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Basilarismigräne – „Ganzkörper-Wahrnehmungskirmes“
ОглавлениеVon dieser seltsamen Migräne-Sache habe ich noch nie etwas gehört. Erst zu Hause beginne ich, ordentlich zu recherchieren. Ich stelle fest, dass es sehr wenig Handfestes und Informatives gibt. Zu diesem Zeitpunkt fasse ich den Entschluss, selbst zu sammeln und irgendwann zu veröffentlichen. Als Blog zum Beispiel. Aber das Veröffentlichen muss warten. Im Moment bin ich mit Existieren und Verarbeiten vollkommen ausgelastet.
Nur so viel: Die Basilarismigräne oder die „Migräne vom Basilaristyp“ (auch Migräne mit Hirnstammaura) beschreibt eine relativ seltene Form der Migräne, bei der eine ausgeprägte Schwindelsymptomatik und weitere Schlaganfall-ähnliche Symptome wie Sprach-, Seh- und Koordinationsstörungen, Ohrgeräusche, aber auch Herzrhythmusstörungen und vieles mehr vorkommen. Für mich erscheint die Bezeichnung „Ganzkörper-Wahrnehmungskirmes“ besonders treffend. Abzüglich des „Amüsement“-Faktors natürlich.
Die von der Basilarismigräne betroffene Hirnregion ist offenbar der Hirnstamm – und somit das zentrale Nervensystem. Schwere Anfälle können selbst von erfahrenen Ärzten nicht sofort als relativ harmloses Migränegeschehen erkannt werden, sodass häufig notfallmedizinische Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um einen Hirninfarkt sicher auszuschließen.
Meist bilden sich die Symptome der Basilarismigräne nach 5-60 Minuten zurück. Mit ein bisschen Pech halten zumindest Teile der Wahrnehmungsstörungen (bei mir vor allem Schwindel und Muskelschwäche) aber auch stunden- oder tagelang an.
Kopfschmerzen stehen bei der Basilarismigräne nicht immer im Vordergrund. Wenn sie auftreten, sind sie (anders als bei der klassischen Migräne) vor allem im Hinterkopf oder zumindest beidseitig lokalisierbar. Bei mir zeigen diese extrem starken, aber glücklicherweise nicht lang andauernden Hinterkopf-Schmerzen meist das Ende des akuten Anfalls an, sodass ich mich trotz des überwältigenden Schmerzerlebens innerlich entspanne, weil ich weiß, „Ok, jetzt ist die Scheiße gleich vorbei“.
Doch selbst mit dem Wissen um die relative Harmlosigkeit der Basilarismigräne bleiben die Symptome beängstigend. In Verbindung mit anderen Erkrankungen und/oder Risiko- und Erbfaktoren bekomme ich die Schlaganfall- und Herzinfarkt-Angst nur schwer aus dem migränewirren Kopf. Nicht selten kommt deshalb nach oder gleich mit der Migräne noch eine Panikattacke dazu.
Die Basilarismigräne kann auch mit anderen Migräneformen zusammen auftreten. So hat sich bei mir über die Jahre eine feine Mischung aus klassischer Kopfschmerz-Migräne ohne Aura, Migräne mit Aura (also neurologischen Nebensymptomen), Aura ohne Kopfschmerz und eben Migräne vom Basilaristyp bzw. Hirnstammaura entwickelt, die mich stark einschränken. Ab einer Anfallshäufigkeit von 15 Tagen und mehr pro Monat spricht man von chronischer Migräne. Bei länger als 72 Stunden andauernden einzelnen Anfällen oder kaum unterbrochenen Anfallsserien ist der sogenannte Status Migraenosus erreicht.
Ich kenne das alles und es ist nicht schön. Schon gar nicht ist diese Migräneform mit normalen Kopfschmerzen zu vergleichen. Je nachdem wie häufig die Anfälle auftreten, wird der Alltag und das „normale“ Leben von Basilarismigräne-Anfällen komplett lahmgelegt. Da es keine Möglichkeit gibt, den Anfall zu stoppen oder zu unterdrücken, ist man der Situation hilflos ausgeliefert. Auch wenn der Akut-Spuk nicht lange dauert, sind auch die Tage nach dem Anfall kein Ponyhof. Viele Migräniker kennen die postmigranöse „Matschbirne“, „Pudding-Beine“ und Erschöpfung nur zu gut. Das gibt es alles gratis dazu.
Die Behandlungsmöglichkeiten der Basilarismigräne bzw. Hirnstammaura sind noch dürftiger als bei der klassischen Migräne. Hinlegen und Abwarten – so lautete ja schon der Rat des Neurologen im Krankenhaus. Mit einem Kissen auf dem Kopf, das alle Wahrnehmung dämpft und den Kopf “begrenzt”, liege ich dann im abgedunkelten, möglichst ruhigen Raum. Meist bin ich in 30-60 Minuten wieder soweit „normal“ ansprechbar. Danach fühle ich mich allerdings immer extrem erschöpft und müde. Häufig kommen dann noch 1-2 Tage Muskelschmerzen, -schwäche und Schwindel (je nach Stärke des Anfalls gerne auch länger) hinterher. Dann geht es wieder ein paar Tage besser.
Meine Hoffnung: Die Prophylaxe mit dem Betablocker, die ich nun für zunächst acht Wochen ausprobieren soll. Einen Termin bei einem Neurologen gibt es frühestens in sieben Monaten. Ob er sich mit der Migräne auskennt? Fraglich. Ich lege mich noch nicht fest, weil ich erst noch eine andere Baustelle abzuarbeiten habe: mein Zwerchfell.
Meine Begegnung mit Pfleger Stefan hat mich nicht nur auf die Spur des Traumas gebracht. Der Gastroenterologe entdeckte bei der Magenspiegelung eine Gastritis und einen Zwerchfellbruch, der für meine Beschwerden im Oberbauch verantwortlich zu sein scheint. Dass das Zwerchfell mein Haupt-Problem ist, hatte mein Osteopath, Herr R., zwar schon ein dreiviertel Jahr vorher festgestellt, aber dass Teile meines Magens sich durch einen Riss im „Bauchraumtrenner“ (dem Zwerchfell) nach oben in den Brustraum verlagern und dort meinem Herzchen von Zeit zu Zeit auf die Pelle rücken und damit für Stress sorgen, war bis dato unbekannt.
Jetzt wird mir allerdings einiges klar. Mein neuer Hausarzt, Doc F., schickt mich auch mit dieser Diagnose zum Spezialisten. Ein Glück leben wir im Ruhrgebiet. Da praktiziert der Hernien-Papst fast nebenan. [Hernie ist der medizinische Fachausdruck für einen Eingeweidebruch]. Tausende Operationen dieser Art machen die ehemals mehrstündige Operation für ihn zum Routine-Eingriff. Seinen Humor hat der Doc dabei nicht verloren. Meine Angst vor ihm kann ich bei der Untersuchung deshalb gut hinter zynischen Bemerkungen und Mediziner-Witzen verstecken. Mein Mann ist bei der Unterredung dabei, da bin ich mutig.
Die OP empfiehlt der Chirurg vor allem, weil ich noch so jung sei (haha) und die lebenslange Gabe von Protonenpumpenhemmern, wie Pantoprazol, auf die ich sonst nach wie vor angewiesen wäre, auch nicht das Gelbe vom Ei seien. Ausschlaggebend ist allerdings die durch die Hernie verursachte Kollapsneigung.
Den Scheiß will ich los sein. Die oftmals als „Panikattacken“ missgedeuteten Auswirkungen eines verrutschen Magens will ich nicht mehr haben. Ich denke an die Worte meines früheren Hausarztes: „Alles psychosomatisch“, meinte er ja – der ist übrigens auch Internist und hätte bereits vor zwei Jahren mal auf den Trichter kommen können, dass trotz Adipositas (bzw. gerade da) ein Zwerchfellbruch Ursache meiner im Übrigen sehr präzise geschilderten und daher relativ eindeutig zu diagnostizierenden Beschwerden im Oberbauch und Brustkorb sein könnte.
So hätte ich mir locker ein Jahr Medikamenteneinnahme (Ranitidin und Pantoprazol) zur Sodbrand-Bekämpfung sparen können, denn diese Biester können ebenfalls zur Verschlimmerung der Migräne und anderer Malessen beitragen, wie ich heute weiß.
Die Aussicht auf ein Leben ohne die Anfälle und die Magentabletten lassen mich schlussendlich in die Zwerchfell-OP einwilligen. Angst vor (postoperativen) Schmerzen hatte ich noch nie. Die bringen mich nicht um. Anfang November werde ich dann operiert. Alles verläuft regelrecht. Mehrere Wochen flüssige und breiige Kost in Mäuse-Portionen lassen selbst bei mir die Pfunde purzeln.
Am Ende des Jahres habe ich 25 Kilo weniger auf den Rippen als am Anfang.
Nach der Narkose verliere ich aber nicht nur Gewicht, sondern auch noch mehr Haare. Unverändert dick bleiben nur meine Beine – und weh tun die auch noch.