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Roboter mit Senf – Neulich in der Notaufnahme
ОглавлениеMit einem Anfall ungeklärter Ursache lande ich wenig später in der modernsten Notaufnahme unserer Stadt. Mit dabei: ein Sammelsurium aus beängstigenden Sinneswahrnehmungen und – ausfällen, extremem Schwindel, Ohrgeräuschen, Bein-Lahmheit, Koordinierungsstörungen und Todesangst.
Ich erinnere mich schemenhaft daran, wie ich auf ein schmales Bett, eher eine Liege, verfrachtet werden. Das Erste, was ich wieder relativ klar und deutlich höre und sehe, ist eine dunkelhaarige Schwester: „Blutdruck is‘ Scheiße!“, sagt sie und sprüht mir etwas in den Mund. Nitro-Spray. Bei einem Blutdruck von 190 zu 130 eine gute Idee.
Sofort spüre ich einen ekelhaften Druck im Hinterkopf. Es ist, als ob das Gehirn sich plötzlich aufbläst. Ich will etwas sagen – es kommt aber nichts raus. Zwischen meiner Oberlippe und den Augen spüre ich nichts. Ich rechne fest damit, jetzt gleich zu sterben. Die Schwester geht raus. Ich rufe um Hilfe: ‚Lasst mich nicht alleine!‘ - Dabei gebe ich keinen Ton von mir. Meine Stimme ist nur in meinem Kopf.
Die Tür geht auf. Zwei Feuerwehrmänner kommen rein. ‚Krass‘, denke ich, ‚Telepathie!‘
Die beiden sind aber nicht wegen mir hier, sondern bringen Herrn S. auf einer Roll-Pritsche. Er atmet schwer und pfeifend. ‚Helft ihm doch!‘, schreie ich – wieder ohne, dass etwas zu hören ist. Immer wieder drehen sich meine Augen von selber irgendwohin. Ich kann nicht fokussieren, was mit Herrn S. passiert. Ich höre, wie er röchelt. „Ganz ruhig, Herr S. – es kommt gleich jemand“, sagt eine männliche Stimme, die wohl zu einem der Feuerwehrmänner gehört. Herr S. wird lauter. Kämpft um jeden Atemzug. ‚Der hält nicht mehr lange durch, Mann!‘, denke ich. Jetzt hab‘ ich Angst um Herrn S. und davor, dass ich gleich mitkriege, wie jemand stirbt noch bevor ich selbst sterbe.
Drei Weißbekittelte kommen rein. Hantieren an Herrn S. rum. „So, jetzt wird’s gleich besser, Herr S.“, sagt ein dunkelhaariger Arzt. Ich sehe nicht, was sie mit dem offenbar älteren Herrn machen. Ganz langsam wird Herr S. ruhiger. Atmet wieder rhythmischer, wenn auch immer noch pfeifend. Dann sind wieder alle verschwunden. Bis auf einen der Feuerwehrmänner, der irgendwelche Zettel ausfüllt.
Ich singe in Gedanken ein Lied von dem leider viel zu früh verstorbenen Kazim Akboga, um mich zu beruhigen: „is‘ mir egaaal‘, egaaal‘, is‘ mir egaaal, egaal‘“ und weiter: ‚Roboter mit‘ „Seeeeenf“ … is‘ mir egaaal’– Ups! Hatte ich Senf jetzt laut gesagt?! Der Feuerwehrmann guckt mich an: „Ham‘ Sie was gesagt?“
„ANST“, nuschle‘ ich. Wie peinlich.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, wird schon alles gut. Der Doktor kommt auch gleich zu Ihnen“, beruhigt mich der Lebensretter und geht raus. Ich versuche ein Lächeln. Wird nix.
‚Die sollen sich auch mal lieber um Herrn S. kümmern, dem geht’s echt nich‘ gut‘, denke ich, als eine blonde langsam welkende Schönheit mit Arschgeweih und String-Tanga, Kaugummi kauend ins Zimmer schlendert.
„Pinkeln“, röchelt Herr S. – das Ganze ist ihm wohl auf die Blase geschlagen.
„Jetzt nicht“, patzt die Blonde ihn an und geht wieder raus. „Pinkeln, bitte.“ Herr S. kann von seinem Bett aus nicht sehen, dass die Else wieder verschwunden ist. Ich will was sagen, klappt aber nicht. Meine Augen machen ebenfalls immer noch, was sie wollen. Die Zeit vergeht. Zwei Mal startet der automatische Blutdruckmesser an meinem Arm, also schätzungsweise 30 Minuten später, kommt mein Mann ins Zimmer. Jetzt wird alles gut, denke ich.
„Pippppi!“, sag‘ ich zur Begrüßung und will auf Herrn S. zeigen, was aufgrund meiner lahmen Arme nicht funktioniert.
„Musst du Pipi?“, fragt mein Mann ruhig und lächelt mich glücklich an. Mit seltsamen Äußerungen seiner Gattin zu unmöglichen Zeitpunkten kennt er sich aus - das schockt ihn also nicht. Außerdem freut er sich offenbar, dass ich überhaupt noch was sage.
„Nein. Daaaa“, stammle ich und zucke mit dem Arm in Richtung Nachbarpritsche zu Herrn S. Das Sprechen wird langsam besser. „Er muss mal. Schwesserolen.“ Mein Mann versteht, und verspricht jemanden zu holen. Er geht schnellen Schrittes raus. Eine Minute später kommt die Blonde wieder rein. Hantiert an Herrn S. rum. „Pinkeln. Schnell. BITTE!“, röchelt Herr S..
Jetzt wird sie ja wohl, denke ich.
„Jetzt nich‘, hab‘ ich gesagt“, motzt sie genervt und geht wieder raus. Nach weiteren Minuten höre ich ein Plätschern. Dann ein Schluchzen. Herr S. weint. Er konnte nicht mehr.
Die Tür geht auf. Ich sehe meinen Mann, eine andere Schwester und eine Pinkelflasche. Zu spät, denke ich. Die Blonde kommt dazu. Stöhnt laut auf: „Och, nööööh“, ranzt sie in Richtung von Herrn S. und rupft ein paar grüne Tücher aus einem Spender neben der Tür, um damit die sich langsam ausbreitende Pfütze unter der Liege des alten Mannes aufzusaugen.
Ich bin so wütend, dass meine Lebensgeister der Angst jetzt zeigen, wo Bartel den Most holt. In diesem Moment entscheide ich, dass diese blonde Ziege garantiert nicht das Letzte ist, was ich auf dieser Erde sehe. „So nicht, Frollein, jetzt wird nicht gestorben“, stutze ich mich innerlich zurecht. Nach und nach komm‘ ich wieder bei. Die Wut hilft mir dabei, so gut sie kann. Nachdem sich auch mein Blutdruck beruhigt hat und weder EKG noch Blutwerte Grund zur Besorgnis geben, bin ich nach ein paar Stunden wieder zu Hause. An Herrn S. denke ich manchmal heute noch. Ich frage mich, ob er noch lebt. Leider bleibt es nicht bei einem Besuch in dieser Notaufnahme …