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FÜNFTES KAPITEL
ОглавлениеBill Malloy schaute ein letztes Mal zur St. John’s Law School und wandte den Blick dann dem Verkehr auf der Clinton Avenue zu. Er hatte bereits die Hand erhoben, um ein Taxi anzuhalten, überlegte es sich dann aber anders. Ein Spaziergang könnte ganz nützlich sein. Vielleicht fiel ihm dabei ein, wie er es seinem Vater beibringen konnte. Dem Mann, der seit dem Tod seiner Frau seinen ganzen Ehrgeiz darauf verwandt hatte, daß sein Sohn Anwalt wurde. Anwalt zu sein bedeutete für Patrick Malloy, daß man sein Leben lang ausgesorgt hatte. Nicht mehr von den Launen hartherziger Arbeitgeber abhängig war. Ein gerissener Gewerkschaftsanwalt war es gewesen, der Patrick Malloy das Geld von der Versicherung verschafft hatte, als bei der Lokomotive, die er fuhr, die Bremsen versagt hatten und er einen Arm verlor. Zunächst hatten sie gar keine Abfindung zahlen wollen, und dann hatten sie eine Summe geboten, die Malloy nur zu gern angenommen hätte. Doch ein schlauer junger Anwalt hatte ihm davon abgeraten, und am Ende hatte er soviel bekommen, daß er sich am Stadtrand von Jackson Heights ein Haus hatte kaufen können. Ein zweistöckiges Haus, dessen Obergeschoß sie selbst bewohnten, während die beiden anderen Etagen so teuer vermietet wurden, daß sie fortan ein Leben in Wohlstand führen konnten – jedenfalls kam es Patrick Malloy nach der Dreizimmerwohnung in Astoria so vor. Praktisch über Nacht hatten sie den Aufstieg von der Arbeiterklasse in die untere Mittelschicht geschafft. Dennoch blieb Patrick Malloy den in der irischen Arbeiterklasse üblichen Wertmaßstäben treu: Man schuldete niemandem auch nur einen Cent, man hielt zu seinen Arbeitskollegen, und am Sonntag ging man ausnahmslos zur Messe.
Als Malloy auf das Haus zuging, wußte er, daß sein Vater ihn bedrängen würde, die Stelle bei der Eisenbahnergewerkschaft anzunehmen – der Brotherhood of Railway Clerks –, der Gewerkschaft, die seinem Vater Arbeit gegeben hatte, nachdem er seinen Arm verloren hatte. Zwei Jahre ohne Arbeit und Einkommen, während der Rechtsstreit um die Abfindung lief, und dann eine sichere Anstellung bei der Gewerkschaft. Die gesamten Ersparnisse der Familie waren bereits fünf Jahre zuvor aufgezehrt worden, als sie vergeblich versucht hatten, eine Behandlungsmethode für die unheilbare Krankheit seiner Mutter zu finden. Seit ihrem Tod hatte sein Vater alle Hoffnung auf ihn gesetzt, den geliebten Sohn. Er wiederum hatte sich nach besten Kräften darum bemüht, sich dessen als würdig zu erweisen. Er hatte auf seine eigentliche Leidenschaft verzichtet und war kein Baseballprofi geworden. Er hatte sich bereitwillig dem Wunsch seines Vaters gefügt und Jura studiert. Doch dessen hohe Meinung von der Gewerkschaft teilte er nicht. Er hatte durchaus Verständnis für die schwierige Lage der ausgebeuteten Arbeiterschaft. Doch die Haltung der Funktionäre in der Gewerkschaft seines Vaters, die noch immer längst verlorene Schlachten schlugen und lang und breit darüber diskutierten, ob sie zu Stalin oder lieber doch zu Roosevelt halten sollten, war ihm zu starrsinnig. Seiner Ansicht nach sollten sie sich lieber überlegen, was ihre Mitglieder wirklich von den Arbeitgebern wollten, statt mit seitenlangen Listen voller Beschwerden in die Besprechungen zu gehen. Mit diesen Listen machte man es den Arbeitgebern zu leicht. Sie konnten sich jederzeit ein, zwei Punkte heraussuchen und ein paar wertlose Zugeständnisse machen, was dann wiederum von den Gewerkschaftern als Sieg gefeiert wurde. Die ganzen Mißstände und Unsicherheiten aber blieben unverändert weiterbestehen.
Hinzu kamen die zwar aufrichtig gemeinten, aber dennoch ärgerlichen Warnungen vor einer Ehe mit einer nichtkatholischen Frau. Sein Vater konnte auf drei, vier Mischehen hinweisen, die gescheitert waren, obwohl er genau wußte, daß keine einzige davon an der Religion zerbrochen war. In Irland oder Italien, in katholischen Ländern also, mochte diese Haltung durchaus angebracht sein, nicht aber in den Vereinigten Staaten. Sein Vater hatte ihn aufgefordert, er solle ihm nur zwei Beispiele nennen, bei denen eine Mischehe glücklich verlaufen war, worauf er lediglich erwidern konnte, daß er die Leute nie nach ihrer Religionszugehörigkeit gefragt hatte. Er kümmerte sich nicht darum, welchem Glauben seine Freunde oder Bekannten anhingen.
Aber er stand in der Schuld dieses bescheidenen, gutmütigen Mannes, der sich ein Leben lang abgerackert hatte, um seiner Frau und seinem Sohn ein Zuhause zu bieten. Keinerlei Steckenpferd, weil man dabei nur in Versuchung geriet, Geld auszugeben. Kein Sportplatzbesuch, kein Alkohol und keinerlei Luxus – nur ab und zu ein paar kostenlos aus der örtlichen Bibliothek ausgeliehene Bücher und ein Fahrrad, mit dem er bis zum Verlust seines Armes zur Arbeit gefahren war. Danach wurde eben zu Fuß gegangen. Erst seitdem er Jura studierte, war ihm klargeworden, daß all diese Moralpredigten nur daher rührten, daß ein behinderter Mann ihm Vater und Mutter zugleich hatte sein wollen. Und daß die Vorsicht seines Vaters einer tiefen Unsicherheit entsprang. Der Furcht, man könne in einer harten, feindseligen Welt nicht überleben. Aber jetzt hatte er ein Blatt Papier in Händen, auf dem ihm bestätigt wurde, daß er dazu berechtigt war, im Staate New York als Jurist tätig zu sein.
Der alte Mann erwartete ihn. Er hatte Tee gekocht, den Tisch gedeckt und die Schälchen mit Milch und Zucker bereitgestellt. Er trug immer noch wollene Hemden mit abnehmbaren Krägen, die hinten und vorne angeknöpft wurden. Und zur Feier des Tages hatte er eine Krawatte umgebunden. Ein weißes Tuch lag auf dem Tisch, und neben der Teekanne stand eine braune Papiertüte.
Er sah, daß sein Vater auf die Pappröhre blickte, in der seine Urkunde steckte, und lächelnd reichte er sie ihm. Der alte Mann zog die Urkunde heraus und strich sie mit der Hand glatt. In gewisser Hinsicht eine symbolische Geste, dachte Malloy. Diese große, knotige Hand, die sanft über ein Blatt Papier strich, das für derart viele Opfer und Mühen stand.
Dann riß sein Vater die Papiertüte auf und holte einen Bilderrahmen heraus. Er nahm den Pappkarton auf der Rückseite ab, paßte die Urkunde ein und drückte die Klammern fest, die das Glas hielten.
»Woher hast du gewußt, wie groß sie ist, Dad?«
Der alte Mann grinste. »Ich hab’ angerufen. Im Büro – bei Miß Levinski. Sie hat eine für mich abgemessen.«
»Hast du ihr gesagt, wer du bist?«
»Selbstverständlich.«
»Meine Güte. Ich hoffe, sie erzählt es nicht herum.«
»Setz dich. Willst du Kuchen? Ich hab’ zwei von der Sorte gekauft, die du magst. Liebesknochen, richtig?«
Bill Malloy lächelte. »Du bist ein Engel. Aber wirklich.«
»Schon möglich. Jedenfalls hat McGinty gefragt, wann du im Büro antrittst. Nicht vor Montag, hab’ ich ihm gesagt. Ist das recht?«
»Ich nehm’s an.«
»Damit geht’s los, mein Junge. Lernen und sich mit Büchern und Lehrern rumzuschlagen ist ja schön und gut. Aber es richtig auszuüben ist was anderes.«
»Zwei Jahre, Dad. Und dann gehe ich meinen eigenen Weg.«
»Wenn du unbedingt willst, von mir aus. Vielleicht änderst du noch deine Meinung, wenn es soweit ist.«
»Dad, in einer Anwaltskanzlei kann ich mindestens doppelt soviel verdienen. Das weißt du doch.«
»Geld ist nicht alles. Es gibt auch noch was anderes.«
»Dad, Kathy und ich haben vor, in zwei Wochen zu heiraten.«
Er sah, wie sein Vater den Mund aufmachte und etwas erwidern wollte, doch dann stand er langsam auf und ging zu dem Hängeschrank in der Ecke. Er öffnete die Tür und griff hinein. Als er zum Tisch zurückkam, hatte er einen Briefumschlag in der Hand. Er legte ihn vor Bill hin und sagte: »Ich wünsche euch beiden alles erdenklich Gute. Da sind zweihundert Dollar drin, als kleine Starthilfe.«
Bill schaute seinen Vater an und ergriff dessen Hand, die auf dem Tisch lag.
»Ich liebe dich, Dad. Danke.« Und er küßte den alten Mann auf die Wange.
Bill Malloy dachte über das Gespräch mit seinem Vater nach, während er vor seiner Verabredung mit Kathy duschte und sich umzog. Zwei Jahre würde er bei der Gewerkschaft bleiben, aber danach wollte er sich eine Stelle bei einer Anwaltskanzlei suchen. Er fragte sich, warum sein Vater so rasch nachgegeben hatte, fast so als wolle er es hinter sich bringen. Und dabei hatte er immer wieder auf die Pergamenturkunde geblickt. Er lächelte, als ihm klar wurde, weshalb sein alter Herr so fügsam gewesen war. Er hatte es kaum abwarten können, bis sie im Rahmen steckte, damit er sie im Wohnzimmer an die Wand hängen konnte, neben das Bild, auf dem er seinem anderen Idol die Hand schüttelte. Harris hieß der Mann – er war sein Gewerkschaftsvorsitzender, und das Foto war bei der Jahreshauptversammlung aufgenommen worden. Bill Malloy hielt nichts von Heldenverehrung. Er wußte aus Erfahrung, daß Helden nur allzu oft auf tönernen Füßen standen. Seiner Ansicht nach sollte man einen Menschen lieber aufgrund seiner Fähigkeiten bewundern und es auch dabei belassen.
Sie speisten bei Nico’s – Pasta, Cassataeis und für jeden ein Glas roten Hauswein. Und mit einem Mal kam sich Malloy wieder blutjung vor. Jung und zuversichtlich. Er griff über den Tisch, nahm ihre Hand und sagte lächelnd: »Du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt?«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Was?«
»Das weißt du doch.«
»Dann sprich es aus.«
»Willst du mich immer noch heiraten?«
»Ich habe doch schon vor zwei Monaten ja gesagt.«
»Und wann?«
»Was ist mit deinem Vater?«
»Ist doch egal. Hier geht’s nur um dich und mich.«
»Das wäre kein guter Anfang für uns, Bill. Er ist ein anständiger Mann, und er kümmert sich um dich. Wir wollen ihm doch nicht weh tun.«
»Ich habe heute abend mit ihm gesprochen. Ich habe ihm gesagt, daß wir in ein paar Wochen heiraten wollen.« Er stockte. »Außerdem habe ich ihm gesagt, daß ich nur zwei Jahre als Rechtsberater für die Gewerkschaft arbeiten werde.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat sich damit abgefunden. Hat uns alles Gute gewünscht.« Er lächelte. »Er ist ein großer Verehrer von dir, trotz der ganzen Frömmelei und des Getues von wegen Nichtkatholiken. Und er hat zweihundert Dollar gespart, die er uns als Hochzeitsgeschenk gegeben hat.«
»Er ist ein großartiger alter Knabe. Aber er wird sehr einsam sein ohne dich.«
»Wir können ihn ja so oft wie möglich besuchen. Außerdem sehe ich ihn sowieso jeden Tag im Gewerkschaftsbüro.«
»Darf ich dir etwas vorschlagen?«
»Klar. Worum geht es?«
»Du hast gesagt, daß die O’Haras zum Monatsende umziehen wollen. Wieso mieten wir uns nicht bei deinem Vater ein Stockwerk, bis wir wirklich eine eigenes Zuhause brauchen.«
»Meinst du das im Ernst?«
»Selbstverständlich.«
Sie sah ihm sofort an, wie froh und erleichtert er war.
»Meine Güte, er wird sich ja so freuen.« Zärtlich blickte er sie an. »Ich liebe dich so sehr, Kathy. Ich bin ja so glücklich. Ich kann es kaum glauben.«
Zwei Monate später, an einem Mittwoch, wurde in Moskau und Berlin bekanntgegeben, daß Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt geschlossen hatten. Es war der 23. August 1939, und tags darauf wurden Bill Malloy und Katharine Sarah Lane getraut.
Der Präsident und die Berater im Weißen Haus wußten, daß damit in Europa höchste Alarmstufe herrschte und man die Auswirkungen auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans zu spüren bekommen würde. Bei einer Besprechung im Oval Office, dem Arbeitszimmer des Präsidenten, überprüfte Roosevelt gemeinsam mit den Parteiführern vom Capitol Hill die möglichen Folgen.
Der Präsident kam zu dem Schluß, daß die Chancen der Alliierten im Falle einer militärischen Auseinandersetzung allenfalls fifty-fifty stünden. Möglicherweise, so schlug er vor, ließe sich ein Krieg in Europa verhindern, wenn die Vereinigten Staaten das Neutralitätsgesetz aufheben würden, das sie dazu verpflichtete, an keine der kriegführenden Parteien Waffen zu liefern. Allein schon die Überprüfung dieses Gesetzes, so sein Kalkül, könnte als Abschreckungsmittel dienen.
Der Mann, den er auf seine Seite ziehen mußte, war Senator William Borah, der wiederum den Senat hätte überzeugen können. Doch Borah weigerte sich. »Dieses Jahr wird es keinen Krieg geben«, behauptete er. »Die ganze Hysterie ist doch nur künsdich herbeigeführt.«
Als Außenminister Cordeil Hull verzweifelt einwandte: »Ich wünschte, der Senator käme in mein Büro und würde die Telegramme lesen«, erwiderte Borah hochnäsig: »Ich verfüge ebenfalls über Informationen aus Europa, und ich halte meine Quellen für zuverlässiger als die des Außenministeriums.«
Nachdem sein Vorschlag verworfen worden war, blickte Roosevelt die Männer am Tisch an und sagte leise: »Nun, Gentlemen. Die Verantwortung liegt bei Ihnen. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«
Den Parteimitgliedern in aller Welt kam dieser Pakt unglaublich vor. Ein Pakt mit den Nazis? Doch die breite Masse der Amerikaner zeigte kein großes Interesse daran. Wenn sie das Ereignis überhaupt wahrnahmen, dann nur als weiteres Beispiel für das Chaos, das in Europa herrschte.