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SECHSTES KAPITEL
ОглавлениеFür Andrej war die Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Abkommens nahezu unfaßbar. Er hatte eine Nachricht von Lensky erhalten, in der er ihm erklärte, wieso dieser Schritt notwendig gewesen sei, und ihm auftrug, den örtlichen Parteiführern in New York, San Francisco, Chicago und Los Angeles die Situation darzulegen.
Drei Wochen dauerte es, bis er sämtliche Kontakte geknüpft und allen erklärt hatte, daß Moskau sowohl die Engländer als auch die Franzosen um Beistand gebeten habe. Die aber hätten nur subalterne Beamte ohne jede Verhandlungsvollmacht, geschweige denn dem Recht zu einem Vertragsabschluß, geschickt.
Es herrschte allgemeine Verbitterung und Enttäuschung, und auf der Versammlung in New York, die er bis zuletzt aufgeschoben hatte, wurde seine Erklärung rundweg abgelehnt. Ein Mann namens Herz erhob sich zum Sprecher der Dissidenten.
»Wenn es zutrifft, daß diese Leute nur kleine Beamte waren, was hat Moskau dann davon abgehalten, seinerseits ein ranghohes Mitglied des Politbüros nach London zu schicken?«
»Das war eine reine Zeitfrage, Genosse. Die ganze Angelegenheit war ungemein dringend.«
»Aber für die Verhandlungen zwischen Molotow und Ribbentrop hatte man genug Zeit.«
»Da hatten wir schon keine andere Wahl mehr. Sämtliche anderen Vorstöße waren fehlgeschlagen.«
»Also haben wir den Nazis garantiert, daß wir sie nicht angreifen, wenn sie Polen überfallen. Was kriegen wir dafür?«
»Eine Garantie, daß Deutschland die Sowjetunion nicht angreifen wird.«
Rundum schallte ihm Widerspruch entgegen, und Herz schrie: »Dann hat sich Stalin mit all seinen Reden von den ruchlosen Nazis also geirrt, ja? Der große Führer hat sich geirrt. Und jetzt sind sie unsere Verbündeten, und wir machen uns mitschuldig bei ihrem Treiben. Und wir, die wir uns derart für die Partei eingesetzt haben, stehen vor aller Welt wie Idioten oder Kriminelle da.« Er stieß mit dem Finger nach Andrej. »Erzähl deinen Freunden in Moskau, daß wir ihnen kein Wort mehr glauben. Das sind Verräter an der Partei. Verräter an der Arbeiterklasse in ganz Europa.«
»Mit welcher Begründung behauptest du so etwas, Genosse Herz?«
Der Mann spuckte Speichel, als ihn die Wut übermannte. »Weil Moskau nichts anderes gemacht hat, als den Nazis mitzuteilen, daß sie Europa unterwerfen können, ohne einen Vergeltungsschlag der Sowjetunion befürchten zu müssen. Wir sind doch nicht so naiv, daß uns nicht wohlbewußt wäre, was dieser sogenannte Nichtangriffspakt bedeutet. Nichts anderes nämlich, als daß man die Arbeiterschaft Europas den Nazischergen ausliefert.«
Die Mehrzahl der in dem kleinen Saal versammelten Leute klatschte Beifall. Die meisten von ihnen saßen, nur Herz stand nach wie vor mit zornrotem Gesicht da.
»Spielst du Schach, Genosse Herz?« sagte Andrej ruhig.
»Ja.«
Mit einem Mal kehrte Schweigen ein.
»Hast du schon mal aus taktischen Gründen eine Figur geopfert?«
»Natürlich.«
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn ich dir eine Erklärung dafür anbieten dürfte, was in Moskau geschehen ist. Ich will damit nicht sagen, daß man dort ähnliche Überlegungen angestellt hat wie ich, aber ich glaube, wenn ich die Lage einschätzen kann, dann können es die Leute dort auch. Und die sind besser informiert als ich. Kannst du mir vielleicht ein paar Minuten Gehör schenken?«
Herz setzte sich hin, und Andrej wußte, daß ihm die Leute jetzt wenigstens zuhörten.
»Hitler hat in seinen Reden immer wieder gesagt, daß Moskau sein eigentlicher Feind sei. Die Bolschewiken. Die Roten. Daß der Tag kommen werde, an dem er ein für alle Male mit ihnen aufräumen werde. Wir alle wissen, was das bedeutet. Das bedeutet Krieg. Den Überfall auf die Sowjetunion.
Aber bislang hat Herr Hider noch kein Land überfallen. Aber wenn er es doch tut, dann muß man einen Nichtangriffspakt nicht unbedingt einhalten. Ein Pakt, den man schließt, um einen möglichen Angreifer davon zu überzeugen, daß man für bestimmte Fragen lieber eine friedliche Lösung suchen sollte, bedeutet noch lange nicht, daß man danebensteht und zuläßt, daß der Verbündete das Nachbarland überfällt.
Was ist, wenn Moskau nur seinen Stolz opfert, in der Hoffnung, es könne damit zum Frieden beitragen?«
Herz stand auf, und Andrej nickte ihm zu. »Fahr fort, Genosse Herz.«
»Und was ist, wenn dadurch nicht für Frieden gesorgt, sondern der Krieg nur noch wahrscheinlicher wird? Vertrauen wir etwa darauf, daß die Nazis eine Kehrtwendung gemacht haben?«
Andrej nickte. »Verzeih mir, wenn ich auf dieser Versammlung nicht mehr dazu sagen will, aber soviel Vertrauen habe ich in unsere Führer und in unsere gemeinsame Sache, daß ich von einem überzeugt bin: Wenn diese Spannungen in Europa vorüber sind, wird es nicht so weit gekommen sein, daß die Sowjetunion an der Seite der Nazis auf Eroberungszug gegangen ist.« Er lächelte leicht und fuhr fort: »Wir wollen die Welt mit unserer Hoffnung und unserer Philosophie erobern, nicht mit Kanonen.«
Es gab verhaltenen Applaus, und eine Frau stand auf.
»Und wenn es so ist, Genosse, kämpfen wir dann an der Seite unserer wahren Freunde?«
Ruhig erwiderte Andrej: »Das haben wir bereits in Spanien getan, Genossin. Bis Madrid vor Franco kapituliert hat.«
Danach gab es kräftigeren Applaus, und Andrej war erleichtert. Zwei hohe Parteimitglieder begleiteten ihn zur U-Bahn, und kurz vor Mitternacht war er wieder bei seiner Familie.
Es war eine laue Nacht, und nachdem er einen Teller Hühnersuppe gegessen hatte, ging er mit Chantal am Strand spazieren. Etliche Leute lächelten sie an oder nickten ihnen zu, als sie um den kleinen, von Bäumen bestandenen und mit Blumen bepflanzten Platz herumgingen.
Als sie am Strand saßen, hörte er über das Donnern und Rauschen des Atlantischen Ozeans hinweg die leisen Klänge der Musik von Coney Island.
Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Wie ist es dir ergangen, Schatz?«
»Einsam habe ich mich gefühlt. Ich hasse es, wenn du weg bist.«
»Ich auch. Aber ich habe die meiste Zeit über im Bus oder im Zug gesessen und zu schlafen versucht.«
»Haben sie dir große Schwierigkeiten gemacht?«
»Ich habe mich wacker geschlagen. Wie lief’s bei euch?«
»Anna ist eine große Hilfe. Immer ruhig und vernünftig.« Sie stockte. »Ich habe einen Brief von meinen Eltern bekommen. Sie machen sich anscheinend Sorgen, daß es zu einem Krieg mit Deutschland kommt. Was hältst du davon?«
»Möglich wäre es schon. Was ist mit Iwan? Ich habe das Gefühl, du hast ihn dir aus gutem Grund bis zum Schluß aufgehoben.«
Sie lachte. »Recht hast du. Es geht um zwei Kleinigkeiten. Erstens um einen Besuch von Mister Henschel, der einfach hereingeschneit kam und sagte, wenn Iwan nicht die Finger von seiner Tochter läßt, geht er entweder zur Polizei oder er schlägt ihm den Schädel ein.«
»Wie kommt er denn darauf? Ist sie etwa schwanger?«
»Nein. Aber sie ist minderjährig.«
»Wie alt?«
»Grade mal fünfzehn. Aber sie sieht älter aus.«
»Was hast du mit Iwan gemacht?«
»Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht mehr mit ihr treffen, bis du wieder zurückkommst. Er hat es versprochen.«
»Er ist ein Idiot.«
»Ich glaube, er macht sich wirklich etwas aus ihr. Möchte sie heiraten, sobald sie alt genug ist.«
»Was gab’s sonst? Ich meine die zweite Kleinigkeit.«
»Ein Mann hat ein Paket für dich gebracht. Er hat gesagt, es ist für dich persönlich. Er hat gesagt, wenn du mehr davon hast, kauft er sie, aber kleinere wären ihm lieber.« Sie stockte. »Ich habe mir Sorgen gemacht und das Paket geöffnet. Ich hoffe, du bist nicht böse.«
»Was war drin?«
»Geld. Haufenweise Geld. Ich hab’s nicht gezählt, aber es waren lauter Zehner und Zwanziger. Es müssen mindestens tausend Dollar gewesen sein.«
»Wo hast du es aufbewahrt?«
»In dem Karton unter deinem Bett.«
»Das ist in Ordnung. Nur keine Sorge.«
»Wofür ist das, Andrej? Dieses Geld?«
»Die Partei hat mir Diamanten gegeben, die ich zum Aufbessern der Parteikasse verkaufen soll. Sie nehmen nicht soviel Platz weg wie Bargeld. Und sie sind handlicher. Außerdem sind sie wertbeständig, egal, in welchem Land man sich befindet. Denk nicht weiter daran. Wie steht’s um die Einkäufe für den Laden?«
»Die kleine Polin in der Stadtbücherei war eine große Hilfe. Hat mir Namen und Adressen genannt, wo man billige und gute Sachen kaufen kann – hauptsächlich Klassiker. Sie will in ihrer Freizeit mit mir hingehen. Sie meint, der Laden ist genau das, was hier in der Gegend gefehlt hat.«
»Hast du dich inzwischen hier eingelebt?«
»Solange ich dich habe, fühle ich mich überall wohl.«
»Mich hast du für immer, mein Liebes.« Er lächelte. »Wie hat doch dieser französische Priester gesagt – ›Meilleur ou pire‹. Auf Gedeih und Verderb.«
Andrej half ihnen, die Bücher auf die zusätzlichen Regale zu stellen, die Iwan gezimmert hatte. Die meisten Bände stammten aus zweiter Hand, und er hatte keine Zeit, sie zu sortieren oder gar nach der Sprache, in der sie verfaßt waren, einzuordnen. Es gab ohnehin nur eine Reihe Bücher in englischer Sprache, hauptsächlich Werke über europäische Geschichte sowie amerikanische Biographien. Dazu natürlich Wörterbücher für fast alle europäischen Sprachen, darunter auch Russisch, Lettisch und Estisch. Gut vertreten waren die russischen Klassiker, aber sie führten auch zwei Regale voller Liebesromane.
Andrej packte gerade einen Karton mit Büchern aus, die die Brooklyn Library abgelehnt hatte, als er aufblickte und auf der anderen Seite des Ladentisches einen Mann stehen sah.
Er lächelte. »Tut mir leid, aber wir haben erst ab morgen geöffnet.« Er wies auf die Bücherstapel auf dem Ladentisch. »Hier herrscht noch ein ziemliches Chaos ...« Und dann wurde ihm klar, um wen es sich handelte. Es war der Mann, der nach der Schulung in Moskau seine Segeltuchtasche zum Bahnhof getragen hatte, als er nach Paris zurückgefahren war. Lensky hatte ihn als Gene Spasskij vorgestellt.
Spasskij war wie ein Matrose gekleidet – blauer Rollkragenpullover, graue Flanellhose und strapazierfähige Stiefel. Er lächelte, als er sah, daß Andrej ihn wiedererkannte. Er bot ihm die Hand zum Gruß.
»Dobrij dschjehn, towaritsch.«
»Dobrij dschjehn ... koch dschjela.«
»Spasebo charascho.« Und dann fügte er leise hinzu. »Wo können wir miteinander reden?«
»Oben. Kommen Sie mit.«
Andrej führte Spasskij ins Schlafzimmer. Stühle gab es nicht, so daß sie sich auf die Kante des Doppelbetts setzen mußten.
»Ich kann nicht lange bleiben, Aarons. Ich muß nach New York zurück, auf mein Schiff. Aber Lensky wollte dich vorwarnen, daß etwas geschehen wird.«
»Worum geht es?«
»Wir in Moskau haben gehört, daß du dich mächtig für diesen erbärmlichen Pakt mit den Nazis ins Zeug gelegt hast.« Er lächelte. »Ein weiteres Plus für dich, Genosse. Aber ich fürchte, es kommt noch schlimmer.«
»Was?«
»In ein paar Tagen werden die Deutschen in Polen einmarschieren.«
»Nun, dadurch kommen wir wenigstens aus dem Pakt heraus.«
»Leider nicht. Zwei Tage nach dem Einmarsch der Nazis werden wir verkünden, daß wir unsere Grenzen verteidigen müssen. Wir werden von Osten vordringen und uns ein Drittel von Polen einverleiben.«
Andrej schwieg mehrere Minuten lang, dann schaute er Spasskij an. »Auf der ganzen Welt wird es heißen, das sei von Anfang an so geplant gewesen. Die Deutschen marschieren ein, und dann teilen wir uns mit den Nazis die Beute.«
»Und die ganze Welt wird recht haben, mein Freund.« Spasskij hielt inne. »Und wie gedenkst du dieses kleine Schauspiel gegenüber den Genossen hier zu verteidigen?«
»Sag mir, wieso Moskau sich darauf einlassen muß.«
»Das wird dir nichts nützen. Du wirst es begreifen, Außenstehende aber nicht.«
»Sag es mir trotzdem.«
»Um es grob auszudrücken: In Moskau hofft man, dadurch Zeit zu gewinnen. Wenn Hitler Europa erledigt hat, wird er uns angreifen. Jeden Monat, den wir dadurch gewinnen, können wir zur Vorbereitung nützen.«
»Sind wir denn so schwach, daß wir darauf angewiesen sind? Und um wieviel Zeit geht es überhaupt?«
»Die Anwort auf deine erste Frage lautet: ja. Wir brauchen jeden einzelnen Tag, den wir dabei herausschlagen können. Wir gehen davon aus, daß Hitler etwa ein Jahr braucht, bis er ganz Europa erobert hat. Vielleicht ein paar Monate mehr, falls die Engländer durchhalten.«
»Und was erwartet man von mir?«
»Erstens, daß du dich nach besten Kräften dafür einsetzt, eine Spaltung der Partei hier in den USA zu verhindern, und zweitens, daß du handverlesene Mitglieder aussuchst, die unseren Standpunkt vermitteln können. Keine Parteihengste, sondern Intellektuelle. Leute, die die öffentliche Meinung beeinflussen können. Falls du dazu irgendwelche Unterstützung, sei es Geld oder sonstwas, brauchst, dann wende dich an unsere Botschaften in Mexico City oder in Toronto. Ich habe für dich und deine ganze Familie sowjetische und amerikanische Pässe mitgebracht. Geh vorsichtig damit um. Die amerikanischen Pässe sind auf den Namen Levin ausgestellt. Moskau hat unter diesem Namen sechs Bankkonten einrichten lassen. Zwei hier in New York. Eins in Washington. Eins in Los Angeles, eins in Mexico City und eins in Toronto.« Er griff unter seinen Pullover und überreichte ihm ein Päckchen. »Das ganze Zeug ist hier drin. Einschließlich Bankadressen und Kontonummern.« Er zuckte die Achseln. »Moskau sagt, Geld spielt keine Rolle. Gib aus, soviel du brauchst.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Man wird nicht vergessen, was für gute Arbeit du für die Partei geleistet hast. Du bist bei allerhand Leuten bekannt.« Er zuckte die Achseln. »Ich muß mich wieder auf den Weg machen.«
»Möchtest du eine Brotzeit oder sonst etwas?«
»Nein. Ich esse an Bord.«
Drei Tage später, am Freitag, dem 1. September 1939, fielen die Deutschen in Polen ein. Am 3. September erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Am 17., einem Sonntag, rückten russische Truppen von Osten vor, und bis Monatsende waren 60 000 Polen umgekommen, und der polnische Staat existierte nicht mehr. Die Sowjetunion wurde aus dem Völkerbund ausgestoßen.