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ELFTES KAPITEL

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In den ersten paar Tagen nach der Kriegserklärung an die Achsenmächte war die Lage beim OSS trotz der monatelangen Vorplanungen chaotisch. Es dauerte fast zwei Wochen, bis man Malloy befahl, sich bei Lieutenant Colonel Williams zu melden. Das Gespräch fand in einer Hotelsuite statt, die für die mit dem Einsatz in Europa betrauten Abteilungen des OSS requiriert worden war, bis man ein größeres und passenderes Gebäude zugewiesen bekam.

Es gab keinen richtigen Schreibtisch, nur einen aufklappbaren Tisch aus blankem Holz, wie ihn die Tapezierer brauchen. Der Colonel schüttelte Malloy die Hand und winkte ihn zu einem der ledernen Armsessel.

»Machen Sie es sich bequem, Malloy.« Er wartete, bis Malloy Platz genommen hatte, und fuhr dann fort. »Wie ich Ihren Unterlagen entnehme, haben Sie am College Französisch als Nebenfach gewählt. Wie steht es heute damit?«

Malloy lächelte und zuckte die Achseln. »Ich habe das Examen mit Ach und Krach bestanden und mich nicht mehr damit befaßt, seit ich mit dem Jurastudium fertig bin.«

»Na schön. Was wissen Sie über eine britische Einheit namens Special Operations Executive?«

»Ich habe einen OSS-Bericht darüber gelesen, aber das ist alles. Ich weiß nur, daß sie Leute zu Sabotageunternehmen in die besetzten europäischen Länder schicken.«

»Okay. Und was verstehen Sie von Eisenbahnen?«

Malloy wirkte überrascht. »Überhaupt nichts. Jedenfalls nicht mehr als jeder andere.« Dann stockte er und lächelte. »Ich glaube, das stimmt nicht ganz. Mein Vater war Lokomotivführer, und ich muß bei seinen Eisenbahnergeschichten doch einiges aufgeschnappt haben. Über die Strecken, die Fahrpläne, die Betriebsabläufe und dergleichen mehr.«

»Und über die Gewerkschaften?«

Malloy lachte. »Natürlich. Er war ein eingefleischter Gewerkschafter.«

»Und Sie. Unterstützen Sie die Gewerkschaften? Sie haben für eine kleine Gewerkschaft gearbeitet, nicht wahr?«

»Ja. Aber ich war nie Gewerkschaftsmitglied.«

»Warum nicht?«

»Die haben es sich für meinen Geschmack zu einfach gemacht. Bei denen ging es nur um Arbeiter kontra Arbeitgeber. Und auf diese Weise zieht der Arbeiter immer den kürzeren. Man hätte sich viel genauer überlegen sollen, was man wirklich wollte, mehr Geld, bessere Lebensbedingungen oder sichere Arbeitsplätze. Es gab gesprächsbereite Arbeitgeber, aber sie wurden wie die schlimmsten Leuteschinder behandelt. Zuviel Politik und nicht genügend Pragmatismus.«

Williams zog die Augenbrauen hoch. »Interessant. Nun ja, wenden wir uns wieder dem Alltag zu. Wir wollen Sie nach London schicken. Sie werden vorübergehend zur SOE abgestellt werden, wo man Sie ausbilden wird. Aber vor Ihrer Abreise werden Sie einige Wochen unter Aufsicht eines Fachmannes bei einer unserer großen Eisenbahngesellschaften arbeiten. Im Zuge Ihrer SOE-Schulung werden Sie im Fallschirmspringen und an der Waffe ausgebildet werden. Und Sie werden lernen, wie man ein Agentennetz aufbaut.

Wenn Sie das hinter sich haben, wird man Sie auf den Einsatz in Frankreich vorbereiten. Verstanden?«

»Werde ich der SOE oder dem OSS unterstellt sein?«

»Sowohl als auch. Sie unterstehen unserer Niederlassung in London, aber wir möchten, daß Sie sich im Feld mit den Leuten in dem Netz abstimmen, dem Sie zugeteilt werden. Die sind zuständig für Ihre Geldmittel, Ihre Sicherheit und Ihre Ausrüstung, beispielsweise Ihr Funkgerät.«

»Was hat die SOE mit der Eisenbahn zu tun?«

Williams zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Okay. Das kann ich Ihnen erklären.« Er hielt kurz inne. »Früher oder später werden wir in Europa landen müssen. Mit Hunderttausenden von Männern. Eine derartige Streitmacht mitsamt Waffen läßt sich nicht von heute auf morgen aufbieten. Könnte zwei, drei Jahre dauern, bis wir soweit sind. Straßen und Schienenwege werden von entscheidender Bedeutung sein, denn darauf werden die Deutschen Truppen und Nachschub transportieren, um unserem Angriff zu begegnen. Ihre Aufgabe wird es sein, uns über das gesamte französische Eisenbahnsystem auf dem laufenden zu halten. Über Schienenführung, Signale, Lokschuppen, Brücken, Fahrpläne, darüber, wie die Deutschen den Betrieb aufrechterhalten. Vor allem aber müssen Sie auskundschaften, an welchen Stellen ein Sabotageakt den meisten Erfolg verspricht. Das Untergrundnetz kann Ihnen Kontakte zu den französischen Eisenbahnergewerkschaften und zu Eisenbahnern vermitteln, die mit der Résistance sympathisieren. Sie werden also«, sagte er lächelnd, »alle Hände voll zu tun haben.«

»Und wie erfährt man in London, was ich herausgefunden habe?«

»Das wird man Ihnen bei der SOE-Ausbildung beibringen.« Er schaute auf seine Uhr und stand auf. »Ich muß Sie jetzt leider rausschmeißen. Ich habe noch eine weitere Besprechung. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sollte eine sehr interessante Aufgabe sein.«

»Ich muß es nur noch meiner Frau beibringen.«

»Was haben Sie ihr bislang erzählt?«

»Nur, daß ich in geheimer Tätigkeit bei der Regierung arbeite.«

»Was macht sie?«

»Sie ist mit mir hier in in Washington. Arbeitet als Sekretärin bei einem Hotelier.«

»Wäre sie bereit, sich zu verändern? Das OSS braucht gute Sekretärinnen. Verschwiegene vor allem.«

»Ich werde sie fragen. Sie ist bestimmt einverstanden.«

»Sagen Sie mir auf alle Fälle Bescheid.«

Langsam spazierte Andrej die 20th Street entlang und blieb dann vor einer Reihe kleiner Geschäfte gegenüber dem Flatiron Building stehen. Der dritte Laden war ein Schuhgeschäft, und als er langsam daran vorbeiging, sah er, daß das rote Paar Schuhe in der vordersten Reihe im Schaufenster verkehrt herum stand. Der rechte und der linke Schuh waren vertauscht. Er lief weiter, überquerte an der nächsten Ampel die Straße und schlenderte zurück zum Flatiron Building. Sein kleines Büro befand sich im neunten Stock, einer reinen Geschäftsetage mit Ein- und Zweizimmerbüros, die man monatsweise mieten konnte. Er schloß die Tür auf und hängte seinen Mantel an den Haken auf der Innenseite.

Am Boden und auf einem Tisch an der Wand standen Bücherstapel. Neben der Tür war ein Titelblatt der Saturday Evening Post an die Wand geheftet. Ein Gemälde von Norman Rockwell, das eine typische amerikanische Farmersfamilie beim Anblick eines neugeborenen Babys in einer selbstgebauten Wiege zeigte.

Andrej öffnete die Post. Ein halbes Dutzend Angebote von Buchhändlern aus anderen Städten und zwei Anfragen. Die ein betraf eine Erstausgabe der Gesammelten Gedichte von Robert Frost, die andere eine Erstausgabe von Pearl Bucks Die gute Erde.

Nachdem er zwei Anrufe erledigt hatte, schaute er auf seine Uhr, zog seinen Mantel an, schloß das Büro ab und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß. Er überquerte die Straße und ging wieder an dem Schuhgeschäft vorbei. Die roten Schuhe standen nicht mehr im Fenster.

Er stellte den Mantelkragen hoch und ging durch den schneidenden Wind den Broadway entlang in Richtung Union Square. Fünf Minuten später bog er in die East 17th Street ab und steuerte den Coffee-Shop neben der Apotheke an. Er setzte sich an einen Tisch in der hinteren Ecke und bestellte sich Kaffee und ein Rindfleischsandwich. Ein paar Minuten später kam ein Mann aus der Küche. Er hatte eine New York Times dabei, die er zusammen mit der Rechnung auf den Tisch legte. Er wechselte ein paar kurze Worte mit Andrej, kassierte dann ab, gab ihm das Wechselgeld zurück und verschwand wieder in der Küche. Andrej nahm die auf dem Tisch liegengebliebene Zeitung und schob sie beim Aufstehen in seine Manteltasche.

Sobald er wieder in seinem Büro war, nahm er John Steinbecks Von Mäusen und Menschen und entzifferte langsam und sorgfältig die Nachricht. Als er fertig war, las er mehrmals den Text, verbrannte dann den Zettel im Waschbecken und spülte die Asche hinunter.

Am Ende landete Malloy in der Zentrale der American Railways Supervisor Association, der amerikanischen Bahnaufsicht, wo er in den nächsten zwei Wochen bei einem ranghohen Eisenbahner im Ruhestand in die Lehre gehen sollte.

Malloy hatte keine Ahnung gehabt, daß der Bahnbetrieb so kompliziert war. Für ihn bestand die Eisenbahn einfach aus Schienen, Lokomotiven und Waggons. Bereits am ersten Tag mußte er sich eines besseren belehren lassen. Hector Mclean, der Mann, der ihn unter seine Fittiche nahm, war als Vizepräsident für die drei wichtigsten Betriebsbereiche zuständig gewesen – die Betriebsabwicklung sowie die Wartung von Gleisanlagen und Gerät.

Zwölf Stunden pro Tag dauerte der Unterricht, und dennoch reichte die Zeit nicht aus, ihn auch mit der Rechts-, der Personal- und der kaufmännischen Abteilung vertraut zu machen.

Aber nach den zwei Wochen wußte er, wo ein Schienenstrang am störungsanfälligsten war, wie man mit einer winzigen Sprengladung eine Lokomotive außer Betrieb setzen und aus sicherem Abstand einen Güterzug entgleisen lassen konnte. Außerdem hatte man ihm beigebracht, wie sich Nutzlast und Bestimmungsort der von den Deutschen eingesetzten Güter- und Personenzüge feststellen ließen. Bei der SOE-Ausbildung sollte er zudem lernen, woran man erkennen konnte, welche Einheiten verlegt wurden.

Als er zwei Wochen später nach Washington zurückkam, schwirrte ihm der Kopf vor lauter Begriffen wie Siederohre, Rieselblech, automatische Schmierpumpe, Rauchrohre, Reglerventil, Kolbenstange und Dampfzylinder. Und er wußte, wie empfindlich die Schweißnähte an einem Langkessel waren.

Erschöpft saß Aarons auf der Bank neben dem Eingang zum Zoo im Chapultepec-Park. Rundum waren Tausende von Menschen, die beim Picknick saßen, zu Mittag aßen, mit ihren Kindern spielten oder einfach durch den Park spazierten. Es schien, als habe ganz Mexico City beschlossen, den Sonntag im Chapultepec zu verbringen. Trotz der Dringlichkeit der Nachricht hatte er sich auf Umwegen nach Mexiko begeben, so daß die Reise alles in allem fünf Tage gedauert hatte. Den Treffpunkt hatte man ihm genannt. Auch die Zeit – es mußte an einem Sonntag sein. Die Kontaktperson sollte er angeblich kennen. Erst vor zwei Stunden war er am Busbahnhof eingetroffen.

In der Ferne sah er die schwindelerregend hohe Schleife der Achterbahn im Vergnügungspark, und eine Anzahl von Wegweisern verriet einem, wie man zu den Museen, den Ruderbooten am See und den Restaurants gelangte. Im Reiseführer hatte gestanden, daß der Park ursprünglich einmal das Jagdgebiet der Aztekenherrscher gewesen war.

Zweimal schon waren ihm in der Sonne die Augen zugefallen, und nur das Gelächter der Menschen hatte ihn wieder aufgeweckt. Schließlich aber schlief er ein, die abgewetzte Segeltuchtasche auf dem Schoß, die eine Hand durch die Ledergriffe geschoben. Als er aufwachte, saß eine Frau neben ihm auf der Bank. Eine Unbekannte. Er rieb sich die Augen und schaute auf die Uhr. Er hatte fast eine Stunde geschlafen.

Es gab zwei Wege, auf denen seine Kontaktperson kommen konnte, und beide hatte er genau im Blick. Er hatte etwa zehn Minuten lang Ausschau gehalten, als jemand neben ihm auf russisch sagte: »Willkommen in Mexico City, Genosse Aarons. Wir haben dich schon letzten Sonntag erwartet.«

Er drehte sich um und schaute die Frau an, erkannte sie aber nicht. Sie lächelte und sagte: »Du erinnerst dich nicht mehr an mich, stimmt’s, Andrej?«

Er schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

»Tja, das ist lange her, mein Freund.« Sie lächelte und sagte leise: »Kuskowo-Palast – die Komintern-Schule – und hinterher die Spezialausbildung in der Wohnung in Moskau. Als du nicht gewußt hast, ob du für die Komintern oder als Spion arbeiten sollst.«

»Du bist die kleine Spanierin. Jetzt erinnere ich mich wieder.«

Sie lachte. »Klein schon lange nicht mehr, Andrej.«

»Was machst du hier?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin Spanierin.« Sie lächelte. »Die meinen, ich wäre nützlich. Und du? Was machst du?«

Er lächelte ebenfalls. »Solche Fragen beantworte ich nicht, genau wie du.«

»Du wirst bei mir wohnen, solange du hier bist. Sieht so aus, als müßtest du eine Woche hierbleiben.« Sie wandte sich um und schaute ihn an. »Dein alter Freund Lensky ist hier. Eigens, um dich zu sehen. Ganz schöne Ehre heutzutage, glaube mir.«

»Wie lange bist du schon in Mexiko?«

Sie seufzte. »Schon lange.«

»Wann will man mich sprechen?«

»Heute abend um zehn. Du hast noch Zeit. Wenn du möchtest, kannst du bei mir ein bißchen schlafen.« Sie stand auf. »Wir sollten lieber gehen.«

Sie führte ihn zu einer breiten Avenida und hielt ein weißes Taxi mit einem gelben Streifen an. Sobald sie auf dem Rücksitz Platz genommen hatten, gab sie dem Fahrer auf spanisch Anweisungen und sagte dann auf englisch: »Die Taxis mit den orange-roten Streifen sind sitio, das heißt, sie fahren nicht herum. Und sie kosten doppelt soviel. Keine Taxameter.«

Er schaute aus dem Fenster und sagte: »Ich habe noch nie eine Stadt gesehen, in der es so viele Blumen gibt.«

»An jeder Avenida und jeder Straße sind Blumen. Die Mexikaner lieben Blumen. Ich übrigens auch.«

»Muß ein glückliches Völkchen sein.«

Sie zuckte die Achseln. »Das sind sie auch, aber nicht wegen der Blumen. Sie leben in Hütten ohne jede Kanalisation, haben keinerlei medizinische Versorgung, keine Arbeit.«

»Wie kommen sie zurecht?«

»Sie haben Mumm. Sie kommen nicht zurecht, sie überleben. Sie sterben schon als Kinder. Die Mädchen gehen auf den Strich und die Männer auf Diebeszug. Wenn sie Glück haben.«

Das Taxi hielt vor einem Mietshaus. Sie zahlte den Fahrpreis und nahm ihn mit in ihre Wohnung im vierten Stock. Sie war klein und ordentlich; nichts deutete auf die Anwesenheit eines Mannes hin. Sie schloß die Tür ab und sagte: »Du kannst auf der Couch beim Fenster übernachten. Morgen bekomme ich eine Luftmatratze.« Sie strich die Haare zurück. »Du siehst müde aus. Möchtest du ein bißchen schlafen.«

»Würde es dir etwas ausmachen? Eine Stunde würde mir schon reichen.«

»Nur zu. In einer Stunde wecke ich dich. Ich sage Bescheid, daß du hier bist.«

Er schlief tief und fest, als sie ihn an der Schulter rüttelte, und als er die Augen aufschlug, wußte er zunächst nicht, wo er war. Anscheinend ging es ihm sein ganzes Leben lang so. Und dann sah er, daß sie ihn anschaute. »Auf dem Tisch steht Kaffee für dich. Du hast noch eine Stunde Zeit, bis wir aufbrechen müssen. Das Badezimmer ist da drüben.« Er folgte ihr zu der offenen Tür.

Als er sich gewaschen und rasiert hatte, ging er wieder ins Wohnzimmer. Sie saß an einem kleinen Tisch, trank Kaffee und deutete auf die zweite Tasse. Auf dem Teller daneben lag ein Sandwich. Mit Käse und Tomaten.

»Erzähl mir was von deiner Familie, Andrej. Ich habe gehört, du habest eine sehr hübsche Französin geehelicht. Bist du noch verheiratet?«

Er lachte. »Aber ja. Wieso bist du so überrascht?«

Sie zuckte die Achseln. »Genossen geben keine besonders guten Ehemänner ab. Vor allem die Russen.«

»Was stört dich an den Russen?«

»In Rußland mögen sie ganz in Ordnung sein, aber kaum sind sie in Amerika, fliegen sie auf die erstbeste gerissene kleine Mieze, und fort sind sie.«

»Hast du solche Männer kennengelernt?«

»Viel zu viele. Für Russen gilt das gleiche wie für spanischen Wein: Reisen bekommt ihnen nicht.«

»Und du? Bist du verheiratet?«

»Ich war’s mal. Sobald ich hierhergekommen bin, habe ich mich scheiden lassen.« Sie schwieg einen Moment. »Hast du Kinder?«

»Nein.«

Sie lächelte. »Keinerlei Risiko eingehen, was?«

»Genau.«

»Du hast aber Brüder und Schwestern, stimmt’s?«

»Einen Bruder, eine Schwester.«

»Siehst du sie gelegentlich?«

Er lächelte. »Jeden Tag. Wir wohnen im selben Haus.«

»Arbeiten sie auch für die Partei?«

»Sagen wir mal, sie tun alles, worum ich sie bitte.«

»Man möchte nicht, daß du zur Botschaft gehst. Sie steht unter ständiger Beobachtung durch FBI-Agenten.«

»Wo soll ich statt dessen hingehen?«

»Zu einem Privathaus, nicht weit weg von hier, auf der anderen Seite des Straßenmarktes.« Sie stand auf. »Wir können hinlaufen, dann kannst du dir den Markt ansehen. Er ist für die Einheimischen, nicht für die Touristen.«

Der Mercado de Sonora an der Calle San Nicolas wurde von den Einheimischen »Hexenmarkt« genannt, weil es dort seltsame Dinge zu kaufen gab, denen angeblich magische Kräfte innewohnten.

Sie deutete auf die Verkaufsstände, und Aarons blieb stehen und fragte sie, wofür die diversen Gegenstände bestimmt waren.

»Die Knoblauchbündel hängt man zu Hause auf, um sich vor Neid zu schützen.«

»Und die toten Vögel?«

Sie lächelte. »Das sind getrocknete Kolibris. Die sind für Männer, damit sie Erfolg bei den Frauen haben. Und die Kerzen daneben sind Glücks- oder Unglückskerzen, je nachdem. Die Seife in dem Korb dort soll einem Reichtum bescheren.«

»Und die lebenden Tiere in den Käfigen, die dort hinten hängen?«

»Die sind zum Opfern.«

»Meine Güte, die Leute hier müssen verrückt sein.«

»Verrückt ist jeder, Andrej. Hast du das noch nicht begriffen? Was ist denn mit den russischen Bauern und ihren Ikonen? Oder mit meinem Volk, das Stiere-Umbringen für eine öffentliche Belustigung hält.«

Er schaute sie an. »Weißt du was? Ich weiß nicht mal, wie du heißt.«

Sie zuckte die Achseln. »Maria. Maria Consuela Garcia.«

»Was hat dich so verändert?«

»Inwiefern verändert?«

»In Moskau bist du so begeistert gewesen. Jetzt klingst du eher zynisch.«

»Vielleicht bin ich das. Ich habe im Lauf der Jahre ein paar Lektionen gelernt.«

»Was für Lektionen?«

Sie seufzte und wandte den Blick ab, hin zu den Leuten vor den Marktbuden. Dann schaute sie ihn wieder an. »Ich habe gelernt, daß keinerlei Religion, auch kein politisches Glaubensbekenntnis, funktionieren kann.«

»Wieso nicht?«

Sie zuckte die Achseln und lächelte. »Weil die Menschen menschlich sind. Sie wollen ihr Leben auf ihre Art gestalten.«

»Selbst wenn es dadurch schlechter wird?«

»Ja. Selbst wenn es dadurch schlechter wird. Sie glauben es aber nicht. Und grundsätzlich kann ich ihnen nur beipflichten.«

»Hast du das unseren Leuten gesagt?«

»Selbstverständlich nicht. Sonst wäre ich nicht hier, sondern in irgendeinem Arbeitslager. Und ich frage mich, was das für eine Partei ist, deren Mitglieder nicht einmal ihre Meinung sagen dürfen.«

Aarons schwieg einen Augenblick, dann berührte er sie sanft an der Schulter und sagte: »Was mich betrifft – ich habe nicht gehört, was du gesagt hast.« Er schüttelte langsam den Kopf und führ leise fort: »Die Nazis bringen unsere Leute um – zu Zehntausenden, Tag für Tag. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.«

Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber dann machte sie ihn wieder zu, nahm ihn am Arm und führte ihn durch die enge Gasse zu der Avenida.

Es war eine mittelgroße, von einer weißgetünchten Mauer umgebene Villa. Ein Gärtner sprengte mit einem Wasserschlauch die Blumenbeete. Der Mexikaner wandte den Blick nicht von seiner Arbeit, als Aarons, begleitet vom Hausmädchen, die Steintreppe hinaufstieg. Die Haustür war offen, und dahinter erstreckte sich ein Vorsaal mit Marmorboden.

Lensky empfing ihn mit ausgestreckten Händen, umarmte ihn und küßte ihn nach russischem Brauch auf beide Wangen. Dann trat er zurück und musterte Aarons. Er schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders.

»Da oben steht uns ein Zimmer zur Verfügung. Gehen wir hinauf.«

Das Zimmer war ziemlich klein, aber kostspielig eingerichtet. Die Sessel bestanden aus Korbgeflecht, waren aber an Rückenlehne und Sitzfläche mit dicken, weichen Polstern versehen.

Als sie Platz genommen hatten, sagte Lensky: »Weißt du, weshalb wir dich sprechen wollten?«

»Nein. Ich habe nur Bescheid bekommen, daß ich nach Mexico City kommen soll.«

»Wir haben da anscheinend ein Problem, Andrej.«

»Worum geht es?«

»Kennst du Melnikow, von unserer Botschaft in Washington?«

»Ich habe von ihm gehört, bin ihm aber nie begegnet. Mein Auftrag lautet, daß ich jeden Kontakt mit der Botschaft vermeiden soll. Es sei denn, es geht um etwas absolut Lebenswichtiges.«

»Er liefert die politischen Lageberichte nach Moskau. Seine Berichte stimmen nicht mit deinen überein.«

»In welcher Hinsicht?«

»Hinsichtlich der Haltung der Amerikaner zur Sowjetunion und zum Krieg.«

»Wie lautet seine Meinung?«

»Er glaubt, die Amerikaner lassen sich bewußt Zeit, damit die Deutschen noch mehr Russen abschlachten können.«

»Ich glaube, er irrt, aber der Standpunkt ist durchaus berechtigt. Ich habe den Ortsvorsitzenden aufgetragen, für mehr Rückhalt und Einsatz zu werben. Aber die Amerikaner befinden sich erst ein paar Monate im Krieg. Sie ziehen gerade Zehntausende von Männern ein, in den Fabriken werden Tag und Nacht Waffen gebaut.«

»In Moskau zieht man seinen Standpunkt vor.«

Aarons runzelte die Stirn. »Es kommt doch nicht darauf an, welchen Standpunkt man vertritt. Auf die Wahrheit kommt es an – auf die Tatsachen.«

Lensky lächelte. »Sei nicht so naiv, Andrej. Melnikows Meinung kommt Moskau gelegen. Man bringt schließlich große Opfer. Man braucht einen ...« Er brach ab.

»Einen Sündenbock vielleicht?« sagte Aarons.

»Verbau dir nicht die Zukunft, Andrej. In Moskau bewundern alle deine Arbeit. Deine Akte liest sich wunderbar. So etwas ruiniert man nicht.«

»Sie meinen, die wollen die Wahrheit nicht hören, wenn sie ihnen nicht paßt?«

»Darüber hat allein Moskau zu befinden.«

»Und was möchten Sie von mir?«

»In Moskau sieht man durchaus ein, daß du hier in Amerika unglaublich gute Arbeit geleistet hast, bevor der Krieg ausbrach. Viele der Argumente, die du zur Verteidigung der Partei vorgebracht hast, haben Geschichte gemacht. Deine Funktion wird in vollem Umfang anerkannt. Aber jetzt befinden wir uns in einer neuen Phase. Da draußen tobt ein Weltkrieg, und wir müssen unsere bewährten Kräfte erneut in die Pflicht nehmen. Was wiederum bedeutet, daß es auch für dich eine neue Funktion gibt.«

Lensky wartete auf eine Antwort, aber als Aarons schwieg, fuhr er fort. »Von nun an arbeitest du ausschließlich für den Geheimdienst. Du hast den Oberbefehl über drei unserer Netze in New York. Es gibt da gewisse Vorgänge, über die wir Bescheid wissen müssen. Ich habe zwei Experten dabei, die dich in alles einweisen werden. Und ich habe jemanden, der dir zeigen kann, wie man das neue Funkgerät bedient. Ein Funkgerät, mit dem du dich unverzüglich mit Moskau in Verbindung setzen kannst, direkt oder über Kanada.« Lensky lächelte. »Man hat dich befördert, Andrej. Du bist jetzt Oberstleutnant, und deine direkten Ansprechpartner sind der Leiter des Ersten Hauptdirektorats, ich als Vertreter des Kreml und Genosse Tokarow beim Politbüro. Du bist unser ranghöchster Geheimagent in den USA.«

»Wissen die Führungsoffiziere der anderen Netze darüber Bescheid?«

»Sie werden es erfahren, wenn wir beide hier fertig sind.«

»Wer finanziert die Netze, die ich führen soll?«

»Die vorhandenen Verbindungen werden weiter bestehen bleiben, aber wir wollen die Mittel verdoppeln bis verdreifachen. Für besondere Einsätze wird dir ein eigener Fonds zur Verfügung stehen. Du wirst einhundertfünfzigtausend Dollar pro Monat beziehen, die dir über mehrere Bankkonten unter verschiedenen Namen zugänglich gemacht werden. In den nächsten zwei Tagen werden wir das alles noch genau durchgehen.«

»Wem bin ich in den Vereinigten Staaten unterstellt?«

»Niemandem. Du wirst Moskau direkt unterstehen.«

»Und man will von mir keine Berichte zur politische Lage in Amerika?«

»Nein. Es sei denn, man bittet dich ausdrücklich darum. Es werden Zeiten kommen, in denen man deine Meinung wird hören wollen, aber das gehört nicht zu deinem eigentlichen Aufgabengebiet.«

»Und ich darf auch meine ehrliche Meinung sagen?«

Lensky seufzte. »Ja.« Er schwieg einen Moment. »Komm morgen um zehn wieder vorbei, damit wir anfangen können.« Als Aarons aufstand, sagte Lensky: »Wie kommst du mit Genossin Garcia zurecht?«

»Ich habe die meiste Zeit geschlafen. Sie redet nicht viel.«

Lensky verzog das Gesicht. »Das höre ich gern.«

Als sie zu ihrem Haus zurückgingen, sagte sie: »Hast du das Problem gelöst?«

»Wer hat denn etwas von einem Problem gesagt?«

Sie lachte leise. »Ich habe schon ziemlich lange mit solchen Sachen zu tun, Andrej. Ich kann es riechen. Es ist eine Art ritueller Tanz, ein Ballett. Ein Pas de deux, bei dem alle Schritte einstudiert sind – und dann die wunderschön perlende Musik, wenn alles gut ausgeht. Ansonsten natürlich – ein letzter Nachhall und dann Stille, wenn die Eisentür ins Schloß fällt.«

»Und was für Musik hörst du heute nacht?«

»Ich weiß es nicht genau. Deswegen habe ich ja gefragt.«

»Vielleicht sollte ich dir die Tarotkarten kaufen, die wir vorhin auf dem Markt gesehen haben.«

Sie lachte. »Warum nicht?«

Die Besprechungen zogen sich über drei Tage hin, und den vierten und letzten Tag verbrachte er mit Lensky allein. Lensky wirkte jetzt gelöster. Er schilderte ihm, wie schwierig es für die Sowjetunion sei, Krieg mit den Deutschen zu führen, Panzer, Flugzeuge und Waffen herzustellen und gleichzeitig die Bevölkerung mit Nahrung zu versorgen. Am frühen Abend speisten sie gemeinsam, und als sie beim Kaffee angelangt waren, sagte Lensky: »Hast du manchmal Sehnsucht nach Moskau, Andrej?«

Aarons zuckte die Achseln. »Ich kenne mich dort ja gar nicht richtig aus. Ich war noch ein Kind, als wir fortgezogen sind. Alles, was ich über Moskau und Rußland weiß, habe ich entweder in den paar Monaten auf der Schulung erfahren, oder mein Vater hat es mir erzählt. Er hat sich sehr danach gesehnt.«

»Sobald der Krieg vorbei ist, mußt du nach Moskau kommen. Die Leute kennenlernen, auf die es ankommt, die Hochachtung genießen, die dir angesichts deiner Taten von vielen Seiten gezollt werden wird.« Er hielt kurz inne. »Erzähl mir von deiner Familie.«

»Mein Bruder wird demnächst heiraten. Eine Einheimische. Er hilft mir bei unserer Sache.«

»Wodurch?«

»Als Kurier. Er erledigt alles, was ich ihm auftrage. Chantal, meine Frau, und meine Schwester Anna arbeiten in der Buchhandlung. Wir verdienen so viel, daß wir davon leben können.« Er lächelte kurz. »Wir kommen zurecht.«

»Wie gesagt, wenn das hier vorbei ist, wird der Zeitpunkt kommen, da all die, die ihren Beitrag zum Überleben unseres Volkes geleistet haben, ihren gerechten Lohn erhalten. Niemand wird übersehen werden.«

»Wie ist das Leben in Moskau?«

Lensky seufzte. »Nicht einfach. Die Partei setzt mich als eine Art Nothelfer ein, so daß ich ein Problem ums andere am Hals habe. Persönliche Animositäten, Kritik an politischen Entscheidungen, Zank und Hader selbst zu Kriegszeiten.«

»Was ist mit dem Antisemitismus?«

Lensky schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er leise: »Ich bin davon nicht betroffen. Du auch nicht.«

Die Gastgeber hatten allerlei Beziehungen spielen lassen und Aarons einen Platz in der Maschine nach San Diego besorgt. Maria Consuela begleitete ihn zum Flughafen und wartete, bis sein Flug aufgerufen wurde.

Zwei Tage später stieg er in eine Maschine nach Boston, und von dort aus fuhr er mit dem Zug nach New York und dann mit der U-Bahn nach Brighton Beach.

Ein echter Amerikaner

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