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Strike … äh Stroke Unit
ОглавлениеAn einem Mittwoch in der vierten Woche meines Wiedereingliederungsversuches bin ich mit meiner Gastritis und den Nackenschmerzen alleine im Büro. Ich genieße das. Trotz der dummen Göre von Kollegin mache ich den Job hier eigentlich immer noch gerne. Mit dem ganzen Drumherum hier habe ich mich nach fast 13 Jahren innerem und äußerem Kampf abgefunden. Wo andere noch zetern, bin ich längst tiefenentspannt. Wenn es etwas gibt, wie die berufsbezogene Erleuchtung: hab' ich.
Jetzt mache ich das Radio an und gönne mir ein Milchbrötchen. Plötzlich wird mir irgendwie komisch.
Ich stehe auf, um ein paar Nacken und Schulterübungen zu machen. Meine Arme und Beine kribbeln und ich sacke zwischen Tischplatte und Drehstuhl zusammen. Das ist das Letzte, was ich von meiner aktiven Berufstätigkeit klar in Erinnerung habe.
Irgendwie gelingt es mir, mit dem Auto (was natürlich komplett unverantwortlich ist) im Schneckentempo zur Praxis meines neuen Hausarztes, den mir mein Psychotherapeut empfohlen hat, zu fahren. Ich kann weder vernünftig sprechen, noch richtig sehen oder koordiniert laufen. Dabei habe ich Höllenschmerzen im (Hinter-)Kopf. Mit diesen Symptomen schleppe ich mich wie ein angeschossener Robocop stammelnd und maximal panisch in die Praxis.
Keine zehn Minuten später liege ich auf einer Pritsche im Rettungswagen. Ziel: Neurologie. Verdacht auf Hirninfarkt. Meine chronologisch korrekte Erinnerung setzt wieder ein als ein netter, sehr souverän wirkender Doktor ohne Haupthaar im Krankenhaus die Koordination meiner Arme und Beine checkt.
„Nicht hundertprozentig, aber schon besser als vorhin“, sagt er. Er muss mich also schon früher irgendwo gesehen haben. Ich hingegen kann mich nicht an ihn erinnern. Meine Oberlippe und obere Wangenpartie ist taub. Deshalb kann ich nur nuscheln: „Waschischmimi?“, frage ich (gemeint war: Was ist mit mir?).
Er tätschelt mein Knie: „Ich tippe auf Basilarismigräne, aber wir gehen auf Nummer Sicher.“
„Nummer Sicher“ heißt: Intensivstation – Stroke Unit. Vollverkabelung, Heparin-Tropf. Ich stehe bzw. liege ab jetzt irgendwie neben mir. Alles passiert wie im Film, den ich nur stumm beobachte. Immerhin funktionieren die Augen wieder fast einwandfrei.
In dieser Nacht schlafe ich nicht. Die Stroke Unit befindet sich unterm Dach des alten Klinik-Gemäuers. Draußen stürmt und gewittert es. Durch die drei quadratischen Fenster hab‘ ich ’nen tollen Panoramablick in die von Blitz und Donner verquirlten Wolken. Überall pfeift der Wind durchs Gebälk. Die Schiebetür zum Nachbarzimmer schlägt in den Führungsschienen hin und her. Ich stelle mir vor, ich wäre auf der Pequod, dem Schiff, auf dem Kapitän Ahab hinter Moby Dick, dem weißen Wal, herjagt. In Herman Melvilles Roman geht das Schiff unter … alle saufen ab - bis auf einen: Ismael. Der will ich sein.
Am nächsten Morgen geht es weiter mit diversen Untersuchungen: EEG, Blutuntersuchung, Herzlabor und Langzeit EKG. Danach darf ich mit einer Dauer-Heparin-Infusion auf ein normales Zimmer.
Wer schon mal auf der Neurologie lag, stellt schnell fest, dass hier die Uhren anders ticken. Ein Universum für sich, denn hier treffen sie sich: die Grenzfälle menschlichen Bewusstseins. Ich bin mittendrin. Genauso grenzwertig bewusst unterwegs wie alle anderen.
Nach meinem Debüt in der Stroke Unit letzte Woche liege ich jetzt seit vier Tagen mit meinem Höllen-Schwindel auf Zimmer Nr. 6 mit Linda und Michaela. Linda hat Epilepsie und diverse psychische Probleme. Zwischen uns liegt völlig apathisch Michaela: eine altersmäßig schwer schätzbare Patientin mit Downsyndrom, die zwar nicht sprechen, aber sehr laut brummen kann.
Rund um die Uhr stößt sie unvermittelt Schreie aus, die sich anhören wie ein balzender Pfau. Ich rede mit ihr, wenn sie Pfauenlaute macht. Sage ihr, dass alles gut ist. Beruhige damit in Wirklichkeit mich selbst. Ich habe keine Ahnung, ob Michaela mich versteht. Auf jeden Fall sieht sie mich an, hört auf zu schreien und brummt wieder. Manchmal lächelt sie, wenn ich mit meinem grünen Plüsch-Frosch, den mir mein Sohn zur Unterstützung mit ins Krankenhaus gegeben hat, ihr rosa Frottee-Schaf anstupse und dabei „Hallo“ sage. Ich mag Michaela, aber unsere Beziehung wäre schöner, wenn sie leiser wäre – oder ich taub.
Wenn Linda nicht gerade in einem seltsam weggetretenen Zustand ist (liegt an den Medikamenten, sagt sie), kann man sich sehr gut mit ihr unterhalten. Sie ist gebildet, witzig und lebenserfahren. Ich erschrecke ein bisschen, als sie mir erzählt, dass sie sich selbst unter Betreuung stellen lassen möchte. Sie kriegt nichts mehr geregelt und hat niemanden, der ihr helfen kann, sagt sie. Mehrmals. Ohne jede erkennbare Gefühlsregung. Liegt auch an den Medikamenten, denke ich. Nicht mal Wechselklamotten bringt ihr jemand vorbei. Von ihr höre ich zum ersten Mal von einem Medikament namens Topiramat. Sie warnt mich eindringlich davor. Das hätte sie total kaputtgemacht. Ihre Warnung vergesse ich nicht.
Nachdem sie mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt hat, bin ich mir sicher: Wenn ich mich nicht sehr schnell und sehr gewissenhaft um meine Probleme kümmere, wird genau DAS meine Zukunft sein: weitere Medikamenten-Experimente, psychiatrische Einrichtungen, kompletter Autonomie-Verlust, totaler Zusammenbruch: Good bye Familie.
Nach meinem ersten längeren Gespräch mit Linda hatte ich meinen Psychotherapeuten angerufen und ihm meine Lage und die damit verbundenen Sorgen geschildert. Er beruhigt mich. Ich hätte genug Werkzeug, um jetzt hier im Krankenhaus erst mal klarzukommen, und dann würden wir weiter schauen. Ich verlasse mich auf seine Einschätzung und gehe stoisch meine Übungen und Werkzeuge durch: Akupunktur-Ring zur Fokusumlenkung bei aufsteigender Angst, Pika-Pika-Atmung, Hypnose-App, Schmetterlingsumarmung, breitbeiniger Gang bei Unruhe. Hier falle ich damit sowieso nicht unangenehm auf. Unbestaunt gehe ich sechs Mal täglich die Treppen hoch und runter und zwanzig Mal den Gang auf und ab, um meine Venenklappen und mein Gleichgewichtsorgan nicht ganz zu vernachlässigen.