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„Diagnose: Psychose – mir doch egal …“

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Beim und nach dem Essen bekomme ich Schmerzen hinter dem Brustbein, Herzstolpern, Beklemmungsgefühle, Luftnot und Schweißausbrüche. Danach: Panik. Kurze Zeit später: Durchfall.

Manchmal ist mir so schlecht und schwindlig, dass ich mich kaum bewegen kann und stolpere oder fast hinfalle. Das ist immer nach ungefähr einer halben Stunde vorbei. Dazu diese Scheißkopfschmerzen (fühlt sich aber nicht an wie Migräne – das kenn‘ ich ja von Kindheit an) und täglich Höllen-Nackenschmerzen.

Irgendwann ist der Druck groß genug, dass ich zum Arzt gehe. Ein Internist, der laut Türschild unter anderem Experte für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ist und sich bisher um meinen Schwiegervater in spe und seinen Diabetes kümmerte. Ich war noch nicht bei ihm – bin ja gerade erst hierhergezogen.

Der Arzt lächelt freundlich, als er das Behandlungszimmer betritt und fragt, worum es geht. Ich beschreibe meine Beschwerden.

Er unterbricht mich nach zwei Sätzen und fragt mich, wie groß ich bin und wie viel ich wiege.

„1,67 – 106“, sage ich.

„Stress?“, fragt er.

„Geht eigentlich im Moment“, entgegne ich.

Ob ich verheiratet bin, will er wissen.

„Ja, in 2. Ehe. Glücklich“, erkläre ich lächelnd.

„Kinder?“

„Ja, ein Sohn. Aus erster Ehe.“

„Aha“, murmelt er mit hintenraus geschwungenem Haaa. „Wie versteht sich Ihr Mann mit dem Kind?“

„Super“, antworte ich wahrheitsgemäß.

„Ach, wirklich?“, scheint sich der Ü60-er zu wundern.

„Ja … ?“ (Seinen komischen Unterton überhöre ich.)

„Besteht noch Kontakt zum Kindsvater?“, setzt er nach, während er mit weit schwingenden Handbewegungen in das für mich erstellte, noch jungfräuliche Patientenblatt kritzelt.

„Ja“, bestätige ich.

„Wie läuft das?“, fragt er.

Ich hingegen frage mich langsam, was der von mir will und sage knapp: „Ganz gut mittlerweile.“

„Hmhm“, murmelt er wieder und kritzelt weiter.

„Ich war ja wegen dieser Anfälle gekommen und dem Nacken“, versuche ich das Gespräch in die richtige Richtung zu schubsen.

„Alles psychosomatisch“, sagt der Arzt jetzt und legt seinen Kugelschreiber hin.

„Äh …“ – Ich bin verwirrt.

„Und ihr Gewicht … sss“ – er zieht Luft zwischen den Zähnen ein.

„Ähm …“, formuliere ich noch mal anders.

„Gucken wir mal, was der Blutdruck sagt“, spricht’s und greift zur Manschette.

Mein Stichwort.

Ich verstumme. Verharre. Schalte mich innerlich weg. Panik. Kaninchenstarre.

Die Manschette bläst sich auf. Schmerz. Er misst.

„Viel zu hoch!“, stellt er fest.

„Ich hab‘ Angst vorm Blutdruckmessen“, sage ich mit zittriger Stimme.

„Sag‘ ich doch: Alles psychosomatisch.“

Meine Verwirrung wird größer. Teile von mir bleiben im Panikmodus. Trotzdem frage ich: „Und was heißt das jetzt?“

„Sie müssen abnehmen. Ihr Blutdruck ist zu hoch.“

„Nein, ich meine, wenn meine Anfälle psychosomatisch sind, was mache ich jetzt dagegen?“

„Gehen Sie spazieren. Erst 15 dann 30 Minuten am Tag.“

„Das mach‘ ich schon, jeden Tag mit dem Hund“, erkläre ich.

Er lächelt milde.

„Und der Nacken?“, setze ich noch mal an.

„Jetzt gucken wir erst mal wegen dem Blutdruck.“

Hm, ich habe nicht den Eindruck, dass von ihm noch was kommt. „Wenn das alles psychisch bedingt ist, wäre dann eine Psychotherapie nicht besser?“, überwinde ich mich. Ich bin keiner, der meint, „anne Psyche“ - wie man bei uns im Ruhrpott sagt - hätten nur Spinner. Als studierter Pädagoge und Soziologe weiß ich natürlich, dass psychische Erkrankungen ernstzunehmen und keineswegs was für gestrandete Weicheier sind. Das einzugestehen und die Möglichkeit, dass ich selbst einen an der Klatsche hab', ernsthaft in Erwägung zu ziehen, fühlt sich dennoch irgendwie komisch an.

„Äh, ja, vielleicht … aber da kenn‘ ich jetzt keinen, der … da müssen Sie selber mal gucken …“, stammelt der Arzt.

„Brauche ich dafür ein Rezept?“, frage ich ihn – er sollte das wissen.

„Das kann ich Ihnen geben.“

„Ja, bitte.“

Ich wanke aus der Praxis. Versuche die Chronologien und das Gesagte zu sortieren.

Auf dem Rezept, das in Wirklichkeit eine Überweisung an den Psychotherapeuten ist, steht „gesichert Burnout.“ WTF?

Zu Hause fange ich an, mich durch die Psychotherapeuten-Praxen der Umgebung zu telefonieren. Allein DAS ist schon eine Herausforderung für mich.

„Telefonieren“ und „Arzt“ (im weitesten Sinne) sind gleich zwei Minenfelder, auf die ich mich nur äußerst ungern begebe. Telefonieren, weil ich wegen des lauten Fiepsens in meinem linken Ohr, das umso lauter wird, je nervöser ich bin, ganz schlecht verstehe, bzw. Angst davor habe, plötzlich gar nicht mehr zu verstehen und als Idiot dazustehen.

Arzt: sowieso und überhaupt. Ärzte sind mir ein Graus. Ich gehe dort nur hin, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.

Zwei der angerufenen Psycho-Praxen nehmen keine neuen Patienten mehr an, zwei haben einen Anrufbeantworter, auf dem ich nach dem zweiten Anlauf jeweils eine Nachricht hinterlasse. In einer bietet mir die schnippische Tante am anderen Ende der Leitung an, mich auf die Warteliste zu setzen. Da fühlt man sich doch gleich richtig abgeholt …

„Und wie lange dauert das dann ungefähr?“, frage ich.

„Da müssen sie zurzeit mit 7 bis 8 Monaten rechnen“, nölt es aus dem Hörer.

„Äh, ok, das ist lang. Aber kann ich denn die Therapeutin vorher nicht wenigstens mal kurz kennenlernen? Ich weiß doch gar nicht, ob das mit uns funktioniert“, möchte ich wissen.

„Nein, das sehen sie dann bei ihrem ersten Termin“, entgegnet sie.

„OK. Dann Warteliste“, seufze ich.

Besser als nie, denke ich. Nach dem Telefongespräch schaue ich auf den Kalender. Jetzt ist es Februar. Ich mach’s mir auf der Warteliste gemütlich.

Abends bekomme ich wieder einen dieser Schwindelanfälle.

Kein Problem, rede ich mir ein. Ist ja alles nur psychosomatisch und schon in acht Monaten kann ich anfangen, dagegen etwas zu tun … beste Aussichten …

(Kleine Anmerkung zur Kapitelüberschrift: Natürlich weiß ich, dass es einen Unterschied zwischen psychotischem und psychosomatischem Krankheitsgeschehen gibt. Aber Texte von Deichkind sind Leider geil.)

Heul ruhig

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