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„Weißkittelhypertonie“: dem Trauma auf der Spur

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Am vorletzten Morgen in der Klinik habe ich ein Schlüsselerlebnis: Seit ich denken kann, habe ich panische Angst vorm Blutdruckmessen. Allerdings nur beim Arzt oder wenn jemand zuschaut. Unwillkürlich höre ich auf zu atmen. Will nur, dass es schnell vorbei ist. Regelrechte Panik habe ich, wenn die Manschette um meinen Arm gelegt und langsam enger wird. Außerdem tut es wahnsinnig weh und hinterlässt blaue Flecken auf meinen Oberarmen. Wie hoch die Werte in dieser Paniksituation sind, kann man sich vorstellen.

Sämtliche Langzeitmessungen, Eigenmessungen mit geeichten Geräten und Messungen von Vertrauenspersonen zeigen normale Werte (außer eben in Paniksituationen). Heute weiß ich, dass es sogar Fachausdrücke für meine Probleme gibt: „Weißkittelhypertonie“ (Bluthochdruck beim Arzt) und Iatrophobie (Arztangst). Doch, woher kommt so etwas?

Auf die Spur der möglichen Ursache bringt mich der Anästhesie-Pfleger Stefan bei den Vorbereitungen für eine Magenspiegelung. Hier im Krankenhaus könne man sich doch auch gleich mal meinen Magen ansehen, der mich seit Monaten ärgert und den ich auf Anraten des TCM-Internisten dauerhaft mit Protonenpumpenhemmern (Magensäureblockern) ruhigstellen soll, fand der Neurologe. So lag ich jetzt in meinem kurzen OP-Hemd auf der Spiegelungspritsche und scherzte mit Stefan über Propofol und Michael Jackson. Ich weise noch fröhlich darauf hin, dass ich am gleichen Tag Geburtstag habe wie der King of Pop. Der soll ja die „Schlafmilch“, wie Pfleger Stefan das Narkosemittel nennt, von seinem verantwortungslosen Arzt bekommen haben, weil er das Entspannungsgefühl beim Wirkungseintritt so toll fand. Die Stimmung ist gelöst - bis er mit der Blutdruck-Manschette ankommt. Ich krieg‘ den „irren Blick“, sage, dass ich Angst vorm Blutdruckmessen habe und lieber am offenen Herzen operiert werden würde als das jetzt mitmachen zu müssen.

Anstatt mich zu belächeln und mit einem „Ach, was!“ loszulegen, wie die meisten Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte vor ihm, sagt er: „Das ist ja interessant. Hab‘ ich ja noch nie gehört. Haben Sie denn mehr Angst vor dem Messen oder mehr Angst vor dem Ergebnis?“

Gute Frage, Pfleger Stefan!

„Ich weiß gar nicht“, sage ich, behalte die Frage aber im Hinterkopf und hoffe, dass ich mich nach der Narkose noch daran erinnere. „Das Ergebnis ist natürlich immer zu hoch. Hab‘ ja Panik. Dann fühl‘ ich mich falsch verurteilt und doof. Irrational, ich weiß“, schwadroniere ich vor lauter Angst weiter. Der Doc kommt dazu. Ich will mich nicht anstellen und cool sein - klappt aber nicht. Ich fange an zu zittern und zu weinen. Jetzt habe ich noch mehr Angst. Vor der Reaktion des Arztes. Der guckt verwundert zu Pfleger Stefan herüber. Dieser erklärt sachlich:

„Sie hat Angst vorm Blutdruckmessen.“ Oberpeinlich!

„Ach“, sagt der Doc (jetzt kommt’s wieder, denke ich).

„Dann machen wir Ihnen das einfach gleich um, wenn Sie schlafen.“

Thema durch. Ich bin etwas verdutzt, aber sofort maximal entspannt. Auch ohne Propofol. Wenn doch nur alles so einfach wäre. Als ich wieder wach werde, habe ich noch die Manschette um den Arm. Pfleger Stefan sitzt neben mir an einem Tisch und sortiert Unterlagen. Als er merkt, dass ich wach bin, zwinkert er mir zu: „Na, da sind sie ja wieder. Blutdruck is‘ noch’n bisschen niedrig, aber sonst is‘ alles ok.“ Niedrig, wundere ich mich. Aber ein Wunder ist es ja nicht. Schließlich hat mich die Schlafmilch direkt vom Arztkontakt ins Neverland verfrachtet.

Mittlerweile weiß ich, dass meine Blutdruck-Mess-Angst mit meiner komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (komplexe PTBS) zusammenhängt. Es ist nichts anderes, als die Angst, Inneres preiszugeben, Befindlichkeiten zu äußern und Bedürfnisse zu haben. Jahrzehnte lang wurde ich von meinen Eltern (teilweise mit physischer aber vor allem mit psychischer Gewalt) bestens darauf trainiert und konditioniert, alles, was meine Bedürfnisse oder emotionalen Anteile angeht, zu verdrängen, abzuspalten oder zu verleugnen.

Das Blutdruckmessen zwingt mich nun, mein Inneres (meine Aufregung und Angst) offensichtlich werden zu lassen. Davor habe ich panische Angst, weil mein kindliches Ich gelernt hatte, dass es existenziell wichtig ist, die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse nicht zu zeigen, nicht zu äußern, besser noch: gar nicht erst zu fühlen. Mein Körper erwartet in solchen Situationen das, was er in früher Kindheit kennengelernt hatte: Schmerz und Ablehnung. Er reagiert naturgemäß ängstlich darauf. Hinzu kamen weitere traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit medizinischen Einrichtungen und Ärzten. Mehrmals passierten in Behandlungsszenarien sogenannte Retraumatisierungen, die das Ursprungstrauma in meinem Körper und meiner Seele zementierten. Für jemanden, der ärztliche Hilfe benötigt, ist das natürlich eine doofe Kombi … ganz doof …

Heul ruhig

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