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DRITTES KAPITEL

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Serow holte ihn am Bahnhof ab und bestand darauf, daß sie auf dem Heimweg noch in ein Café gingen.

Beim Kaffee eröffnete ihm Serow, daß in den nächsten zwei Tagen in mindestens zwei französischen Zeitungen Berichte veröffentlicht würden, wonach fünf Millionen russische Bauern enteignet und in abgelegene Gegenden der Sowjetunion verbannt worden wären. Eine deutsche Zeitung werde sogar behaupten, daß wenigstens eine Million Bauern ermordet worden sei.

»Ist das wahr?« sagte Andrej.

Serow zuckte die Achseln. »Mehr oder minder. Ich habe sogar gehört, daß es keine fünf, sondern sieben Millionen waren. Was wiederum bedeutet, daß es in den nächsten zwei Jahren so gut wie keine Ernte geben wird.« Er lächelte. »Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß die Bürokraten in Moskau die Felder bestellen und das Korn einbringen. Und es steht kaum zu erwarten, daß sich die Landarbeiter, die beim Abmurksen der Bauern mitgeholfen haben, für ihre neuen Herren genauso abrackern, wer immer die auch sein mögen.«

»Wieso hat Lensky mich nicht vorgewarnt?«

»Von den Zeitungsartikeln dürfte er nichts wissen, und die Liquidierung der Kulaken war schon letztes Jahr.«

»Wie, zum Teufel, soll ich das den hiesigen Parteimitgliedern erklären?«

Wieder lächelte Serow. »Ich weiß es nicht. Aber ich bin gespannt, wie du es ihnen beibringst.«

»Wissen sie bereits Bescheid?«

»Heute war ein Artikel in der Zeitung. Bloß ein paar Absätze. Drohende Hungersnot in Rußland und dergleichen mehr.« Er stockte. »Ich habe für heute abend eine Parteiversammlung einberufen. Du solltest es den Leuten lieber erklären.«

»Wieso machst du das nicht?«

»Lensky möchte, daß du es übernimmst. Außerdem möchte er, daß du nach Marseille fährst. Die befehden sich dort untereinander. Er will, daß du für Ordnung sorgst.«

»Erst möchte ich ein, zwei Tage bei meiner Familie zubringen, bevor ich irgendwo hinfahre. Ich bin sechs Monate weggewesen.«

»Lensky sagte, du sollst dir eine größere Wohnung besorgen. Ich kann dir eine zeigen.«

»Wo liegt sie?«

»In den Batignolles. Rue Legrande. Anna und Iwan haben sie sich bereits angesehen. Sie gefällt ihnen.«

»Wieso möchte Lensky, daß wir umziehen?«

»Damit ihr genug Platz habt, falls von unseren Leuten mal jemand auf der Flucht ist und irgendwo unterkommen muß. Bloß für eine Nacht, bis wir etwas anderes gefunden haben.«

Tags darauf zogen sie zur Begeisterung der ganzen Familie in die neue Wohnung um. Aber irgendwie ärgerte sich Andrej darüber, daß Serow sich in seine Familienangelegenheiten einmischte. In Moskau hatte man mit keinem Wort erwähnt, daß Serow sein Vorgesetzter sei, doch da Serow anscheinend in ständigem Kontakt mit Lensky stand, fand er sich mit der Situation ab.

Die Parteimitglieder in Paris und Marseille akzeptierten seine Erklärungen zur Liquidierung der Kulaken. Jegliche Anstalten, die Partei zu spalten und ihre Ziele und Vorgehensweisen zu verändern, so hatte er ausgeführt, würden in jeder Hinsicht als illoyal betrachtet. Für die Kulaken müßten daher die gleichen strengen Strafmaßnahmen zur Anwendung gelangen wie für Verräter vom Schlage Trotzkijs oder Sinowjews.

Seine nächste Reise führte nach Berlin, wo die Partei an denselben Grundsätzen zu zerbrechen drohte wie in Moskau. Andrej war klargeworden, daß man Stalin als den Mann darstellen mußte, der als einziger den Willen und die Kraft hatte, das Programm des Politbüros durchzuziehen. Und wenn es dabei zu Widerstand und Störmanövern von seiten alter Genossen kam, dann mußten sie eben geopfert werden.

Als Andrej von einem kurzen Abstecher nach Spanien zurückkam, den er auf Anweisung Moskaus hin unternommen hatte, fand er den ersten unfreiwilligen Gast in ihrer Wohnung vor. Es handelte sich um eine junge Französin namens Chantal Lefevre. Sie wurde von der französischen Polizei wegen »subversiver Akte wider die Sicherheit des Staates« gesucht. Sie hatte nicht nur aktiv an der Gründung einer militanten Gewerkschaft für Textilarbeiter mitgewirkt, sondern auch eine wesentliche Rolle beim Herausgeben eines marxistisch-leninistischen Untergrundblattes gespielt, in dem ausführlich auf die Bestechung korrupter Politiker durch Waffenhersteller eingegangen wurde, die sie als »Händler des Todes« bezeichnet hatte.

Andrej verliebte sich auf der Stelle in sie. Mit ihren langen schwarzen Haaren und den großen braunen Augen hätte man sie für eine Jüdin halten können, doch das war sie nicht. Sie entstammte einer Hoteliersfamilie aus Lyon und war zu Toleranz, aber auch einer gewissen Skepsis gegenüber den Leuten erzogen worden, die Frankreich in dieser unsicheren, von gesellschaftlichen Spannungen geprägten Zeit regierten.

Ihre Eltern hatten die Aktivitäten ihres einzigen Kindes stets geduldet. Sie bewunderten ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit, auch wenn sie Zweifel hegten, ob die von ihr erwählte Sache eine derartige Hingabe und Opferbereitschaft verdiente.

Anna jedenfalls hatte bereits dafür gesorgt, daß sie sich als Mitglied der Familie fühlte.

Chantal war es, die Andrej dazu überredete, die Gegend zu erkunden, in der sie wohnten, und sich zur Abwechslung einmal mit etwas anderem zu beschäftigen als den ständigen Versammlungen und Streitgesprächen mit Flüchtlingen aus Osteuropa. Für ihn war es bedeutungslos, wo sie wohnten. Es war nur der Ausgangspunkt für seine Arbeit.

Sie nahm ihn mit in die Gegend um die Rue de Rome, wo sich die Läden befanden, in denen die Studenten am Pariser Konservatorium einkauften. Läden, in denen Violinen und Lauten gebaut wurden, wo man Noten kaufen konnte und allerlei Instrumente.

Die Batignolles, zwischen der anrüchigen Place de Clichy und dem Gare St-Lazare gelegen, waren eine ruhige Gegend.

Sie nahm ihn mit in ein kleines Café, wo man sie offenbar kannte und schätzte. Als sie an einem Tisch auf dem Bürgersteig Platz genommen hatten, sagte sie: »Wenn du nicht davon loskommst, wirst du genau wie die anderen.«

Er lächelte. »Was soll das heißen?«

»Sie werden zu Fanatikern. Sie haben kein Interesse mehr an den Menschen oder ihrem Alltagsleben. Menschen sind nur mehr Objekte. Für die ist es noch immer wie neunzehnhundertsiebzehn. Sie begreifen nicht, daß normale Menschen, sosehr sie der Partei auch ergeben sein mögen, ein Privatleben haben. Sie verlieben sich, sie machen Leid, Krankheit und Tod durch, haben Schwierigkeiten in der Arbeit, Schulden und so weiter.« Sie lächelte. »Du bist viel zu außergewöhnlich, als daß man zulassen dürfte, daß du ein Parteihengst wirst. Wir brauchen Leute wie dich, Menschen mit Phantasie, die uns führen können. Sonst haben wir für unsere Revolution am Ende nichts weiter vorzuweisen als Diskussionsgruppen und Agitatoren.«

»Wie kommst du darauf, daß ich außergewöhnlich bin?«

Sie wandte sich einen Moment lang ab und betrachtete die auf dem Bürgersteig vorbeigehenden Menschen. Dann schaute sie ihn wieder an.

»Sag mir eins. Wärst du bereit, zum Wohle der Partei Lügen zu erzählen, und zwar vorsätzlich und obwohl du weißt, daß die Leute jedes Wort glauben, weil es von dir kommt.« Sie lachte. »Keine besonders gute Erklärung. Aber du weißt schon, was ich meine.«

Er lächelte. »Die Antwort lautet: nein. Ich würde nicht wissentlich zum Wohle der Partei lügen. Weil ich nämlich davon überzeugt bin, daß die Leute in Moskau vermutlich gute Gründe für gewisse Verhaltensweisen haben, auch wenn diese anscheinend im Gegensatz zur allgemeinen Parteimeinung stehen.«

Sie lachte auf. »Du hättest Lehrer werden sollen, Andrej. Oder vielleicht auch Priester?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht könnte ich als Lehrer oder Priester mehr für die Partei tun.«

»Serow sagt, daß du in der Partei bereits als kommender Spitzenmann giltst.«

»Apropos Serow. Wie gut kennst du ihn?«

»Er ist eine Art Beobachter für Moskau. Liefert Berichte über Leute. Spricht perfekt Französisch. Seine Mutter war Französin. Er ist sehr schlau. Opfert viel Zeit für die Gewerkschaften. Kümmert sich im Auftrag der Moskauer Zentrale um ganz Frankreich und Belgien.«

»Ist er bei der Komintern?«

»Das sagt er jedenfalls.«

»Und was denkst du?«

»Ich denke, er ist ein Spion.« Sie lächelte. »Du doch auch, oder etwa nicht?«

»Ich bin mir nicht sicher. Laut meinem Auftrag arbeite ich für die Komintern.«

»Aber du bist doch für nachrichtendienstliche Tätigkeit ausgebildet worden, oder etwa nicht?«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Serow.«

»Der redet zuviel.«

Sie lachte. »Bei hübschen Mädchen wird er immer schwach. Möchte sie beeindrucken.«

»Hat er dich beeindruckt?«

»Nein. Er ist nicht mein Typ.«

»Wer ist dein Typ?«

Sie grinste. »Wie heißt es doch in den amerikanischen Filmen? Ich berufe mich auf den fünften Verfassungszusatz und verweigere die Aussage.«

Er öffnete den Mund und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, überlegte es sich dann aber anders.

»Was wolltest du sagen?«

»Ist doch egal.«

»Sag’s mir.«

»Lassen wir’s lieber.«

»Ich weiß, was du sagen wolltest. Du kannst es mir also ruhig verraten.«

»Und was wollte ich sagen?«

»Du wolltest sagen, daß du mich magst.«

»Woher weißt du das?«

Sie lächelte. »Du bist wirklich ganz schön unbedarft, Andrej Aarons. Ich weiß eben, daß du mich magst. Und ich mag dich auch.«

»Wieso magst du mich?«

»Weil du ein netter Mensch bist. Und ein bescheidener obendrein. Du bist zu Großem fahig, aber das ist dir nicht bewußt. Bei dir fühle ich mich geborgen.«

»Ich mag dich nicht nur, Chantal. Ich liebe dich. Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt. Und mit jedem weiteren Tag immer mehr. Ich fühle mich bei dir ebenfalls geborgen.«

Trotz Serows dringender Warnungen, daß dadurch seine Einsatzkraft als Funktionär der Komintern beeinträchtigt werde, heirateten sie zwei Monate später. Andrej war überrascht davon, wie viele Menschen sich in der Maîrie versammelten, um der Trauung beizuwohnen. Und noch mehr überraschte ihn das Glückwunschtelegramm, das Lensky aus Moskau sandte.

Im September 1937 erhielt er aus Moskau die Anweisung, zu einer Unterredung mit Lensky nach Berlin zu reisen.

Sie trafen sich in einem kleinen Hotel an der Kantstraße. Lensky überreichte Andrej einen silbernen Spiegel, den er für Anna mitgebracht hatte, und eine Uhr für Iwan. Dann nahm er auf einem Sessel Platz, lehnte sich zurück und schaute ihn an.

»Unsere Leute in Spanien wie auch hier in Berlin sagen, du hättest selbst die Wankelmütigsten resrlos davon überzeugt, daß es notwendig war, Trotzkij und die anderen in die Verbannung zu schicken. Wie lange hast du darüber nachgedacht, was du sagen willst?«

»In Paris mußte ich so was Ähnliches schon mal machen. An dem Tag, als ich aus Moskau zurückgekommen bin. Daher kannte ich die Fragen und die Einwände.«

»Ja gut, aber wie hast du dir deine Worte zurechtgelegt?«

Andrej zuckte die Achseln. »Ich mußte mir nichts zurechtlegen. Wenn sich ein Mann, egal wie wichtig er ist, seiner Verpflichtung gegenüber der Partei entziehen will, dann muß ihm Einhalt geboten werden. Wir haben weder die Zeit noch die Energie für Polemiken und dilettantische Diskussionen über mögliche Alternativen. Wir haben unsere Ziele, wir haben uns entschieden, wie wir sie erreichen wollen, und diejenigen, die davon abweichen, sind Volksfeinde.« Er hielt inne. »Meines Erachtens war die Verbannung das mindeste, was man tun konnte.«

»Hast du niemals Zweifel?«

»Nein. Niemals. Für Zweifler ist längst keine Zeit mehr. Wir möchten jetzt in Aktion treten, unseren Traum verwirklicht sehen. Nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt. Nur darauf kommt es an.«

»Ich wünschte, wir hätten Tausende, die so wie du sind, Andrej.«

»Die haben wir, Genosse Lensky. Sie müssen nur geschult werden. Lenin und Marx haben die Gesetzmäßigkeiten für die Weltrevolution vorgegeben. Der Genosse Stalin setzt sie in die Tat um.«

»Teilt Chantal deine Ansichten.«

»Natürlich. Die ganze Familie.«

Lensky schaute zum Fenster und wandte sich dann wieder Andrej zu. »Was ich dir jetzt sage, muß unter uns bleiben. Hast du verstanden?«

»Natürlich.«

»Wir möchten, daß du auswanderst. Du und die Familie. Wir möchten, daß ihr nach Amerika auswandert. In die Vereinigten Staaten. Und zwar in den nächsten zwei Monaten.« Er seufzte. »Uns liegen inzwischen klare Beweise dafür vor, daß die Nazis darauf aus sind, alle Juden zu vertreiben. Deswegen haben wir dir einen falschen Paß geschickt. Mancherorts haben die Schikanen bereits angefangen. Juden werden in aller Öffentlichkeit gedemütigt und manches Mal auch ermordet.«

»Aber ich lebe normalerweise in Paris. Hier in Deutschland bin ich immer nur für ein oder zwei Tage.«

»Ich weiß, ich weiß.«

Lensky stand auf, ging zum Fenster und schaute eine ganze Weile hinaus, bevor er sich wieder zu Andrej umdrehte.

»Was ich dir jetzt sage, mußt du vertraulich behandeln: Es gibt immer mehr unwiderlegbare Beweise dafür, daß Hitler auf Krieg aus ist. Er hat vor, ganz Europa zu unterwerfen. Nirgendwo in Europa werden Juden noch sicher sein. Wir können es uns nicht leisten, dich zu verlieren. Du hast Fähigkeiten und Eigenschaften, die selten und wertvoll sind. Wir haben bereits zwei wichtige Männer verloren, einen hier in Berlin und einen im Ruhrgebiet. Sie wurden mitten in der Nacht von der Gestapo festgenommen, und niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Die Polizei und die Gestapo behaupten, sie wüßten von nichts. Wir haben einen Informanten bei der Kripo. Er ließ uns wissen, daß sie als angebliche jüdische Agitatoren verhaftet wurden. Die SA macht auf offener Straße Jagd auf Juden und schlägt ihre Läden und Häuser kurz und klein. Die Nazis haben vor niemandem mehr Angst. Weder vor den Engländern noch vor den Franzosen. Der Spanische Bürgerkrieg dient ihnen nur zur Erprobung ihrer Luftwaffe. Die werden ihren Krieg anzetteln, glaube mir. Und alles deutet darauf hin, daß sie ihn auch gewinnen werden.« Er seufzte. »So sieht es aus. Und das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern es deckt sich auch mit der Einschätzung der Lage von seiten Moskaus. Wann – das wissen wir nicht. Aber lange wird es nicht mehr dauern, fürchte ich. Wir müssen Sicherheitsvorkehrungen treffen. Wir brauchen deine Hilfe.«

Andrej schwieg mehrere Minuten lang. »Was soll ich in Amerika tun?« fragte er schließlich.

»Einfluß auf die Menschen nehmen. Unsere Leute dort dahingehend organisieren, daß sie die Sowjetunion als Verbündeten betrachten. Als friedliebendes Volk. Für die meisten Amerikaner sind wir der Feind. Vermittle ihnen unsere guten Absichten. Sorge dafür, daß sie uns mögen, wenn wir am Zug sind.«

»Was meinen Sie damit – wenn wir am Zug sind?«

»Wenn Hitler ganz Europa erobert hat, wird er sich gegen uns wenden. Die Amerikaner werden sich unter allen Umständen aus einem Krieg in Europa heraushalten wollen. Sorge dafür, daß sie zumindest Verständnis für unsere Bemühungen haben, den Krieg zu verhindern.«

»Und die Leute beim Nachrichtendienst in Moskau?«

»Mit denen hast du nichts zu tun. Wenn die Nazis über Europa herfallen, darf es nicht den geringsten Verdacht geben, daß wir die Amerikaner ausspionieren. Wir werden unsere Leute anweisen, sämtliche nachrichtendienstlichen Tätigkeiten einzustellen.«

»Sie wissen, daß ich kein Englisch kann. Keiner von uns.«

»Dann solltet ihr es lernen. Überlaß Serow Frankreich. Er ist kein Jude. Er wird’s überstehen.«

»Es dürfte Schwierigkeiten bei der Einwanderung geben.«

»Nein. Wir werden uns um alles kümmern. Ihr werdet unter eurem richtigen Namen reisen, aber mit deutschen Pässen. In Amerika ist man jüdischen Flüchtlingen sehr wohlgesonnen. Wir haben Leute dort, die dafür sorgen, daß ihr bei der Einwanderung keinerlei Schwierigkeiten bekommt. Und im Laufe der Zeit nehmt ihr dann die amerikanische Staatsbürgerschaft an.«

»Heißt das, daß wir länger dort bleiben?«

»Auf Dauer, Andrej. Laßt euch nieder und werdet Amerikaner. Ihr werdet über alle erforderlichen Mittel verfügen.«

Im Februar 1938 wanderten sie nach Amerika aus. Andrej brach zuerst auf. Allein. Auf den Rat anderer russischer Juden hin beschloß er, sich in Breighton Beach niederzulassen, einer Gegend, in der so viele jüdische Einwanderer aus Rußland und Polen lebten, daß eine weitere Familie aus Osteuropa überhaupt nicht weiter auffallen würde.

Es war ein armer Bezirk, nur ein paar Hochbahnstationen vor Coney Island gelegen, aber die Lebensbedingungen waren weitaus besser als in Moskau. Die Geschäfte, die Restaurants, die gesamte Atmosphäre sorgten dafür, daß er sich wie zu Hause fühlte. Sogar Russisch konnte er sprechen, ohne daß deswegen irgend jemand auf die Idee gekommen wäre, er sei kein Amerikaner. Er war davon überzeugt, daß sich die Familie rasch einleben würde.

In den zwei Monaten, die bis zu ihrer Ankunft verstrichen, stellte er fest, daß ihm Chantal mehr fehlte, als er erwartet hatte. Er war ständig unterwegs, fand für sich und seine Angehörigen eine ziemlich geräumige Wohnung über einem leerstehenden Geschäft, sah sich in den Läden um und erkundete, welche Arbeitsmöglichkeiten es für sie gab. In der näheren Umgebung eine Stelle zu finden war offensichtlich nicht einfach, aber für nur zehn Cents kam man mit der Hochbahn nach Manhattan. Außerdem hörte er, daß es in Sheepshead Bay und weiter nördlich, in der Gegend um den Prospect Park, Arbeit für Frauen gab, so daß sie nicht in die Innenstadt fahren mußten.

Nach einem Monat hatte er Kontakt zu mehreren führenden Kommunisten vor Ort aufgenommen und bei diversen Zusammenkünften im privaten Kreis über die politische Linie Moskaus gesprochen. Man hörte ihm aufmerksam zu und nahm an, daß er ein Agent der Komintern sei, obwohl er nie ein Wort darüber verlor. Diese Leute waren daran gewöhnt, ihre politische Gesinnung geheimzuhalten, aber es gab auch zahlreiche gewöhnliche Parteimitglieder, die sich ganz offen für die Ziele des Kommunismus einsetzten. Er wurde von etlichen Familien eingeladen, die ihm beim Kauf von gebrauchten Möbeln und Küchengeräten für die Wohnung behilflich waren. Außerdem büffelte er mindestens zwei Stunden täglich Englisch.

Als Lensky ihn auf den Umzug nach New York vorbereitet hatte, hatte er geglaubt, es handle sich nur um eine Fortsetzung seiner üblichen Arbeit für Moskau. Doch nun, da er sich tatsächlich in New York befand, erfaßten ihn Zweifel. Ihm wurde klar, daß er wegen seiner schlechten Englischkenntnisse einen großen Bogen um Manhattan machte. Zweimal war er hingefahren, und beide Male war er von den Menschenmassen und dem geschäftigen Treiben überwältigt gewesen. Und von ihm erwartete man, daß er unter all diesen Menschen nicht nur zurecht kam, sondern auch noch Einfluß auf sie nahm. Es kam ihm grotesk vor.

Sprachbegabt war er seit jeher gewesen, aber die paar Brocken, die man beim Einkaufen oder im Gespräch mit den Nachbarn brauchte, reichten nicht für die Arbeit, die man von ihm erwartete. Doch wenn die Partei dies wollte, mußte er sich eben nach besten Kräften darum bemühen. Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er daran, ob er ihren Wünschen gerecht werden konnte. Was kümmerte es diese vitalen, quicklebendigen Menschen schon, wie sie seiner Ansicht nach ihr Leben gestalten sollten? Mit einem Mal kam ihm das Dasein in Paris, das scheinbar so ausgefüllt gewesen war, viel zu beschaulich vor, allzu müßig. Und er wünschte, er könnte weitermachen wie gewohnt. Manchmal, wenn er sich einsam fühlte, war er fast soweit, daß er sich seine Angst eingestand. Die Angst vor der Aufgabe, die man ihm gestellt hatte. Die Ungewißheit, wie er sie anpacken sollte. Und die Angst, jämmerlich zu versagen.

Er aß alleine – eine Mahlzeit am Tag, immer abends – und ging dann den Boardwalk entlang nach Coney Island, lief wieder zurück und setzte sich an seine Bücher. Abends fehlte ihm Chantal ganz besonders. Es gab so vieles, was er ihr erzählen, so vieles, was er ihr zeigen wollte. Er kabelte ihr die Adresse durch, und mehrmals schrieb er ihr auch einen Brief, schickte ihn aber nie ab. Alles Schriftliche, so harmlos es auch sein mochte, konnte gefährlich werden.

Schließlich bekam er ein Telegramm von Serow, der ihm mitteilte, daß sie an Bord eines lettischen Schiffes von Le Havre aus in See gestochen waren und etwa drei Wochen unterwegs sein würden. Als die dritte Woche anbrach, rief er täglich bei der Hafenmeisterei an. Am Freitag erfuhr er, daß das Schiff tags darauf anlegen sollte.

Er stand am Kai, als die Besatzung den Schauerleuten die Leinen zuwarf. Und eine Stunde später sah er sie die schwankende Gangway heruntersteigen, bepackt mit allerlei Taschen und Bündeln, obwohl er ihnen aufgetragen hatte, nur das Allernötigste mitzunehmen. Als sie ihn entdeckten, winkten sie ihm lächelnd zu und begaben sich zur Baracke der Einwanderungsbehörde.

Es dauerte über eine Stunde, bis sie herauskamen. Mit wehenden Haaren stürmte Chantal auf ihn zu, und als sie einander endlich in den Armen lagen, hatte Andrej das Gefühl, daß alles gutgehen werde.

Ein echter Amerikaner

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