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Von Blumen, Goldfiguren und dem Algorithmus
ОглавлениеIn der dritten und letzten Woche des Rückenschmerz-Programms rät man mir dringend, mit einem Antidepressivum gegen Schmerz, Angst und Migräne anzugehen. Bisher hatte ich mich erfolgreich dagegen gewehrt. Medikamente haben bei mir selten nur den angestrebten Effekt. Die meisten vertrage ich nicht. Und zwar RICHTIG NICHT.
Die Chefin höchst persönlich gibt mir am vorletzten Tag des Programms – ein Donnerstag – das Rezept. Ich frage, wie es denn jetzt weitergehen soll. Sie sagt: „Krankschreiben können wir Sie wegen der Rückenschmerzen nicht weiter. Das lässt der Algorithmus nicht zu. Aber, kommen Sie einfach am Dienstag wieder, dann schreiben wir Sie auf Stimmung krank. Sie haben da so viele andere Baustellen.“
So richtig verstehe ich das nicht, aber wer gibt sich schon die Blöße und fragt, was es mit diesem Algorithmus der (Halb-)Göttin in Weiß auf sich hat? Kein schlechter Kommunikationstrick, Frau Doktor. Wenn ich ich wäre in einer Arztpraxis, hätte ich das vielleicht durchschaut und anders reagiert. Aber so … volle Lotte reingefallen.
„Jeder bekommt die Patienten, die er verdient“, erörtert die kompetent wirkende, intelligente Frau weiter. Den Punkt „persönliche Beziehung zum Patienten aufbauen“, beherrscht sie aus dem Effeff. Soll wohl sein. Immerhin ist sie unter anderem Ärztin für Psychotherapie. Da muss man den Patienten loben, seine Stärken hervorheben, um Vertrauen zu schaffen. Ein Krönchen der Intimität setzt sie unserem kleinen Gespräch auf durch den Hinweis im halb gemurmelten Nebensatz, dass ihr Vater ihr die Pubertät quasi untersagt hätte. Armes Ding, denke ich. Ich vertraue dir. Mein Fehler.
Am Freitag soll’s dann mit dem Antidepressivum losgehen. Einmal am Tag eine. Ob mit Nebenwirkungen zu rechnen sei, weil ich so vieles nicht vertrage, frage ich noch zwischen Tür und Angel. Die Ärztin mit der Udo Walz-Frisur kneift motivierend beide Augen zusammen: „Sie werden das gut vertragen“, ruft sie über den Flur und klackert festen Schrittes auf ihren Pumps davon. So positiv verstärkt nehme ich Freitag die erste (und vorerst letzte) Tablette dieser Art: Citalopram. 20 mg. Den Beipackzettel hatte ich vorsorglich meinem Mann gegeben, um mich nicht bekloppt zu machen und dem Nocebo-Effekt keine Munition zu geben. [Beim Nocebo-Effekt (in Analogie zum Placebo-Effekt) treten negative gesundheitliche Effekte nach Einnahme eines Medikamentes auf, für die es biochemisch gesehen keine Erklärung gibt. Opfer des Nocebo-Effektes bekommen häufig viele der Nebenwirkungen, die in einem Beipackzettel stehen, nur weil sie diese gelesen haben und folglich damit rechnen, diese zu bekommen].
Was dann passiert, weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich an Comic-Figuren, Karussell-Fahrten mit ägyptisch aussehenden Goldfiguren, Blumenarrangements und Nebel. Samstag Vormittag lässt der Nebel nach. Zitternd und nassgeschwitzt liege ich quer am Kopfende des Bettes, weil ich mich hier am sichersten fühle. Mehrmals übergebe ich mich und habe Durchfall. Ich erreiche die Ärztin via E-Mail. Sage, dass ich Angst habe, von diesen Tabletten noch eine zu nehmen. Sie meldet sich kurze Zeit später mit der Order, keine mehr zu nehmen. Wir sprächen Montag beim Abschlussgespräch darüber.
Sonntag Mittag kommt der Notarzt. Ich bekomme Luftnot, Krämpfe, extrem hohen Blutdruck, Todesangst, Hyperventilation, Tetanie (eine besondere Art des Muskelkrampfs). Ich kann nichts mehr sehen und ich kann nicht mehr sprechen. Mein Mann ruft den Rettungswagen, der mich kurzerhand noch mal in die Klinik bringt, in der ich die Geschichte mit dem erstickenden Herrn S. erlebt hatte.
Ich bin zu fertig, um mich dagegen zu wehren. So liege ich wieder auf einer Pritsche in der modernsten aller unserer Kliniken. Irgendwann kommt eine Ärztin zu mir. Sie telefoniert. Der Pfleger, der mich schon etwas beruhigen konnte, beginnt ihr zu erklären, was los ist. Sie unterbricht ihn und schnauzt im Oberfeldwebel-Ton in meine Richtung, was denn los sei. Hm.
„Ni amen, nischt sehn“, nuschle ich mir was zusammen, das ihr klarmachen soll, dass ich nicht richtig atmen und bis eben nicht sehen konnte. Sprechen auch nicht. Das hört sie ja, denke ich.
Ich fühle meinen Oberkiefer nicht, sehe Dinge und den Raum nur teilweise oder seltsam verschoben, höre Klingelgeräusche und habe einen komischen Widerhall im Kopf. Zu meinem ständig fiepsenden Geräusch im linken Ohr gesellt sich jetzt noch ein Klingeln auf anderer Frequenz auf dem rechten Ohr und ein beidseitiges Rauschen – etwa zehn Mal so laut. Auch meine Augen gehorchen mir wieder nicht. Ich habe das Gefühl, als ob sie pausenlos hin und herzucken.
„Sprechen Sie mal vernünftig mit mir!“, ranzt die Frau mit dem Tortenarsch im weißen Kittel mich an.
Oh, Pardon: Tortenarsch ist nicht ok. Ich formuliere es noch mal anders: … ranzt die mopsgesichtige, unförmige Frau mit den aufgequollenen Lippen und dem riesigen Tortenarsch, den ihr weißer Kittel nur zur Hälfte bedeckt, mich an.
So, jetzt passt es besser!
„Kannischadas“, quetsche ich heraus. Es ist der Versuch, ihr mitzuteilen, dass ich nicht anders kann; dass genau DAS Teil meines Problems ist. Der Pfleger erklärt, dass ich wohl das neu verordnete Citalopram nicht vertragen habe. „Ach, soooo“, sagt sie genervt und verdreht die Augen. Wieder so’n Psychopharmaka-Junkie, denkt sie garantiert. „Was nehmen sie sonst noch?“, fragt sie ungeduldig.
Ich schüttle den Kopf. Sie versteht alles vollkommen falsch. „Nichts, nur eine Tablette“, will ich antworten, aber es kommt nur „Nisnu eine Tamnette“ raus - ‚Du dummes Stück Scheiße‘, ergänze ich in astreinem Hochdeutsch, allerdings nur in Gedanken.
Für sie ist das Thema damit erledigt. Die kriegt noch ein Glas Magnesiumbrause und dann ab nach Hause mit der hysterischen Psycho-Else, denkt die sich. Wetten?!
Ja, ich höre die Stimmen des omnipotenten, jungfrischdynamischen oder bodenständig-eloquenten Lesers, der sich sofort irgendwo beschwert hätte und/oder ihr direkt ins Gesicht gesagt hätte, das das so nicht geht. Es sei euch versichert: So einfach ist das nicht. Nicht für jemanden wie mich. Wenn ich nicht durch die Migräne ausgeknockt bin, falle ich in diesen Konflikt-Situationen vor allem bei Ärzten in eine Art Kaninchenstarre. Schalte ab. Bin wer weiß wo. Dissoziiere, wie ich später lerne. Das kann ich nicht kontrollieren. Es ist eine innere Überlebensstrategie der traumatisierten Seele, die alles tut, um nicht noch mal das Unaushaltbare eines Traumas mitzuerleben. Da wird dann einfach weggeschaltet. Zack und weg.
Deshalb weiß ich auch nicht mehr genau, wie es danach weitergeht. Mein Mann kommt offenbar irgendwann rein und ein paar Stunden später verlassen wir die Notaufnahme mit einem Entlassungsbrief, der rekordverdächtige 14 Rechtschreibfehler in sieben Zeilen aufweist:
„Vorgeschischte der Pat. Wurde als bekannt vorausgesetzt […] Rückatmung in der Tütte erfolgt“ [Originalzitat]
Und DIE sagt MIR, ich soll vernünftig sprechen … Ich glaub‘ das alles nicht. Als Empfehlung schreibt das weißbekittelte Rechtschreib-Ass: „Weiterbehandlung durch den Psychiater.“
Das ist ein guter Rat. Im Grunde bin ich reif für die Klapse. Und der Tortenarsch eigentlich für eine Beschwerde bei der Ärztekammer. Dafür bin ich aber zu fertig.
Zu Hause angekommen bin ich froh, dass ich noch lebe. Selbst mit etwas Abstand kann ich sagen: Diese Dame hat eindeutig den Beruf verfehlt. Ihr wird es wahrscheinlich nicht mal bewusst sein, aber sie stellt eine Gefahr für Leib und Leben der Leute dar, die das Pech haben, auf einer ihrer Pritschen zu liegen. Nicht nur, dass neurologische Ausfälle abgeklärt gehören, auch die mittelbaren psychischen Spätfolgen solchen Verhaltens scheinen ihr entweder entgangen oder scheißegal zu sein. Vielleicht will sie damit auch auf ganz subtile Art dafür sorgen, dass man „ihre“ Notaufnahme nicht mehr aufsucht – auch im Notfall nicht.
Und damit kommen wir zum eigentlich noch interessanteren Teil dieser Demonstration persönlichen Unvermögens, und zwar in Klartext: Wenn ich als Arzt zu einem Menschen, der aufgrund eines noch nicht näher geklärten Anfalls Sprachstörungen hat, sage, er solle ‚mal vernünftig sprechen‘, dann ist das in etwa so, als würde ich zu einem Menschen mit dunkel pigmentierter Haut sagen: Wasch‘ Dir mal Dein Gesicht, Alter! Das KANN der Mensch dann lustig finden – MUSS er aber nicht.
Bei entsprechend psychisch vorbelasteten Menschen kann ein solches Verhalten sowohl Trauma-Trigger sein, als auch dazu führen, dass er im Notfall keine ärztliche Hilfe mehr in Anspruch nimmt. Das KANN dann gut ausgehen – MUSS aber nicht.
Im Falle Tortenarsch kann ich nur sagen: Man sieht sich immer zwei Mal im Leben und den Rest regelt Karma.