Читать книгу Heul ruhig - Tanja Götten - Страница 20
Oh, Du Fröhliche
ОглавлениеKurz vor Weihnachten, ein paar Tage nach meiner Entlassung und etwa zwei Monate, nachdem ich aus der Wiedereingliederung auf der Intensivstation gelandet war, bekundet mein Arbeitgeber doch noch Interesse an mir. Bisher hatte sich niemand nach meinem Befinden erkundigt.
Dann scheinen die ja mitgekriegt zu haben, dass ich noch lebe, denke ich. Per Einschreiben teilt man mir mit, dass man mit mir über meine Zukunftsperspektiven im Unternehmen sprechen möchte. Wie schön, denke ich. Dass ich nach dem Verdacht auf Hirninfarkt (von dem zumindest zwei der Kolleginnen wussten) noch sprechen oder laufen kann, wird vorausgesetzt. Details zu meinem Befinden scheinen niemanden zu interessieren.
Wenn ich aus gesundheitlichen Gründen nicht erscheinen könne, müsse ich dies durch ein zusätzliches ärztliches Attest belegen, schreibt die Sachbearbeiterin Fehlzeitenmanagement. (War sie nicht früher Justiziarin und Leiterin von irgendwas? Hatte sie mir nicht höchst selbst bei ihrem Einstieg ins Unternehmen gar das Du angeboten? Als sie den Leiterposten übernommen hatte, wechselte sie wieder zum Sie. Ich machte mit, weil ich keine Konflikte wollte).
Ich schreibe ihr zurück, dass mich ihr Interesse an mir und meinem Zustand freut, ich aber leider nicht kommen kann, da ich mich von einer OP erhole. Ein ärztliches Attest läge in Form meiner Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, ich wäre aber gerne jederzeit bereit, telefonisch über ihr Anliegen zu sprechen. Ihr und ihrer Familie wünsche ich ebenfalls eine besinnliche Vorweihnachtszeit. Sie hatte das im Eifer des Gefechts wohl schlicht vergessen, kann ja mal passieren …
Sonst war sie doch immer so nett. Um so irritierter bin ich, dass die mir immer freundlich ins Gesicht lächelnde, verbindlich tuende Dame nicht einfach mal den Telefonhörer oder die PC-Tastatur in die Hand nimmt, um (zumindest vorab) mal mit mir Kontakt aufzunehmen. Schließlich sind wir doch so was wie eine große Familie in unserem Unternehmen, in dem soziale Verantwortung großgeschrieben wird.
In einem weiteren Schreiben beharrt sie stattdessen weiter auf ihrer Meinung, dass ich verpflichtet sei, ein Extra-Attest beizubringen. Droht mit Sanktionen im Falle des Nichtbefolgens.
So kommen wir nicht weiter. Mit geht’s beschissen, ich kann kaum laufen, ernähre mich von Kleinstmengen Babybrei und weich gekochten Buchstabennudeln und habe null Energie, mir jetzt noch so was reinzuziehen.
Das längst überfällige geschieht: Ich überwinde und wende mich an eine Rechtsanwältin. Sie klärt daraufhin den Vorgesetzten der Sachbearbeiterin schriftlich über die Rechtslage auf und teilt mit, dass ich gerne bereit sei, nach Gesundung an einem Gespräch teilzunehmen, das den rechtlichen Anforderungen genüge und weiterhin für eine telefonische Kontaktaufnahme mit dem Personalverantwortlichen zur Verfügung stehe. Sie bittet mithin um Rücksichtnahme und verweist auf den mir vom Gesetzgeber eingeräumten Freiraum, um mich um meine Gesundung zu kümmern.
Auch meinen zuständigen Betriebsrat informiere ich über die Sachlage. Der war nämlich ein bisschen verwundert ob meiner freundlichen, aber deutlich subtil-missmutigen E-Mail-Antwort auf die „Einladung“.
Sein Kommentar dazu: „Das machen wir doch immer so.“ Wenn das nicht alles so traurig wäre und meine Eingeweide schon verheilt wären, könnte ich mich biegen vor Lachen.
Danach höre ich nichts mehr. Von niemandem aus der Firma, in der ich mir 13 Jahre den dicken Arsch aufgerissen habe und für einen Witzlohn mein Fachwissen eingesetzt habe, mit dem andere sich die Lorbeeren verdient haben. Na ja, so ist das halt, wenn man nicht gelernt hat, sich seinem Wert entsprechend zu verkaufen und stets bemüht war, alles besonders gut und richtig zu machen.
Die OP löst in den nächsten Monaten leider nur einen Teil meiner Probleme. Andere kommen hinzu oder verschlimmern sich.
Etwa ein halbes Jahr nach der Gesprächseinladung nimmt meine neue Führungskraft, die nach Umorganisation nun für mich zuständig ist, per Mail wieder Kontakt mit mir auf. Es folgt ein beruhigend normales Telefon-Gespräch, in dem ich diverse Dinge aus meiner Perspektive schildere. Der neue Chef ist zumindest geübt in Grundanstand und sachlich-neutraler Gesprächsführung. Immerhin. Er sichert mir zu, dass ich von ihm nichts anderes zu erwarten habe. Ich glaube ihm. Ein bisschen freue ich mich sogar über den Anruf.
Was ich von den anderen Leuten in meinem Arbeitsumfeld und im Allgemeinen zu erwarten habe, ist mir in jeder nur erdenklichen Hinsicht eindrucksvoll vor Augen geführt worden. Aber ich versuche, die Verletzungen und Enttäuschungen, die ich durch das Verhalten der sogenannten Kollegen erfahren habe, für mich zu nutzen. Sie helfen mir beim Thema Abgrenzung. Das ist eines meiner größten Probleme, da kann ich jede Hilfe gebrauchen.
Vielleicht schaffe ich es langsam, einfach zu vergessen. Mittlerweile weine ich schon nicht mehr so oft. Ich fühle mich nur noch verraten, ausgestoßen und hintergangen. Irgendwann überwiegt vielleicht mal die Dankbarkeit. Im Moment noch nicht. Da hör‘ ich noch oft ihre Stimmen, sehe ihre Gesichter und habe Angst. Angst vor dem Tag, an dem ich vergesse, wie sie mit mir umgegangen sind.
Sie können sich jetzt wieder die Mäuler über mich zerreißen. Hier gibt es genug Input. Ich hör‘ sie schon: Ach, da ha’m wir ja grad drauf gewartet. DIE nimmt sich ja wichtig, als ob das hier noch jemanden interessiert … Was glaubt die, wer die is‘? Is‘ hier ewig nicht da und sitzt jetzt zu Hause und schaukelt sich die Eier und lebt auf unsere Kosten … und wir haben hier die ganze, viele Arbeit mimimi.
Es sind die Stimmen, die ich selbst jeden Tag in mir höre. Die Schuldgefühle und Selbstzweifel, die ich bei jeder nicht erfüllten Pflicht empfinde. Es sind die Stimmen der Täter, an die ich mich (aus welchen Gründen auch immer) emotional gebunden fühle oder fühlte und die mich trotz allem Bemühen um Anerkennung und Zuwendung bei jeder sich bietenden Gelegenheit eiskalt fallen lassen. Das ist die Stimme des Traumas, das sich durch Projektionen auf und durch andere immer und immer wieder Gehör verschafft.
Übrigens hat zwischenzeitlich auch das Bundesarbeitsgericht nach diversen Urteilen anderer Gerichte nun endgültig klargestellt, dass in Fällen wie dem oben geschilderten keine Pflicht zur Teilnahme an einem Personalgespräch besteht, in dem es z. B. um „Modifikationen der arbeitsvertraglich fixierten Inhalte“ gehen soll. Das sollte eine Justiziarin eigentlich wissen, aber in einem Unternehmen, in dem der Betriebsrat die Leute der Arbeitgeberwillkür gleich Freihaus liefert, muss einen nichts mehr wundern, oder? Zwei Jahre später (!) schickt man mir bzw. meinem Sohn eine Einladung zum Weihnachtsmärchen, das alljährlich vom Betriebsrat organisiert wird. Na klar, denke ich, erst lassen sie dich über die Klinge springen und dann laden sie zur Märchenstunde im Kreise der Fami… äh Firma ein… Wie viel Lack die wohl saufen auf ihren Betriebsratssitzungen?