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ZWEITES KAPITEL

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Während der Zug durch das verschneite polnische Tiefland rollte, fragte er sich, ob er das Richtige getan hatte. Es war schon schlimm genug gewesen, als Rosa noch gelebt hatte: das Chaos in Moskau, der verrückte Mönch im Palast, die dritte Duma, die ebenso erfolglos war wie die vorigen, und dazu von allen Seiten Anzeichen, daß demnächst die Juden an die Reihe kamen. Man hatte ihm geraten, außer Landes zu gehen und seine Familie mitzunehmen. Die Armee werde die Juden genauso rücksichtslos umbringen, wie sie auf die Arbeiter geschossen hatte. Und dann die Mitteilung des Arztes, daß Rosa nur noch ein paar Wochen zu leben habe. Tatsächlich hatte sie noch beinahe sechs Monate weitergekämpft. Beim Verlassen der Synagoge hatte ihn die Polizei angehalten, seine Papiere kontrolliert und ihm lautstark Fragen über Fragen gestellt, bis Lensky eingeschritten war. Lensky war Anwalt, ein wohlhabender Mann, der überall seinen Einfluß geltend machen konnte. Aber es war der letzte Hinweis gewesen, daß sie weg mußten.

Er schaute zu den schlafenden Kindern auf der Sitzbank gegenüber. Andrej, der Fünfjährige, Anna, die gerade vier war, und Iwan, der erst ein Jahr alte Säugling. Er fragte sich, was aus ihnen werden würde. Jahrelang hatte er in seiner Freizeit für die Partei gearbeitet. Auf den Tag gewartet, da die Arbeiter sich erheben würden und die Partei die Macht übernehmen werde. Aufstände hatte es früher schon gegeben, aber die Soldaten des Zaren hatten sie allesamt niedergeworfen. Unglaublich, daß russische Soldaten russische Arbeiter zusammenschossen. Seufzend schüttelte er den Kopf. Eines Tages würde es geschehen, aber er würde es nicht miterleben. Nicht als Kommunist befand er sich auf der Flucht, sondern weil er Jude war. Kein gläubiger Jude, einfach ein Jude, aber das genügte. Als er mit Lensky darüber gesprochen hatte, ob er in den Untergrund gehen sollte, hatte dieser darauf hingewiesen, daß er für drei kleine Kinder sorgen müsse. Und irgendwie hatte er das Gefühl, Lensky wolle ihm mitteilen, daß er als Jude auch nach der Revolution keine Überlebenschance habe. Es gab große Männer in der Partei, die Juden waren. Er fragte sich, ob sie eine Überlebenschance hatten. Lensky war ebenfalls Jude, aber er war ein wohlhabender Mann, der einflußreiche Leute kannte, und zwar nicht nur in Moskau, sondern auf der ganzen Welt. Weiß Gott, was aus ihm und den Kindern geworden wäre, wenn sie Lensky nicht gehabt hätten. Aber die Partei hatte in Paris Arbeit für ihn. Vielleicht erlebte Andrej eines Tages, wie der Traum Wirklichkeit wurde. Er würde ihn schon lehren, worum es ging. Andrej war ein guter Junge mit einer raschen Auffassungsgabe. Lensky hatte ihm die Fahrkarten nach Paris gegeben und dazu genügend Geld für ihren Lebensunterhalt, bis er Arbeit gefunden haben würde. In Paris, so hatte er gehört, seien Handschuhe sehr gefragt, aber notfalls verfügte er auch noch über andere Fertigkeiten. Michail wollte in Moskau ihre wenigen Habseligkeiten verkaufen und ihm das Geld schicken, sobald er eine feste Anschrift in Paris hatte. Er hatte lediglich ihre Kleidung, seine Parteischriften und ein Buch mitgenommen – die vierte deutsche Ausgabe von Karl Marx’ Das Kapital mit einem Vorwort von Friedrich Engels. Bei den Schriften handelte es sich um russische Übersetzungen von Wert, Preis und Profit und Der Klassenkampf in Frankreich. Am 13. Februar 1913 hatten sie Moskau verlassen.

Eine aus Lettland geflüchtete Parteigenossin nahm sie am Bahnhof in Empfang und brachte sie zu einem alten Haus in Montmartre, wo man ihnen dank Lenskys Einfluß zwei Mansardenzimmer überließ. Die Frau entschuldigte sich für die bescheidene Unterkunft, was Grigor Aarons mit heimlicher Belustigung zur Kenntnis nahm. In Moskau hatten sie zu sechst in einem Raum gewohnt, so daß die beiden großen Zimmer, die man ihnen nun gab, vergleichsweise luxuriös waren. Zu seiner Erleichterung erfuhr er überdies, daß sich die Tochter der Frau um die Kinder kümmern wollte, wenn er zur Arbeit war, und daß man bei einer kleinen, aber eleganten Handschuhmacherei in den Hinterräumen eines Modegeschäftes an der Faubourg St-Honoré bereits eine Anstellung für ihn gefunden hatte. Er bemühte sich nach Kräften, nicht daran zu denken, wie glücklich Rosa unter diesen Umständen gewesen wäre. Jetzt mußte all sein Streben den Kindern gelten. Und der Partei. Irgendwann würde ihr Tag kommen. Es mochte noch Jahre dauern, aber es war unvermeidlich.

Die Kinder saßen um den zerschrammten Tisch, eine Art Klapptisch, wie er von reichen Leuten zum Kartenspielen verwendet wird. Er hatte ihnen Hühnersuppe mit Pumpernickel zubereitet, und während sie aßen und sich lachend über ihre armen Freunde in der Schule ausließen, die kein Russisch konnten, saß er auf einem Sessel am Fenster. Grigor hatte zwei Äpfel mitgebracht, und als er sie mitten durchschnitt und jedem ein Stück gab, wandte sich Anna an ihn und sagte: »Anne-Marie hat mich in der Schule gefragt, wieso wir hier sind, Papa. Wieso sind wir hier?«

»Weil wir Juden sind«, gab Andrej ihr zur Antwort.

»Wir sind keine Juden, wir sind Russen.« Anna schaute zu ihrem Vater. »Stimmt das nicht, Papa?«

»Wir sind beides, meine Kleine. Und jetzt iß deinen Apfel auf. Und du, Iwan, bist heute abend mit dem Abwasch und dem Bettenmachen dran.«

Da er drei kleine Kinder versorgen mußte, wurde Grigor nicht zur französischen Armee eingezogen, als der Krieg ausbrach, und weil es an fähigen Männern mangelte, übertrug man ihm die Leitung der Werkstatt, die jetzt Zelttuchgürtel und Gamaschen für Heer und Marine herstellte.

Schließlich ging der Krieg zu Ende. Andrej und Anna kamen in der Schule gut mit, und Grigor Aarons war nun Juniorchef der Handschuhmacherei. Als im Herbst 1917 die wunderbare Nachricht von der Oktoberrevolution eintraf, feierten sie in aller Stille. Die Kinder waren es zwar gewohnt, daß im Wohnzimmer noch lange gestritten und diskutiert wurde, während sie bereits im Bett lagen; und man hatte ihnen auch von den Vorgängen in Moskau erzählt, aber sie waren noch zu jung, um zu begreifen, weshalb die Erwachsenen soviel Aufhebens darum machten. Zu Hause sprachen sie sowohl Russisch als auch Französisch. Russisch während der Mahlzeiten und Französisch, wenn sie ihrem Vater von der Schule erzählten.

Als Andrej zwölf Jahre alt war, unterhielt sich sein Vater tagtäglich mit ihm über die Auseinandersetzungen in Rußland und nannte ihm die Namen der wichtigsten Beteiligten. Er erfuhr vom Kampf zwischen Bolschewiki und Menschewiki und von der Opposition um Männer wie Trotzkij, Sinowjew und Bucharin. Und er hörte von der Komintern, der Kommunistischen Internationale, die den Kommunismus zu allen Arbeitern auf der Welt bringen und ihnen beim Kampf gegen die Kapitalisten beistehen werde. Obwohl sein Vater ihn nie dazu anhielt, wußte Andrej, daß man über so etwas niemals mit Außenstehenden sprechen sollte.

Es waren angenehme Jahre. Frankreich erholte sich allmählich vom Krieg, und die Arbeit seines Vaters fand allgemeine Anerkennung. Manch vornehme Dame, darunter auch die Gattinnen amtierender Minister, bestand darauf, daß ihre Handschuhe von Grigor Aarons eigens für sie angefertigt wurden.

Als Andrej sechzehn war, arbeitete er bei seinem Vater, der mittlerweile gleichberechtigter Teilhaber der Handschuhmacherei war. Die Abende verbrachte er mit den jungen Kommunisten, die in billigen Cafés herumhockten, sich über eine gerechte Weltordnung ausließen und über den Ausgang der Revolution in Rußland spekulierten. Er sprach jetzt ganz gut Französisch, aber die meisten seiner Gefährten waren Flüchtlinge aus dem Baltikum – aus Litauen, Lettland und Estland. Dazu ein paar Studenten von der Sorbonne und einige Italiener, die in Restaurants und Cafés arbeiteten. Sein bester Freund aber war Igor Serow. Nicht daß sie nach außen hin viel Aufhebens von dieser Freundschaft machten, aber anscheinend war Serow von Andrejs Fähigkeit beeindruckt, wankelmütige Parteimitglieder davon zu überzeugen, daß der Kommunismus sowohl in der Theorie als auch in der Praxis funktionierte. Andrej hatte keine Ahnung, womit Serow seinen Lebensunterhalt verdiente, nahm aber an, daß er irgendeine Stelle in der Verwaltung hatte. In einer Gemeinschaft, in der falsche Papiere und neue Identitäten Mittel zum Überleben waren, bohrte man nicht zu tief nach. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß Serow weit mehr über die Vorgänge in Moskau wußte, als er beim bloßen Zeitunglesen erfahren haben konnte.

Erschüttert nahm man 1928 beim Pariser Parteiableger die Nachricht zur Kenntnis, daß dreißig altgediente Parteimitglieder, darunter Trotzkij, Sinowjew und Kamenskij, aus der Sowjetunion verbannt worden waren und nun im Exil lebten. In der offiziellen Verlautbarung waren keine Namen genannt worden, aber Serow hatte es Andrej erzählt. Dessen Vater allerdings wollte es nicht glauben und sagte, es handle sich lediglich um revisionistische Propaganda.

Grigor Aarons starb 1929, eine Woche vor Andrejs zwanzigstem Geburtstag. Eine Grippeepidemie hatte Paris heimgesucht und zahlreiche Opfer gefordert. Andrej war nun das Oberhaupt der Familie, eine Aufgabe, der er sich gewissenhaft und voller Verantwortungsgefühl widmete. Inzwischen hatten auch die beiden anderen Geschwister Arbeit gefunden. Iwan als Page in einem der noblen Hotels und Anna als Verkäuferin in einem großen Warenhaus. Trotz ihres unterschiedlichen Temperaments kamen sie gut miteinander aus, und Andrej wurde von den beiden anderen geliebt und bewundert. Selbst Iwan, der mit zunehmendem Alter ziemlich ungebärdig und schnippisch wurde, tat, wie ihm geheißen. Andrej war fast einundzwanzig, als sich sein Leben von Grund auf änderte. Serow gab den Ausschlag dazu, aber allem Anschein nach war diese Veränderung von langer Hand geplant.

Sie saßen an einem Tisch in einem kleinen Café unweit von Andrejs Wohnung.

»Warum bestellst du dir immer heiße Schokolade, Andrej? Warum keinen Kaffee?«

»Kaffee ist was für Stümper. Das ist bloß ein Aufputschmittel. Heiße Schokolade dagegen ist nahrhaft. Ich brauche kein Aufputschmittel, aber ich brauche etwas Nahrhaftes.« Er lächelte. »Außerdem mag ich sie lieber als Kaffee.«

»Hast du immer noch diese langweilige Stelle in der Handschuhmacherei?«

»Wenn du es so ausdrücken willst – ja.«

»Man hat mich gebeten, mit dir über etwas Wichtigeres zu reden.«

»Oh. Worum geht es.«

»Die Partei möchte, daß du hauptberuflich für die tätig wirst.«

»Wer hat das gesagt?«

»Jemand in der Parteiführung. Der Name würde dir nichts sagen.«

»Woher wissen die über mich Bescheid?«

»Ich habe ihnen von dir berichtet.«

»Und was soll ich für sie tun?«

»Sie möchten, daß du ein paar Monate lang zur Schulung nach Moskau gehst.«

Andrej schüttelte den Kopf. »Ich kann die Familie nicht allein lassen. Die anderen brauchen mich.«

»Die Partei braucht dich ebenfalls.« Serow zündete sich eine Zigarette an. »Ich werde mich um die Familie kümmern, solange du weg bist.«

»Was für eine Schulung ist das?«

»Hast du schon mal was von der Komintern gehört?«

»Natürlich.«

»Das Politbüro leitet die Komintern, und dort findet gerade eine große Umbesetzung statt. Eine Art Neuaufbau. Man möchte, daß Parteimitglieder die kommunistischen Parteien im Ausland darin unterweisen, wie sich in ihren Ländern die Revolution organisieren läßt.« Er hielt inne. »Man hält dich für geeignet, eine ganze Reihe von Ländern zu übernehmen. Zumindest Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland.«

»Aber ich bin doch viel zu jung, als daß jemand darauf achtet, was ich sage.«

Serow lächelte. »Ich habe dich hier bei der Arbeit erlebt, Andrej. Du hast eine wunderbare Art, mit Zweiflern umzugehen.« Er lachte. »Du hörst den Leuten wirklich zu, und genau das können die meisten Parteibonzen nicht. Und außerdem hast du so ein Selbstvertrauen, daß du sie von deinen Ansichten überzeugen kannst. Die jungen Leute sind es, die wir jetzt überzeugen müssen, Andrej. Die alten Parteihengste sind abgehalftert. Die haben immer nur die offizielle Parteilinie aus Moskau übernommen. Sie haben nie dagegengehalten – sie haben einfach alles hingenommen. Das reicht heutzutage nicht mehr.«

»Wie lange wäre ich weg?«

»Vier Monate – vielleicht auch sechs. Du würdest natürlich bezahlt werden, und das Geld würde an deine Familie überwiesen.«

»Sag mir, wer dieser Mann aus der Parteiführung ist, auch wenn mir sein Name vielleicht nichts sagt.«

»Wenn ich’s dir sage, gehst du dann zu der Schulung?«

»Sag’s mir.«

»Es ist ein alter Freund deines Vaters. Jakob Lensky. Er ist jetzt Mitglied des Politbüros.«

»Aber er ist doch Jude und ...«

»Das gilt für die Hälfte aller Intellektuellen, die jetzt die Partei führen. Jedenfalls wirst du Lenskys Protege sein.«

»Und du wirst die Familie jeden Tag besuchen?«

»Das kann ich dir nicht versprechen, aber ich stehe jederzeit zur Verfügung, wenn ich gebraucht werde. Die werden mir schon keine Schwierigkeiten machen, Andrej. Du hast sie gut erzogen.«

»Ich denke vor allem an den kleinen Iwan.«

Serow lachte. »Der kleine Iwan ist jetzt sechzehn oder siebzehn und durchaus in der Lage, selbst auf sich aufzupassen. Anna ebenso. Keine Sorge, ich werde ein Auge auf sie haben. Eine derartige Gelegenheit, der Partei zu dienen, wirst du nie wieder bekommen.«

Drei ganze Tage hatte die Zugfahrt nach Moskau gedauert. Die hohen Bögen des Belorussischen Bahnhofs waren mit Dampf- und Nebelwolken verhangen. Lensky wartete am Fahrkartenschalter auf ihn. Wie immer wirkte er stattlich und wohlhabend.

Lensky nahm ihn zu einer Wohnung an der Twerskaje-Straße mit, wo sie Blinij und Piroschkij speisten. Nach dem Essen winkte er Andrej zu einem Sessel und bot ihm Wodka an. Er lächelte, als Andrej statt dessen um Tee bat.

»Dein Freund Serow hat mir von deiner hervorragenden Arbeit in Paris berichtet. Dein Vater wäre sehr stolz auf dich. Ich wünschte, er könnte zurückkommen und die Aktivitäten der Partei miterleben.« Er machte eine weitausholende Handbewegung. »Unruhen, ja. Vielleicht sogar Fehlurteile. Aber vor allem Begeisterung und Hingabe an das, woran wir glauben. Aber wir wollen die Revolution exportieren. In alle Welt. Und junge Männer wie du, die talentiert und gut geschult sind, werden unseren Genossen in anderen Ländern zeigen, wie wir unsere Ziele erreichen können.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich so talentiert bin, wie Sie anscheinend glauben, Genosse Lensky.«

Lensky lächelte. »Dies zu beurteilen solltest du uns überlassen, mein Freund.«

»Wo soll ich geschult werden?«

»Die Zentrale in Moskau hat das alte Kuskowo-Anwesen übernommen. Es liegt etwa zehn Kilometer außerhalb der Stadt. Ziemlich primitive Bedingungen, aber die Schulung ist hervorragend. Nur die Vielversprechendsten werden dort hingeschickt. Du bist von mir vorgeschlagen worden, daher erwarte ich, daß du dein Bestes gibst.« Wieder lächelte er. »Aber davon bin ich überzeugt.«

Der Kuskowo-Palast mit seinem weitläufigen Park war einst die Sommerresidenz der Familie Scheremetjew gewesen, einer der ältesten russischen Adelsfamilien, die etliche Staatsmänner und große Soldaten hervorgebracht hatte. Jetzt aber war der Besitz von einem ein Meter achtzig hohen, mit Stacheldraht gekrönten Zaun umgeben. Ein uralter Wagen brachte Andrej zum Tor, wo zwei bewaffnete Posten standen. Der Mann im Pförtnerhäuschen fragte ihn nach seinem Namen.

»Aarons. Andrej Grigorowitsch.«

Der Mann schaute in einer Namensliste nach, griff dann hinter sich, wo eine Reihe von Blechmarken an der Wand hing, nahm eine herunter und reichte sie Andrej.

»Wir benutzen hier keine Namen. Deine Nummer ist drei-neun. Neununddreißig. Du bist im Hollandhaus untergebracht, Genosse.« Er deutete aus dem vergitterten Fenster. »Ist ein ganz schöner Fußmarsch. Das erste Haus ist die Eremitage, danach kommt das Grotto und dann deine Unterkunft.«

Als Andrej quer durch den Park auf die Gebäude zuging, dachte er daran, was der Taxifahrer gesagt hatte, als er vor dem Tor anhielt. »Weißt du, was das hier ist, Genosse? Hier bringen sie den verfluchten Negern bei, wie man eine Revolution macht. Die kriegen soviel Geld, wie sie wollen, aber für unsereinen gibt’s keine lumpige Kopeke.«

Der Mann am Podium wirkte wie ein Akademiker, und genau das war er auch. Strähnige Haare, blasses Gesicht, dicke Brillengläser. Er hielt einige Schriften empor und schaute die Schüler an.

»Das hier müßt ihr genauestens lesen und verinnerlichen.« Er deutete nacheinander auf die einzelnen Titel. Die Rolle der marxistisch-leninistischen Partei im revolutionären Prozeß, Der Kampf um die Einheit der kommunistischen Weltrevolution und Parteimitglieder und der Kampf um nationale und soziale Befreiung. Er ließ den Blick über sie hinwegschweifen. »Dies wird eure Aufgabe in euren Heimatländern sein, Genossen. Ihr dürft nie von den in Moskau festgelegten Prinzipien abweichen.

Ihr werdet darin unterwiesen werden, wie man die kommunistischen Parteien vor Ort motiviert, die Gewerkschaften, Studenten und Arbeiter, wie man sich Rundfunk und Zeitungen zunutze macht, um eine wohlmeinende Haltung zur Sowjetunion zu erzeugen. Es gibt viel zu tun, und ihr seid die Männer und Frauen, die dazu ausersehen sind.«

Zwei der dreißig Schüler, darunter auch Andrej, erhielten eine zusätzliche Ausbildung beim Nachrichtendienst in Moskau. Aber man hatte ihnen ebenso wie den anderen Schülern erklärt, daß Mitglieder der Komintern nie zu nachrichtendienstlicher Tätigkeit eingesetzt würden.

Lang und anstrengend waren die Tage während dieser Sonderausbildung. Bei Wind und Wetter, Regen und Schnee mußten sie durch die Moskau ziehen und lernen, wie man eventuelle Verfolger abschüttelte. Sie erfuhren, wie man Codes benutzte und feststellte, welche Orte zum Hinterlassen von Zeichen und Nachrichten geeignet waren. Wie man Zeichen verwendete, so daß sie nur von der jeweiligen Kontaktperson erkannt werden konnten, wie man Zwischenträger einbaute, damit nur der leitende Agent wußte, wer dem Netz angehörte und was er machte. Darüber hinaus gab es ein als Wunschkonzert kaschiertes Nachrichtensystem, das von Radio Moskau auf Langwelle ausgestrahlt wurde und bei dem bestimmte Wörter in den von Zuhörern aus dem Ausland eingesandten Briefen betont wurden.

Zu guter Letzt wies man sie darauf hin, daß sie sich über ein Kurzwellensende- und -empfangsgerät sogar aus Paris und Berlin mit Moskau in Verbindung setzen könnten, wenn dringende Nachrichten oder Mitteilungen anstünden. Jemand, der sich mit Morsezeichen auskenne und ein Funkgerät bedienen könne, werde immer zur Verfügung stehen, unabhängig davon, wo sie eingesetzt werden würden.

Eine weitere Woche brachte Andrej am Moskauer Filmzentrum zu, wo man ihn im Fotografieren von Dokumenten mit einer Miniaturkamera und der entsprechenden Beleuchtung unterrichtete. Er lernte, wie man einen Film entwickelte, bekam aber gesagt, daß belichtete Filme vor dem Losschicken normalerweise nicht entwickelt würden, es sei denn auf besonderen Befehl hin.

Ein Spezialist zeigte ihm, wie man einfache Schlösser knackte und Kraftfahrzeuge stillegte.

Andrej war dabei ebenso gewissenhaft wie bei allem anderen, was man ihm beibrachte. Die Partei wandte viel Zeit und Geld für ihn auf, und er mußte dafür Sorge tragen, daß beides nicht vergeudet würde. Zwar erkannte er im Augenblick nicht, welchen Nutzen er bei seiner Arbeit für die Komintern aus dieser Spionageschulung ziehen sollte, aber wenn hochstehende Leute sie für notwendig hielten, hatten sie vermutlich gute Gründe dafür.

Aus seiner Kindheit konnte er sich nur vage, fast wie im Traum, an Moskau erinnern, und so boten ihm die sechs Monate, die er dort verbrachte, eine wundervolle Gelegenheit, sich all die Orte anzusehen, von denen sein Vater erzählt hatte. Wenn die tägliche Schulung vorüber war, spazierte er in der Stadt herum, bewunderte die alten Häuser und redete mit Männern, die auf der Straße oder auf Baustellen arbeiteten. Aber er mußte feststellen, daß sie argwöhnisch und zurückhaltend reagierten, wenn er sie auf die Veränderungen ansprach, die seit der Revolution stattgefunden hatten. Als er es Lensky gegenüber erwähnte, warnte ihn dieser zu seiner Überraschung davor, mit Fremden zu reden. Über Politik, so ließ er durchklingen, sollte er nicht einmal mit den Leuten sprechen, die gemeinsam mit ihm ausgebildet wurden.

Bei seinen abendlichen Spaziergängen kam er immer wieder zum Roten Platz, wo er stehenblieb und die angestrahlte Flagge auf dem Kreml betrachtete. Die tiefrote, vor dem dunklen Himmel im Wind flatternde Fahne mit Hammer und der Sichel rührte ihn stets aufs neue. Sie kam ihm vor wie ein Leuchtfeuer für die Menschen dieser Welt.

Der andere Parteizögling, der ebenfalls eine Spezialausbildung erhielt, war ein Mädchen, eine Spanierin. Sie waren zusammen mit einem Ausbilder in einem alten Haus am Manege-Platz untergebracht. Sie war Anfang Zwanzig und sehr attraktiv, aber für seinen Geschmack zu wenig zurückhaltend. Zu risikobereit, so kam es ihm vor, wenn eher Vorsicht geboten war. Sie wiederum sagte ihm, er sei zu vorsichtig und zu reserviert. Aber offensichtlich mochte sie ihn, und er fand ihre Gesellschaft auf eine eigenartige Weise sehr angenehm. Ihr Optimismus wirkte wie ein Gegenpol zu seiner Vorsicht. Offenbar hielt man in Moskau große Stücke auf sie, und sie kannte einflußreiche Leute. Sie war es denn auch, die ihm von Lensky erzählte.

Sie saßen eines Abends in ihrer Wohnung beim Tee und lasen ihre Aufzeichnungen durch, als sie sich an ihn wandte und sagte: »Hast du vor, für die Komintern zu arbeiten oder für den Nachrichtendienst?«

»Für die Komintern.«

»Aber du wirst doch von Lensky gefördert.«

»Na und?«

»Lensky ist beim Geheimdienst.«

»Das glaube ich nicht. Er ist Anwalt.«

Sie lachte. »In mancher Hinsicht bist du wirklich ziemlich unbedarft, Andrej.«

»In welcher Hinsicht?«

»Hinsichtlich der Vorgänge in den oberen Etagen der Partei. Der Machtkämpfe. Lensky zum Beispiel. Die Tatsache, daß er Anwalt ist, hält ihn doch nicht davon ab, für den Geheimdienst zu arbeiten.«

»Und du? Wirst du für die Komintern arbeiten oder für den Nachrichtendienst?«

Sie lächelte und zuckte die Achseln. »Für mich gilt das gleiche wie für dich.«

»Was soll das heißen?«

»Bist du immer noch nicht draufgekommen?«

»Nein.«

»Die Geheimdienstler trauen nicht mal den Mitgliedern der Komintern. Vor allem, wenn sie keine Russen sind. Sie wollen, daß du ihnen Meldung machst, wenn du auf unsichere Kantonisten stößt. Dir trauen sie aus mehreren Gründen. Erstens, weil Lensky dir traut, und zweitens, weil du bei der Schulung der intelligenteste Verfechter der Parteilinie warst. Und sie trauen dir, weil du Russe bist.« Sie lachte. »Und mir trauen sie, weil sie unbedingt jemanden brauchen, der Spanisch spricht und bereit ist, gewisse Risiken für die gemeinsame Sache einzugehen.« Sie hielt inne. »Du solltest dir lieber darüber klarwerden, Andrej, daß die hohen Herren trotz der Revolution noch immer darum kämpfen, wer die Zügel in der Hand hält.«

»Damit habe ich nichts zu tun.«

»Eines Tages vielleicht schon, mein Lieber.« Wieder lachte sie. »Frag Lensky, wenn du mir nicht glaubst. Egal, wer gewinnt, Lensky wird immer obenauf sein.«

Lensky stand am Fenster und schaute hinaus auf die Lichter der Stadt, während der Schnee in dichten, weichen Flocken fiel. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich möchte, daß du vor deiner Abreise morgen noch jemanden kennenlernst. Seine Name ist Spasskij. Gene Spasskij. Er ist etwa fünf Jahre älter als du, aber er wird noch ein sehr bedeutender Mann werden. Er weiß über dich Bescheid. Später, wenn du dich in deine Arbeit eingefunden hast, wird er dein Vorgesetzter sein.«

»Ist er ein Spion?«

»Nein.« Lensky zögerte. »Nun ja, sagen wir mal, er hat Verbindungen zum Nachrichtendienst. Er ist ein führender Mann in der Partei, und zu seinem Aufgabenbereich gehören der Sicherheitsdienst und die Komintern. Du kannst ihm vertrauen. Falls du irgendwelche Schwierigkeiten haben solltest, kann er damit umgehen.« Er wedelte mit der Hand zu dem niedrigen Tischchen hin, an dem Andrej saß. »Die beiden Päckchen sind für Anna und Iwan. Bestell ihnen liebe Grüße.«

Der Mann namens Spasskij trug seine Segeltuchtasche, als sie zum Bahnhof gingen. Zusammen stapften sie durch den Schnee. Spasskij fragte ihn nach Anna und Iwan. Wären sie bereit, in Paris zusammen mit Andrej zu arbeiten? Würden sie sich auch einsetzen? Beherrschte Andrej den Code, den sie im Schriftverkehr mit ihm benutzen wollten? Wie gut kannte er Serow? Spasskij schien an seinen Antworten nicht besonders interessiert. Kurz vor Abfahrt des Zuges fragte er ihn schließlich, wie er das Gold in Francs einzutauschen gedenke. Offenbar stellte ihn die Antwort zufrieden. Als der Zug seine lange Fahrt aufnahm, blieb Spasskij grußlos und ohne zu winken zurück.

Ein echter Amerikaner

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