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Warum ich Orthopäden nicht leiden kann
ОглавлениеMein Nacken macht mich mittlerweile wahnsinnig. Rückenschmerzen habe ich, seit ich denken kann. Mal mehr mal weniger. Aber zum Orthopäden, wie mein Mann und gefühlt alle anderen Verwandten und Bekannten empfehlen, will ich einfach nicht gehen. Zu den approbierten Metzger-Typen mit klar erkennbaren real-sadistischen Zügen habe ich ein besonders gestörtes Verhältnis. Deshalb pauschalisiere ich an dieser Stelle und werfe einfach alle in einen Topf. Machen die ja auch so. Außerdem bin ich nicht ganz dicht und überempfindlich (das hab‘ ich schriftlich).
Das letzte Mal, dass ich einen Orthopäden aufgesucht hatte, war etwa 5 Jahre zuvor. Ich war in der 9. Woche schwanger, hatte schlimme Kreuzschmerzen. Meine Frauenärztin schickte mich zu einem Orthopäden mit chiropraktischer Zusatzqualifikation. Ich war verzweifelt genug, also suchte ich mir den Nächstgelegenen raus. Niemand aus der Familie hatte Zeit, mich zu begleiten, also ging ich notgedrungen alleine.
Die Behandlung dauerte nicht lange.
„Brille ab!“, feldwebelte der große Mann in Weiß, griff nach meinem Kassengestell und riss mir ein paar Haare dabei aus. Ich verfiel umgehend in die mir bekannte Kaninchenstarre. Innerlich flehte ich mich selbst an: „Bleib‘ ruhig, du bist schwanger. Denk an das Kind. Ganz ruhig.“
Wie ein überdimensionales, dickes Nackenkotlett wuchtete er meine stattlichen 110 kg auf der Pritsche von der rechten auf die linke Seite und stemmte sich ruckartig mit seinem ebenfalls nicht unbeträchtlichen Gewicht auf meinen Oberschenkel. Ich weiß nicht genau, was noch alles passierte, ich war wie weggetreten und mit meinem „Ganz Ruhig-Mantra“ ausgelastet. Gelähmt vor Angst lag ich da. Nur noch das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht tobten in mir herum. Daran, wie ich aus dem Behandlungsraum raus kam und die Arztpraxis verlassen hatte, kann ich mich nicht erinnern. Dissoziation nennen Traumatherapeuten so was. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nichts davon, dass meine Aussetzer und Gedächtnislücken mit einer handfesten Traumafolgestörung zusammenhingen.
Einen Tag nach der chiropraktischen Behandlung stellte meine Frauenärztin beim Ultraschall fest, dass das Kind in meinem Bauch nicht mehr lebte. Als sie mir das bewegungslose, weißliche Etwas mit dem Kopf und den Knubbel-Armen, die sich neulich noch so lustig bewegt hatten, auf dem Bildschirm zeigte, war ich auf einen Schlag wie leergelaufen. Mein kleines Gespenst (so hatte ich den kleinen Embryo bei der letzten Ultraschalluntersuchung genannt) war tot.
Als der Schmerz kommen wollte, weigerte ich mich, ihn zu fühlen - verdrängte ihn. Es fragte mich auch niemand danach. Fehlgeburten sind nicht besonders salonfähig in unserer Gesellschaft.
Obwohl ein kausaler, also ursächlicher Zusammenhang zwischen der Chiro-Nummer und der Fehlgeburt aus medizinischer Sicht schlecht zu belegen ist, muss ich mit der Korrelation, also dem gleichzeitigen Auftreten beider Sachen leben. Das ist schwer. Ich habe das immer noch nicht richtig verpackt.
Deshalb suche ich mir wegen meiner Kopf- und Nackenschmerzen jetzt einen Osteopathen, den ich mir wie eine Art „Light-Version“ des gemeinen Orthopäden und daher weniger „grausam“ vorstelle. Die Internetseite von Herrn R. macht einen guten Eindruck. Es ist von Evidenz, also nachgewiesener Wirksamkeit der Methode die Rede. Da bin ich dabei. Von Quacksalbern will ich nichts wissen.
Auf dem Weg in die Praxis, mitten auf der viel befahrenen Bundesstraße ohne Seitenstreifen, bekomme ich eine Panikattacke. Schaffe es dennoch, mit verheultem Gesicht pünktlich zu erscheinen. Auf den Termin habe ich lange gewartet und kurzfristig „grundlos“ absagen, ist nicht meine Art. Außerdem soll der mir ja helfen.
In der Praxis, in der leise ambientartige Musik läuft, steht ein kleines Schild auf der Theke: „Bitte einmal tief durchatmen“.
Das mach‘ ich sofort. Compliance (also die Bereitschaft, das zu tun, was der Arzt anordnet) ist mein zweiter Vorname.
Im muckelig warmen Behandlungszimmer berichte ich von der Panik, von meinen Nacken- und Kopfschmerzen. Versuche, locker zu bleiben und antworte möglichst frisch heraus auf die vielen Fragen des ehrlich interessiert wirkenden Mittvierzigers mit dem wissenden Blick. Auf manche habe ich gar keine Antwort. Andere versuche ich mit humorigen Einlagen zu übergehen. Der Osteopath lacht aber nicht über meine Witze.
„Atmen Sie bitte einmal tief ein“, sagt er bei der körperlichen Bestandsaufnahme.
Ich atme.
„Richtig tief einatmen.“
Ich atme noch mal.
„Ok. Tiefer geht nicht?“, fragt er.
„Nein“, sage ich.
„Gucken Sie mal, wo sie hinatmen“, weist er mich an. Ich gucke zu meinem stattlichen Wanst.
„Die Lunge ist hier oben. Da tut sich aber gar nichts“, stellt er fest, während er auf meinen Brustkorb zeigt.
Ich staune. Über meine Lunge habe ich explizit noch nie nachgedacht.
„Ihr Zwerchfell ist das Problem“, erklärt Herr R.
'Mein Zwerchfell? Ich hab‘ doch Nacken!', denke ich.
Herr R. erklärt mir die anatomischen Zusammenhänge von Zwerchfell, Körperhaltung und Nackenschmerzen. Der Zug, der sich da nach vorne und unten über die Jahre aufgebaut hat, ist offenbar enorm. Viel kann Herr R. an diesem Tag nicht erreichen. Dennoch ist er zuversichtlich: „Eine russische Balletttänzerin werden wir nicht aus Ihnen machen, aber wir können etwas verbessern“, verspricht er.
„Das ist gut“, sage ich.
„Wie viel Zeit mehr können Sie ab sofort für sich selbst nutzen, um sich zu entspannen? In Prozent“, fragt er dann.
Ich überlege. Schaufele Aufgaben und Pflichten im Kopf hin und her.
„So 10 Prozent vielleicht?“, sage ich nach langem Schaufeln, überzeugt, dass das eine ganze Menge ist.
„Das ist zu wenig“, stellt Herr R. ruhig fest. „Sie müssen ihr Leben radikal ändern, sonst haben Sie nicht den Hauch einer Chance.“
Ich schweige. 10 Prozent am Tag zum Rumlungern für MICH finde ich ganz schön radikal.
„Fünfzig Prozent. Minimum“, setzt er nach.
Plötzlich ist da dieser Kloß in meinem Hals. Tränen steigen auf. Ich will sie unterdrücken, weil ich nicht weiß, was sie wollen. Geht aber nicht. Sie kullern aus meinem Gesicht heraus. Scheiße, ich Jammerlappen, denke ich.
„Sorry, geht gleich wieder“, entschuldige ich mich.
Herr R. sagt ruhig aber bestimmt: „Das ist jetzt authentisch. Nicht dieses ‚Ha, ha, ha und hi, hi, hi, is‘ alles gar nicht so schlimm‘ von eben. Merken Sie das?“
„Ja“, sage ich tonlos. Ich fühle mich merkwürdig ertappt, aber nicht bloßgestellt. Ich lass‘ es jetzt aus dem Gesicht rauslaufen. Jetzt is‘ eh zu spät. Kurz nachdem ich mir das OK zum Heulen gebe, hört es auf.
„Ich kann das nicht. Mehr Zeit einbauen. Ich hab‘ ’nen kleinen Sohn und meinen Mann …“, stammle ich eher zu mir selbst.
„Ihr Sohn braucht eine gesunde Mama. Keine, die funktioniert bis sie umfällt. Ihr Mann genau so“, sagt Herr R. ruhig. Etwas in mir weiß, dass er recht hat – der Rest in mir stellt sich stur. Der vermeintliche „Light-Orthopäde“ ist vom gemeinen Orthopäden so weit weg, wie man nur sein kann. Das ist auch gut so.
Zum nächsten Termin schaffe ich es ohne Panikattacke. Allerdings auch ohne nennenswerte Veränderungen in meinem Tagesablauf. Andere schaffen das doch auch, halte ich mir vor. Ich muss mich wohl nur mehr anstrengen, denke ich.
Nachts schlafe ich selten mehr als vier oder fünf Stunden. Nicht am Stück, sondern in 1-2 Stunden-Päckchen. Bis 3 Uhr morgens. Dann wache ich nassgeschwitzt mit Herzrasen und Magenschmerzen auf.
„Ändern Sie was!“, sagt Herr R. eindringlich bei unserem dritten Termin.
„Schlaf ist das Wichtigste. Sie MÜSSEN vernünftig schlafen!“, redet er weiter auf mich ein.
„Ich versuch’s ja“, versichere ich.
„Ihnen ist noch nicht klar, dass Sie ein richtiges Problem haben. Das Nächste, was kommt, ist ein Bandscheibenvorfall oder zwei oder drei“, orakelt Herr R. ruhig aber eindringlich. „Sie können ihr Problem nur lösen, wenn sie die Ursachen erforschen. Das physische können wir hier bearbeiten, aber Sie brauchen auch Experten für die psychische Seite. Suchen Sie sich jemand Gutes. Den besten, den Sie kriegen können“, beschwört er mich geradezu.
Zu Hause denke ich darüber nach. Sehr lange. In der Zwischenzeit schlafe ich weiter schlecht und ärgere mich darüber, dass ich zu doof zum Schlafen bin.