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16. AUGUST

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töten. Die Erschaffung einer freien Stelle ohne Benennung eines Nachfolgers. Ambrose Bierce

Zach Tully war dabei, sich von der Abteilung und Los Angeles zu verabschieden. Jetzt, nach mehr als drei frustrierenden Jahren, in denen er versucht hatte, den Hintertür-Mörder zu fassen, redete er sich ein, dass er die Suche nicht aufgab, sondern nur die Stadt und die Abteilung verließ. Was für ein Glück, dass ich es hinter mir habe.

Er hatte den letzten Teil der Reise sozusagen gerade in Angriff genommen. Nun sah er den Shasta Lake, seine schmalen Ausläufer und die alles umgebenden sommerbraunen Berge. Die Interstate 5 von L.A. war eine leicht befahrbare, aber auch heiße und langweilige Straße, so dass er sich fragte, wie schauerlich man sie wohl in den verschwitzten alten Zeiten vor der Erfindung der Klimaanlage gefunden hatte. Der Highway wand sich an endlosen trockenen Ölfeldern, Steppenläufern und Telefonmasten vorbei. Ödes Land, in dem es nur Tankstellen, Rasthäuser und McDonald’s gab. Als er in die Nordhälfte des Staates gewechselt war, waren Städtchen mit Baumbestand aufgetaucht, die schließlich in die riesigen Vorortsiedlungen Sacramentos übergegangen waren.

Er war gestern spät losgefahren und hatte bei der Ankunft in der Hauptstadt des Staates eigentlich keine Lust mehr zum Fahren gehabt. Trotzdem hatte er nicht aufgegeben. Zwei Stunden später hatte er in Redding angehalten und sich in einen Raum in einem alten, zugigen Hotel im Westernstil geschleppt, das noch aus der Zeit des Goldrauschs stammte. Zu den Sehenswürdigkeiten gehörten Schusslöcher in der verzierten Walzblechdecke des Speisesaals und das angeblich berühmte Messingbett in seinem winzigen Zimmer. Der Mann am Empfang hatte stolz berichtet, Wild Bill Hickok hätte einst eine Nacht in ebendiesem Zimmer und genau dem gleichen Bett verbracht. Als Tully mit schmerzendem Rücken erwachte, nahm er an, dass Hickok auch auf der gleichen Matratze geschlafen hatte.

Während er die Aussicht auf den See genoss, freute er sich zum ersten Mal auf den Anblick seines neuen Zuhauses. Seit dem Tag, an dem er das Angebot angenommen hatte, Sheriff von Eternity County zu werden, war er eher besorgt als erfreut gewesen. Solange er sich ausgemalt hatte, in eine Kleinstadt mit ungefähr zwanzigtausend Einwohnern zu ziehen, war ihm nie der Gedanke gekommen, er könnte in einem Kaff landen, in dem kaum fünfhundert lebten. Für einen Jungen aus der Stadt war das ganz schön extrem.

Er hatte schlaflose Nächte mit dem Gedanken verbracht, ob er etwas getan hatte, das er noch bedauern würde. Er stellte sich diese Frage nach wie vor. Immerhin hatte er sich nicht mal um den Job beworben. Der Bürgermeister, ein ziemlich eloquenter Mensch, der sich als Ambrose Abbott vorgestellt hatte, hatte berichtet, im hundertzwanzig Kilometer südöstlich von Eternity gelegenen Büro der California Highway Patrol in Horse Junction habe sich jemand lobend über Tullys Fähigkeiten geäußert. Tully hatte noch nie etwas von Horse Junction gehört, geschweige denn von Eternity. Er hatte etwas mehr in Erfahrung bringen wollen, doch der Bürgermeister hatte ihm dazu keine Chance gegeben. Er hatte ihm nur den Job angepriesen und ihm verdeutlicht, dass Eternity einen neuen Sheriff brauche. Man benötige jemanden, der Erfahrung hatte, selbstständig handeln konnte und über ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen verfügte. Der letzte Sheriff war laut Abbott kürzlich bei einem tödlichen Unfall ums Leben gekommen. Der Stadtrat hoffte, Tully werde das Angebot annehmen.

Eternity, hatte der Bürgermeister behauptet, sei ein entzückendes, stilles Touristenstädtchen und der einzige Ort des winzigen Landkreises. Tully würde schon noch selbst herausfinden, wie schön das Leben dort sei. Abbott hatte nicht aufgehört, die einem Sheriff zustehenden Vergünstigungen zu rühmen, und als Tully erfahren hatte, wie gut der Job bezahlt wurde, hatte er kaum widerstehen können. Zudem unterstanden ihm drei Vollzeit-Deputys, und er durfte in einem möblierten Blockhaus auf einem 700 Quadratmeter großen Grundstück wohnen. Doch letztendlich hatte der hinter dem Blockhaus befindliche Angelteich es ihm unmöglich gemacht, das Angebot abzulehnen.

Dennoch: Tullys Bedenken hatten in dem Moment angefangen, als er verkündet hatte, er wolle die Abteilung verlassen. Hatte er zu schnell gehandelt? Konnte er das Alleinsein überhaupt ertragen? War es wirklich eine gute Idee, seine hohe Position bei der Mordkommission aufzugeben und seine Freunde und seinen Partner zu verlassen? Noch kannte er die Antworten auf seine Fragen nicht. Ein Rückzieher wäre allerdings mehr als ehrlos gewesen: Die Jungs hätten ihn gnadenlos aufgezogen.

Am vergangenen Freitag war sein letzter Tag bei der Rampart Division gewesen. Nach der Arbeit hatten seine Kollegen eine Abschiedsparty veranstaltet, eine bittersüße Angelegenheit, die er gefürchtet hatte: Einer der Jungs hatte, von zu viel Bier in seiner Urteilskraft beeinträchtigt, auf nostalgische Weise seine drei Jahre zuvor gescheiterte Festnahme des Hintertür-Mörders zur Sprache gebracht. John Mendoza, Tullys Partner, hatte den Betrunkenen zwar zum Schweigen gebracht, doch Tullys gute Laune war im Eimer gewesen.

Er hatte den Rest des Abends gute Miene zum bösen Spiel gemacht und nur Mendoza gezeigt, dass die Veranstaltung für ihn gelaufen war. Mit Mendoza war er auch am Tresen geblieben, als die anderen gegangen waren. »Ich werde nur eins vermissen – deine hässliche Visage«, hatte Tully in angetrunkener Zuneigung gesagt. Es war ihm ernst gewesen. Nach dem Mord an seinen Angehörigen hatte nur Mendoza ihn aufrecht gehalten. Ohne ihn hätte Tully sich vermutlich in einer Flasche verkrochen oder sich die Kugel gegeben.

»Yeah«, hatte Mendoza erwidert und eine Limonenscheibe in den Hals seiner Corona-Flasche gedrückt. »Ich beneide dich, Kumpel. Saubere Luft, keine Gangs. Verdammt, da gibt’s wahrscheinlich nicht mal Graffiti. Und du bist der Sheriff – ich fass es nicht! Kein Mensch wird dir vorschreiben, was du zu tun hast.«

»Du musst es nur sagen, dann besorge ich dir auf der Stelle einen Job in meinem Machtbereich.«

»Was?« Mendoza schnaubte. »Ich soll für den großen Sheriff den Deputy spielen?«

»Klar, warum nicht?« Tully kicherte. »Wenn du den Job haben willst, kriegst du ihn.«

»Ich will ihn nicht haben, Tully. Ich würde durchdrehen, wenn ich in so einem Nest wohnen müsste. Ich liebe die Stadt – mitsamt ihrem Abschaum.« Mendoza schüttelte den Kopf.

»Außerdem könnte ich im Schnee nicht leben.«

»Komm schon, Mendoza, sei keine Memme. Von Ende Juni bis September gibt’s da keinen Schnee.« Seine eigenen Worte, so witzig sie gemeint waren, deprimierten ihn. »In guten Jahren auch nicht im Oktober.«

Mendoza musterte ihn. »Jetzt mal im Ernst, Mann: Glaubst du, man kann in so einem Nest geistig gesund bleiben?«

»Wieso denn nicht? Aber das kriegt man erst raus, wenn man es versucht. Die Straße nach Eternity County ist der Haken bei diesem Job: Der Ort ist im Winter mehr oder weniger vom Rest der Welt abgeschnitten.«

»Lieber Gott, soll das heißen, man kann da sechs Monate am Stück nicht weg?«

»Sechs Monate?« Diese Möglichkeit hatte Tully noch gar nicht bedacht. Er war davon ausgegangen, dass man nur während der Schneestürme eingeschneit war. In seinem Kopf flackerten Bilder auf: Jack Nicholson tobte mit einer Axt durch die Gegend.

»Na ja, ist wohl möglich, schätze ich.« Er hielt inne und kam sich ein bisschen blöd vor, weil er sich nicht darüber informiert hatte. Dann fügte er lahm hinzu: »Man kann da aber unheimlich gut angeln.«

»Gut. Wenn du den ersten Winter überlebst und es dir dann immer noch gefällt, komm ich dich im nächsten Sommer besuchen. Dann können wir angeln gehen.«

»Ja, das würde mir Spaß machen.« Tully spürte, dass sich sein Gesicht zu einem dämlichen Grinsen verzog.

»Dann hab ich nur noch eine Frage, Partner ...«

Tully runzelte die Stirn und wartete.

»Weißt du ganz genau, dass du das tun willst?«

»Sollte ich es deiner Meinung nach nicht tun?«

»Na ja«, sagte Mendoza, »ich sehe es zwar nicht gern, dass du gehst, aber ich glaube, du solltest es tun. Es überrascht mich nur ein bisschen, dass du freiwillig wegziehst.«

»Ich werde die Suche nach dem Hintertür-Mörder nie aufgeben.« Tully war schlagartig wieder nüchtern. »Ich hab mir geschworen, dass ich diesen Bastard kriege. Aber seit ... seit Linda und Kevin hat er seine Signatur nicht mehr hinterlassen.« Es fiel ihm noch immer schwer, ihre Namen auszusprechen.

»Wahrscheinlich ist er tot oder in einen anderen Staat gezogen«, meinte Mendoza. »Er könnte sogar im Ausland sein. Oder er sitzt wegen irgendeiner anderen Straftat im Knast.«

»Könnte sein. Aber ich glaub’s nicht.« Die Haare auf Tullys Armen richteten sich auf, und er spürte einen plötzlichen Ansturm der alten Wut. »Er ist noch da draußen, John. Ich spüre ihn. Irgendwann gehört er mir.«

»Ich weiß.« Mendoza musterte ihn über den Hals seiner Bierflasche hinweg. »Aber ich freue mich, dass du dich entschieden hast, ein neues Leben anzufangen. Du warst ja wie besessen, Mann.«

»Ich weiß, ich weiß.« Tully winkte ab. Mendoza hatte diesen Spruch in den letzten beiden Jahren immer wieder abgelassen.

»Dein schlechtes Gewissen frisst dich noch auf. Dabei hättest du doch –«

»– nichts dagegen tun können«, fiel Tully ihm ungehalten ins Wort. »Ich hab’s längst kapiert, also kannst du dir die Predigt sparen, Mom.«

»Okay. Verzeihung. Ich nehme auch an, dass du die Sache überwunden hast.«

Hab ich sie wirklich überwunden? Der Verkehr auf der Interstate 5 wurde dünner. Tully passierte die Ausfahrt zu dem winzigen Nest La Moine und folgte der Straße, die in bewaldete Hügel führte. Nach den Morden hatte er keine Nacht mehr in seinem Haus in Santo Verde verbracht. Er hatte es verkauft und war in eine Zweizimmerwohnung in Echo Park gezogen. Nach dem Verkauf hatte er das Haus nie wieder gesehen. Bis vor einer Woche. Da hatte er sich gezwungen, einen letzten Blick darauf zu werfen. Der Bungalow war frisch gestrichen. Auf dem Rasen hatte jemand ein blaues Fahrrad liegen lassen. Der Anblick hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt.

Er war in seine Wohnung zurückgekehrt und hatte sich erneut gefragt, ob er Linda und Kevin verriet, wenn er aus L.A. fortzog, ohne ihren Mörder gefangen zu haben. In dieser Nacht waren die alten Albträume mit aller Macht zurückgekehrt. Er hatte den furchtbaren Abend in seinen Träumen immer wieder durchlebt. Im ersten Jahr jede Nacht, dann einmal pro Woche, dann nur noch monatlich. Die Träume hatten ihn völlig ausgelaugt und mit Bildern von Leichen, Blut, dem unversehrten Geburtstagskuchen und ihn beobachtenden unsichtbaren Augen gequält. Das Echo von Gelächter in seinen Ohren.

Immer wenn Tully den Traum hatte, erwachte er zitternd, in Schweiß gebadet und von dem Empfinden gepeinigt, er hätte etwas Wichtiges übersehen. Er fragte sich bis heute, ob es stimmte. Gott wusste, dass er sich an diesem Abend nicht wie ein Cop benommen hatte.

Die Kilometer flogen dahin. NÄCHSTE AUSFAHRT HORSE JUNCTION, las er. Ein blaues Schild der California Highway Patrol war unter dem Wegweiser befestigt. Tully nahm die Ausfahrt und rollte kurz darauf auf den CHP-Parkplatz. Dann verließ er die kühle Beengtheit des dunkelblauen Camaro und reckte sich.

Die Sommersonne brannte auf ihn nieder, als er seine Kleidung glatt strich und sich schnell mit dem Kamm durchs Haar fuhr. Erfrischend kühle Luft kam ihm entgegen, als er eintrat und sich bei der Rezeptionistin meldete.

Sie wusste, wer er war. »Wir haben uns schon gedacht, dass Sie vorbeikommen, Sheriff Tully. Ich sage Chief Ladd Bescheid, dass Sie hier sind.«

Während Tully sich noch darüber wunderte, dass man ihn »Sheriff« nannte, griff sie zum Telefon. Seine Gedanken schweiften ab – hatte er wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

»Chief Ladd wird Sie jetzt empfangen«, sagte die Rezeptionistin mit einem liebreizenden Lächeln. »Durch den Gang rechts, die erste Tür.«

Die besagte Tür öffnete sich, und ein stämmiger Mann mit ergrauendem Blondhaar trat heraus. »Kommen Sie rein, Tully.« Er streckte die Hand aus. »Howard Ladd.«

Sein Händedruck war so fest wie eine Bärenfalle, doch Tully ließ sich nichts anmerken. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Chief.«

Ladd nahm in seinem gepolsterten Schreibtischsessel Platz und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Was kann ich für Sie tun?« Er nahm eine Bruyèrepfeife in die Hand und spielte damit herum.

»Ich habe ein paar Fragen.«

Ladd steckte seine Pfeife an und musterte Tully. »Hab ich mir gedacht. Schießen Sie los.«

»Ambrose Abbott, der Bürgermeister von Eternity, hat gesagt, irgendjemand hier hätte mich ihm empfohlen.«

»Das müsste ich dann gewesen sein.«

»Und warum? Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Ich weiß von Ihnen.«

»Ich kann mich nicht daran erinnern, Ihnen meine Bewerbung geschickt zu haben.«

»Haben Sie auch nicht.« Ladd gehörte eindeutig nicht zu den geschwätzigen Typen.

Tully hatte ein gutes Dutzend Bewerbungen an verschiedene Polizeibehörden Nordkaliforniens geschickt – deswegen war nicht ausgeschlossen, dass eine solche von einer Behörde an eine andere weitergegeben worden war. Er runzelte die Stirn. »Hat Ihnen jemand eine Kopie zugänglich gemacht?«

»Nein. Von mir hat Ambrose Abbott nichts über Sie erfahren.« Ladd zündete erneut seine Pfeife an. »Er hatte Ihre Bewerbung nämlich schon. Woher, müssen Sie ihn schon selbst fragen.«

Tully nickte. Dann lehnte er sich zurück. »Mach ich. Und wie haben Sie von mir erfahren?«

»Jeder bei der Polizei hat von Ihnen gehört. Die Aufklärung der El-Niño-Morde hat Sie bekannt gemacht.« Dann fügte Ladd hinzu: »Sie haben da allerhand geleistet. Vielleicht können Sie mir bei Gelegenheit ein paar Tipps geben.«

»Klar.« Tully hielt inne. »Ich wusste gar nicht, dass der El-Niño-Fall außerhalb von L.A. Schlagzeilen gemacht hat.«

»Aber sicher. Zusammen mit dem Delmonico-Fall hat er Ihnen einen ziemlich guten Ruf eingetragen. Was die Delmonicos sich da geleistet haben, war schon ein starkes Stück. Inzest, Kannibalismus und dazwischen so ziemlich alles andere.« Ladd rieb sich das Kinn und beäugte Tully. »Sie waren der Einzige, dem es fast gelungen wäre, die Hintertür-Morde aufzuklären. Dass der Bastard Ihnen durch die Lappen gegangen ist, hat Ihnen bestimmt heftig zugesetzt.« Ladd zögerte. Offenbar fiel ihm gerade ein, wer die letzten Opfer des Mörders gewesen waren. »Wie furchtbar, seine Familie so zu verlieren. Mein Beileid.«

»Ja.« Tully rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum, dann räusperte er sich. »Ambrose Abbott sagt, der letzte Sheriff von Eternity sei bei einem tödlichen Unfall ums Leben gekommen.«

»Unfall?« Ladd schüttelte den Kopf. »Hab selten so einen guten Witz gehört.«

Tully beugte sich vor. »Was?«

»Unfall? Von wegen! Man hat Lawson abgeschlachtet.« Ladds buschige Brauen wölbten sich. »Vielleicht hat der Stadtrat geglaubt, es würde Sie abschrecken, wenn Sie die Wahrheit hören.«

»Es ist schwer vorstellbar, dass ein Stadtrat in einer solchen Sache lügt. Auf was hab ich mich da eingelassen, zum Teufel?« »Auf Eternity, mein Sohn. Sie wissen doch über Eternity Bescheid, oder?«

»Die Stadt lebt hauptsächlich vom Tourismus«, rezitierte Tully so verlegen wie ein Schuljunge. Vor seinem Ja hatte er einige Reiseführer zu Rate gezogen. So richtig wusste er über seinen neuen Arbeitsplatz eigentlich nicht Bescheid. Wie dumm von mir. Wie dumm. »Der Icehouse Mountain ist wegen seiner Ferienhotels berühmt – von den tollen Skisportmöglichkeiten ganz zu schweigen.« Tully hielt inne und gestattete sich ein leicht selbstgefälliges Grinsen. »Außerdem wohnt Bigfoot auf dem Berg.«

»Das ist noch nicht alles, Tully. Das ist noch längst nicht alles.« Howard Ladd lachte herzlich. »Da hab ich Sie wohl mit runtergelassenen Hosen erwischt, was?«

Tully atmete tief durch. »Wäre vielleicht gut, wenn Sie mir ein wenig erzählen.«

»Die sind alle irre da oben.«

»Weil sie an Bigfoot glauben?«

»Der Bigfoot-Quatsch ist nur die Spitze des Eisbergs, Tully.« Der Chief räusperte sich. »Sie werden es mit betrunkenen Touristen, hoher Kriminalitätsrate, religiösen Spinnern, New-Age-Typen und Shady Pines zu tun kriegen.« Er kicherte. »Eins steht fest: Sie werden alle Hände voll zu tun haben.«

»Shady Pines?« Tully wusste nicht, was an Schatten spendenden Kiefern so gefährlich sein sollte.

Ladds Augen glitzerten. »So heißt das örtliche Sanatorium. Da geht man mit der Sicherheit ein wenig lax um.«

»Lieber Gott.« Tully empfand einen leichten Schwindel. »Ist das etwa eine Einrichtung für kriminelle Geisteskranke?«

»Gütiger Gott, nein! Doch nicht bei dem Namen!« Ladd machte sich keine Mühe, seine Erheiterung zu verbergen. »Es ist eine Einrichtung, in der die Reichen ihre Onkel und Tanten verschwinden lassen, die sich für Napoleon und Mata Hari halten. Die Kriminellen, mit denen Sie’s zu tun kriegen, laufen da frei herum.«

»Haben Sie das mit der hohen Kriminalitätsrate ernst gemeint?«

»Und wie. Todernst.«

»Auf was für Verbrechen beziehen Sie sich? Raub? Kneipenschlägereien? Autodiebstahl?«

»Damit werden Sie’s natürlich auch zu tun haben, aber eigentlich meinte ich eher Morde.« Ladd sprach beinahe lässig, doch seine Augen wurden schmaler, und sein Blick bohrte sich in den von Tully, als erwarte er eine Reaktion.

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen!«

»Warum sind die Leute da oben Ihrer Meinung nach bereit, für ein Ass wie Sie zu blechen? Bei denen verschwinden ständig Menschen. Und viele sind tot, wenn sie wieder auftauchen.« Ladd schüttelte den Kopf. »Bei Ihrem Ruf als Ermittler, Tully, bin ich davon ausgegangen, dass Sie den Job annehmen, weil Sie eine Herausforderung suchen. Dass Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, überrascht mich.«

Tully nickte und murmelte: »Ich wollte keinen Grund haben, mir den Job selbst auszureden.«

»Nun ja, es wird Ihnen schon gefallen. Es ist genau das, was zu Ihnen passt.«

»Ermittelt Ihre Abteilung im Fall des ermordeten Sheriffs?«

»Gott, nein, wir halten uns aus Eternity County raus. Ich habe dort vor sechs Jahren einen Mann verloren – nachdem der vorletzte Sheriff ermordet wurde. Habe Jack Murphy zum Aushelfen raufgeschickt, bis Sheriff Lawson im Lande war. Er ist eines Morgens in seinen Wagen gestiegen und den Eternity Highway raufgefahren, um seine Runde zu drehen. Als er sich auf den Rückweg machte, haben seine Bremsen versagt. Mord. Es hat ihn wie einen Käfer in der Icehouse-Klamm zerschmettert. Haben Sie davon gehört?«

»Nein.«

»Ist ein bösartiger Straßenabschnitt. Auf dem Weg nach oben kommen Sie dort durch.«

»Was Murphy angeht ... Es war bestimmt kein Unfall?«

»Ganz bestimmt nicht. Die Bremsleitungen waren zerschnitten. Der Schweinehund wurde nie gefasst. Höchstwahrscheinlich wohnt der Täter dort oben. Möglicherweise werden Sie ihm die Hand schütteln, ohne es je zu erfahren.«

»Moment mal, Chief ... Neben Murphy sind da oben also zwei Sheriffs umgebracht worden? Hintereinander?«

»Ja, aber Stan Henry wurde bei einem Banküberfall erschossen. Der Täter sitzt. Außerdem arbeiten, soweit ich weiß, Ihre Deputys am Fall Lawson und an dem anderen Mord, der vor ein paar Monaten stattgefunden hat. Der Stadtrat hat verhindert, dass die Presse Wind davon kriegt. Und Abbott spielt die erste Geige. Er hat seine Schrullen, aber sonst ist er in Ordnung. Wenn Sie ihm die Zähne zeigen, wird er Sie respektieren.«

»Moment mal. Eine Sekunde.« Tully hob die Hand, als wolle er auf einer Kreuzung den Verkehr regeln. »Noch mal ein Stück zurück. Haben Sie eben gesagt, der Stadtrat hat einen Mord vertuscht?«

»So kann man es nun auch wieder nicht sagen.« Ladd schwenkte seine Pfeife. »Man hat ihn nur nicht an die große Glocke gehängt«, erklärte er. »Man hat die Sache verschwiegen. Weil sich so was negativ auf den Tourismus auswirkt.« Er hielt inne, dann fügte er fast verteidigend hinzu: »Der ist hier oben sehr wichtig. Der Tourismus ist das Lebensblut von Eternity.« Er schenkte Tully ein schiefes Grinsen.

»Erzählen Sie mir von dem Mord«, sagte Tully.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Das Opfer war ein ehemaliger Shady-Pines-Patient. Seine Familie ist ausgestorben, also hat man ihn in die Stadt entlassen. Das kommt oft vor. Die Menschen in Eternity gehen ziemlich locker mit Behinderten und Irren um. Sie päppeln sie auf und geben ihnen Arbeit, wenn sie dazu fähig sind. Ich nehme an, dass sie nichts gegen ihre Irren haben, weil die Hälfte der da oben lebenden arbeitenden Bevölkerung ohnehin nicht ganz dicht ist ...«

»Und der Mord?«, drängte Tully,

»Man hat ihn auf dem Berg gefunden – auf der Picknickwiese, wo der Wanderweg zum höchsten Punkt der Icehouse Road raufführt. Auf der Herrentoilette. Und auf der Damentoilette. Und in ein paar Mülleimern.«

»Wurden der Behinderte und der Sheriff verstümmelt?«

»Ich hab’s selbst nicht gesehen. Abbott hat zwar gesagt, der Täter wäre mit dem Behinderten schlimmer umgesprungen als mit Sheriff Lawson, aber es hörte sich so an, als wären sie an denselben Täter geraten.« Er saugte an seiner Pfeife. »Ein Serienmörder. Ihre Spezialität.«

Tully beschloss, das Thema zu wechseln. »Erzählen Sie mir was über den Stadtrat. Es klingt so, als wäre in Eternity politisch einiges los.«

»Klar. Jede Menge.« Ladd klopfte die Asche aus der Pfeife und beugte sich vor. »Wenn Sie mich fragen, vertuscht der Rat vieles. Die Lebenslänglichen halten sich gegenseitig den Rücken frei.«

»Die Lebenslänglichen?«

»So nennen sie sich. Es sind die Leute, die schon immer da gewohnt haben. Und wenn ich schon immer sage, meine ich es wörtlich. Haben Sie je vom Icehouse Circle gehört? Little Stonehenge?«

»Ist das der Platz, auf dem all die Megalithen stehen?«

»Sie sind mit diesem Hokuspokus vertraut?«

»Eigentlich nicht.«

»Tja, dann kaufen Sie sich ein Buch zum Thema oder machen eine Fahrt ins Gebirge. Ich kann der Geschichte nicht gerecht werden, weil sie der größte Scheißhaufen ist, von dem ich je gehört habe. Aber für die Lebenslänglichen ist sie das Evangelium.«

Die Gegensprechanlage summte. Ladd hob ab. »Ja, Loretta?« Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Er soll sich noch ’ne Minute gedulden.« Er legte auf. »Hab noch einen Termin.« Er stand auf. Tully tat es ihm gleich. »Es wird Ihnen da oben gut gehen, Sheriff, solange Sie den Leuten nicht in ihre Ammenmärchen reinquatschen. Wenn Sie Ihrem Ruf gerecht werden, haben Sie da oben im Nu alles im Griff.«

Tully ließ einen weiteren heftigen Händedruck über sich ergehen. »Danke.«

»Gern geschehen. Und lassen Sie sich bloß nicht umbringen.«

Eternity - Stadt der Toten

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