet nichts. Sie werden’s brauchen. Es wird Ihnen zwar nicht alles sagen, was Sie wissen müssen, weil es nur etwas für die Touristen ist, aber wenn Sie’s gelesen und ’ne Weile hier gelebt haben, werden Sie verstehen, was es bedeutet, falls Sie irgendwann mal ’nen Grund haben, sich über irgendwas zu wundern. Und dann kommen Sie zu mir.« Coop grinste und spuckte Kautabak aus. »Dann halten Sie mich bestimmt nicht mehr für so verrückt wie jetzt.«
»Danke für die Broschüre«, sagte Tully, da ihm nichts anderes einfiel.
»Gehen Sie zu keinem anderen, und lassen Sie sich nicht dabei erwischen, wenn Sie zu mir kommen. Frank Lawson ist zu mir gekommen, aber er hat kein Geheimnis draus gemacht. Das war ein Fehler.«
Tully musterte Coop einen Moment. »Ich werde daran denken.« Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen.
»Viel Glück, Sheriff«, rief Jackson Coop hinter ihm her.
»Gütiger Himmel ...« Tully musterte das reißerische Titelbild der Broschüre, dann warf er sie hinter seinem Sitz auf den Boden. Er hatte sich wieder mal blind den verrücktesten Typen der ganzen Gegend rausgesucht. Bei so was war er wirklich nicht zu schlagen. Er ließ den Wagen an und fuhr in Richtung Ortszentrum. Mendoza hätte seinen Spaß daran gehabt.