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ZEHNTES KAPITEL
ОглавлениеAndrej lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Chantal saß neben ihm, hielt seine Hand und betrachtete sein Gesicht.
»Anna hat Hühnersuppe mit Nudeln für dich gekocht. Möchtest du einen Teller?«
»Ich muß den alten Henschel aufsuchen. Wegen Iwan.«
»Das kann warten, mein Liebster. Du brauchst ein bißchen Ruhe.«
Er schlug die Augen auf und schaute sie an. »Ich bin kein besonders guter Ehemann, oder?«
»Ich bin vollauf mit dir zufrieden.« Sie schwieg einen Moment. »Kann ich irgend etwas für dich tun?«
»Das tust du doch bereits. Du bist mein Fels. Meine Zuflucht.«
»Zuflucht vor was?«
»Vor der Welt. Den Menschen. Den Fragen, Einwänden und Mißverständnissen, der ganzen Zankerei. Da draußen zerbrechen Familien an Meinungsverschiedenheiten, wursteln Eheleute nebeneinanderher, gehen lebenslange Freundschaften in die Brüche. Alte Ideen stehen gegen neue. Das schreckliche Parteichinesisch scheint sich durchzusetzen. Arbeiter streiten darüber, ob wir die ›Diktatur des Proletariats‹ oder lieber einen ›sozialdemokratischen Parlamentarismus‹ einführen sollten. Hauptsache, die Wörter sind lang, dabei wissen die wenigsten, was sie überhaupt bedeuten. Aber die Leute verhalten sich, als wären sie von einem schrecklichen Fieber befallen. Sie hören auf zu arbeiten, sagen sich von ihren Familien los, ihren Freunden, haben so gut wie kein Privatleben mehr.« Er lächelte. »Mit mir ist alles in Ordnung, mein Liebes. Manchmal zermürbt mich das eben. Das ist alles.«
Sie aßen gemeinsam eine Terrine Suppe, und danach bat Andrej Iwan ins Schlafzimmer. Er deutete auf den einzigen Sessel und nahm seinerseits auf der Bettkante Platz.
»Mensch, jetzt sag mir mal, was ich tun soll.« Er lächelte. »Wie heißt sie überhaupt?«
»Rachel. Rachel Henschel.«
»Ist das die Tochter vom Silberschmied?«
»Jawohl.«
»Wie alt ist sie? Sag die Wahrheit.«
»Siebzehn, nächsten Monat.«
»Fahr fort.«
»Wenn sie achtzehn ist, wollen wir heiraten. Bis dahin tragen wir einen Ring.«
»Bist du schon mit ihr im Bett gewesen?«
»Nein.« Iwan zuckte die Achseln. »Jedenfalls ist es nicht zum Äußersten gekommen.«
»Und du möchtest sie heiraten, damit du mit ihr ins Bett gehen kannst.«
»Na ja, ich nehme an ... nein, aber wir mögen uns. Sie mag mich, und ich mag sie.«
»Mögt ihr euch, oder liebt ihr euch?«
»Schwer zu sagen. Aber ich weiß, daß sie für mich die Richtige ist.«
»Und was sagt ihr alter Herr dazu?«
»Er sagt, ich sei ein Taugenichts. Nur hinter seinem Geld her.« Er zuckte die Achseln. »Was Väter halt so von sich geben.«
»Du hattest allerhand Freundinnen, seit wir hier sind. Was ist an Rachel so anders?«
»Sie will mich nicht umkrempeln. Sie mag mich so, wie ich bin. Die anderen wollten alle bloß einen Kerl, der ein Auto hat und jede Menge Geld für sie springen läßt. Rachel legt darauf überhaupt keinen Wert.«
»Okay. Ich will sehen, was ich tun kann.«
»Danke.«
Der Mann, den alle den »alten Henschel« nannten, war genaugenommen noch keine Vierzig. Er wollte gerade Feierabend machen, als Andrej vor der Ladentür stand. Sie war bereits verschlossen, doch als Henschel sah, um wen es sich handelte, schob er die Riegel oben und unten wieder zurück, sperrte auf und öffnete sie einen Spalt.
»Mister Henschel. Mein Name ist Aarons. Könnte ich vielleicht ein paar Worte mit Ihnen reden?«
Der Mann zögerte einen Moment, dann hielt er die Tür auf, sperrte aber wieder ab, sobald Andrej eingetreten war. Sie standen beide am Ladentisch, unter dessen Glasplatte einige silberne Schmuckstücke auslagen.
»Ich möchte im Namen meines Bruders Iwan mit Ihnen sprechen, Mister Henschel.«
»Sie vergeuden Ihre Zeit, Mister. Weder er noch irgendein anderer werden aus meinem kleinen Mädel eine Tschatschke machen.«
Andrej lächelte. »Ich glaube nicht, daß er das vorhat. Er möchte sie heiraten, sobald sie alt genug dazu ist. Und er hätte gern Ihren und meinen Segen dazu.«
»Er sollte selber alt genug sein. Er braucht niemand, der für ihn spricht. Der hat Chúzpe für zehn, dieser Kerl.«
»Durch diese Haltung könnten wir beide Schwierigkeiten bekommen, Mister Henschel.«
Der Mann zuckte die Achseln. »Dann krieg’ ich eben Schwierigkeiten. Wen kümmert’s?«
»Könnten Sie mir vielleicht verraten, was Sie gegen ihn haben?«
»Er hat keine regelmäßige Arbeit. Der hat doch vor meiner Rachel schon zig andere Mädchen gehabt. Wer will schon so einen Kerl?«
»Er hat feste Arbeit. Er ist bei mir beschäftigt.«
»Als was?«
»Er arbeitet in der Buchhandlung, die ich besitze, und hilft mir bei vielerlei Dingen.«
»Dann sind Sie also der mit dem Buchladen?«
»Ja.«
»Ein Buchladen in dieser Gegend? Wie können Sie nur das Geld so zum Fenster rausschmeißen?«
»Wir erzielen bereits einen bescheidenen Gewinn, und wir bauen weiter aus.« Andrej hoffte, daß die kleine Übertreibung unter diesen Umständen verzeihlich war.
»Gehen wir nach hinten«, sagte Henschel.
Andrej folgte ihm in eine kleine Werkstatt voller Schränke und Arbeitstische. Henschel schob ihm einen Stuhl hin und hockte sich auf die Kante der großen Werkbank.
»Wieviel verdient er, Ihr Iwan?«
»Etwas über zwanzig Dollar die Woche. Wenn er verheiratet ist, wird er mehr bekommen.«
»Ständig möchte sie mit ihm tanzen gehen. Nicht hier in Brighton Beach, sondern drüben in der City. Dabei ist sie noch nicht mal siebzehn.«
»Hier in Brighton Beach kann man nirgendwo tanzen. Aber sie könnten bestimmt nach Coney Island gehen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Die machen, was sie wollen. Ich werd’ nicht gefragt.«
»Ich glaube, wenn sie das Gefühl hätten, daß Sie auf ihrer Seite stehen, dann würden sie sich mehr nach Ihnen richten.« Andrej lächelte. »Ich glaube, Iwan würde alles tun, um Ihr Einverständnis zu bekommen. Er meint es ziemlich ernst mit Rachel.«
»Und warum tut er’s dann jetzt nicht?«
»Ich nehme an, weil er meint, Sie hätten etwas gegen die Freundschaft einzuwenden.« Andrej stockte. »Das Mädchen wird dabei hin- und hergerissen. Zwischen Ihnen und ihm. So was ist schlecht für beide Seiten. Und für Rachel auch.«
»Und was schlagen Sie statt dessen vor?«
»Lassen Sie zu, daß er ihr einen Ring schenkt. Nehmen Sie ihn in Ihre Familie auf, so wie wir Rachel in meine aufnehmen. Meine Frau und meine Schwester werden sie von Herzen willkommen heißen.«
Henschel starrte eine ganze Weile auf das verrußte Fenster. Dann sagte er: »Einverstanden. Probieren wir’s, mein Freund. Mal sehen, wie es läuft.«
In der Nacht zum 30. Dezember 1940 war der Himmel über London rot gefärbt von den Flammen brennender Häuser, als die Luftwaffe die nahezu schutzlose Stadt mit Brandbomben angriff. Von den Docks über das Bankenviertel bis hin zum West End erstreckte sich die Feuersbrunst, und jahrhundertealte Häuser versanken in Schutt und Asche.
Zur gleichen Zeit wandte sich Präsident Roosevelt mit einer seiner berühmten Kaminreden an das amerikanische Volk. Darin schilderte er in einfachen, alltäglichen Worten den Inhalt der von Regierungsmitarbeitern HR1776 genannten Vorlage, die offiziell als »Gesetz zur weiteren Stärkung der Verteidigungsbereitschaft der Vereinigten Staaten sowie zu anderen Zwecken« bezeichnet wurde. Eine Klausel dieses Gesetzes garantierte Unterstützung für »jedes Land, dessen Verteidigung nach Meinung des Präsidenten von entscheidender Bedeutung für die Verteidigung der Vereinigten Staaten ist«. Zugleich aber erneuerte er bei dieser Ansprache sein Versprechen, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten.
Die Umfragen während der nächsten paar Tage ergaben, daß 71 Prozent der Bevölkerung hinter dem Präsidenten standen, während 54 Prozent die sofortige Einführung des Leih-Pacht-Gesetzes wünschten. Drei Monate später wurde das Gesetz gültig, und Roosevelt bat den Kongreß um die Bewilligung von neun Milliarden Dollar, die ihm prompt gewährt wurden.
Von nun an konnten beschädigte britische Schiffe amerikanische Werften anlaufen, und US-Kriegsschiffe fuhren im sogenannten »Keuschheitsgürtel«, einer rund 1000 Seemeilen breiten Zone im Atlantik, Geleitschutz für britische Handelsschiffe. Unter größter Geheimhaltung wurde die US Navy beauftragt, keinerlei fremde Schiffe westlich dieser 1000-Meilen-Zone vordringen zu lassen.
Die Erste Brigade des US Marine Corps löste die britischen Truppen auf Island ab und erhielt den Auftrag, sich für weitere, nicht näher bezeichnete Einsätze bereit zu halten.
Weiter wollte der Präsident vorerst jedoch nicht gehen. Die Vereinigten Staaten würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Krieg gegen Hider hineingezogen werden, aber er wußte auch, daß der erste Schlag vom Gegner kommen mußte. Dazu war mindestens der Verlust eines amerikanischen Kriegsschiffes erforderlich.
In Berlin erkannte man die Falle, und trotz des Einspruchs von Admiral Raeder befahl Hitler der Marine, alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, damit nicht aus Versehen ein amerikanisches Schiff angegriffen würde. Nur die höchsten Offiziere im Oberkommando der Wehrmacht wußten zu diesem Zeitpunkt, daß in ein paar Monaten die »Operation Barbarossa« anlaufen sollte, der Überfall auf die Sowjetunion. Und der durfte unter keinen Umständen gefährdet werden.
Als Andrej im Radio die Nachricht vom Überfall der Nazis auf die Sowjetunion hörte, empfand er zunächst tiefe Erleichterung darüber, daß die Russen nun nicht mehr mit den Deutschen unter einer Decke steckten und alle seine Voraussagen eingetreten waren. Doch als die deutschen Armeen immer tiefer nach Rußland vorstießen, wurde ihm beim bloßen Gedanken an die Vorgänge dort übel. In dieser Woche verkauften sie in ihrem Laden über hundert Wandkarten von Europa und der UdSSR. Offenbar wollten die Leute nachvollziehen, wo die großen Schlachten stattfanden. Er hörte sich die Radiosendungen aus Moskau an, und nicht einmal dort versuchte man zu verhehlen, daß die Rote Armee unter furchtbaren Verlusten zurückgedrängt wurde. Der Gedanke daran, was in den von den Deutschen besetzten Gebieten mit der Zivilbevölkerung geschah, war unerträglich. Aber dadurch veränderte sich auch über Nacht die Haltung der Vereinigten Staaten. Die Russen waren keine Verbündeten der Nazis mehr. Eine unheilverkündende Spannung lag in der Luft.
Bis Mitte Juli hatten die Deutschen Minsk, Smolensk und Tallin eingenommen; bis September hatten sie Kiew erobert und standen in den Außenbezirken von Leningrad. Im Oktober hatten sie Orel und Odessa besetzt und waren bis auf achtzig Kilometer auf Moskau vorgerückt. In der letzten Oktoberwoche fiel Charkow.
Es gab zwar Berichte, wonach die Rote Armee einzelne Städte zurückerobert habe und Moskau trotz heftigsten Artilleriebeschusses weiter aushalte. Doch es gab noch allerhand zu tun, wenn man die Mehrheit der Amerikaner auf eine Unterstützung der Sowjetunion einstimmen wollte. Sie waren von diesem Krieg nicht betroffen und wollten auch künftig nichts damit zu tun haben.
Bill und Kathy Malloy waren nach New York gefahren, wo sie das Wochenende mit Bills Vater verbringen wollten. Am Sonntagmorgen waren sie spät aufgestanden, und Kathy hatte am frühen Nachmittag die Leibspeise des alten Mannes gekocht, Steak und Kidney-pie.
Nach dem Essen holte sie das Kofferradio in die Küche. Sie wollte die Wohnung einmal ordentlich saubermachen und nebenbei Radio hören. Sie schaltete das Gerät ein, und eine Stimme ertönte. »Und nun: Gangbusters – die einzige landesweite Radiosendung mit authentischen Geschichten aus dem Alltag der Polizei. Amerikas Kreuzzug wider das Verbrechen.« Sie stellte einen anderen Sender ein, auf dem Unterhaltungsmusik von Bing Crosby gespielt wurde.
Die beiden Männer saßen unterdessen in dem gemütlichen Wohnzimmer und plauderten miteinander. Bill Malloy lächelte, als sein Vater eine seiner üblichen Schmähreden über die Männer im Weißen Haus vom Stapel ließ. Keinerlei Klagen über den Präsidenten persönlich. Die eigentlichen Schurken waren die Politiker, die Kongreßabgeordneten und Senatoren, die bei Franklin Delano Roosevelts Plänen zum Nutzen des amerikanischen Volkes nicht mitziehen wollten.
»Du brauchst gar nicht so zu lächeln, mein Junge. Ich glaube, ich muß dir mal ein paar Tatsachen stecken.« Er deutete mit seiner kalten Tabakspfeife auf den Sohn. »Ein Viertel unserer Bevölkerung lebt auf dem Land. Weißt du, was ein Farmer letztes Jahr im Durchschnitt verdient hat?«
»Keine Ahnung, Dad. Sag’s mir.«
»Tausend Dollar, und dafür mußte er ein Jahr lang hart arbeiten. Und bei uns legen ungelernte Arbeiter die Trasse für die neue Straße – East River Drive soll sie heißen. Diese Männer kommen auf achthundertzweiunddreißig Dollar pro Jahr.«
»Ist ja schrecklich. Wie kommen sie damit zurecht?«
Der alte Mann holte mit dem Arm weit aus, so als wolle er die Frage wegwischen. »Drei von vier Farmen haben noch kein elektrisches Licht, sondern Kerosinlampen. Ein Viertel aller Häuser auf dem Land hat kein fließendes Wasser und ein Drittel keine Toilettenspülung.«
Kathy putzte derweil den Küchenherd und trällerte die Bing-Crosby-Melodien mit.
Thanks for the memory – of sentimental verse, nothing in my purse and chuckles, when the preacher said for better or for worse. How lovely it was.
Doch mit einem Mal hörte die Musik auf. Zunächst dachte sie, die Batterien wären leer, doch dann ertönte ein paar Sekunden lang das Sendezeichen. Kurz darauf verkündete eine atemlose Stimme, daß die Japaner den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor bombardierten.
Einen Augenblick lang stand sie wie gelähmt da, das zerknüllte Wischtuch in der Hand. Dann stürmte sie ins Wohnzimmer und erzählte den beiden Männern, was sie gerade gehört hatte. Am Radio lief inzwischen wieder Bing-Crosby-Musik, aber dann wurde die Durchsage wiederholt.
Bill Malloy stand auf und sagte leise: »Ich muß zurück nach Washington, Dad.« Er hatte seinem Vater nichts von seiner Tätigkeit oder dem OSS erzählt. Er sah, wie sein Vater schluckte und dann nickte. »Kann ich verstehen, mein Junge. Tu, was du für richtig hältst. Melde dich mal wieder.«
»Aber bestimmt, Dad. Ganz bestimmt.«
Der Präsident saß zu diesem Zeitpunkt an seinem Schreibtisch im Weißen Haus und diktierte seine erste Verlautbarung zum Krieg.
»Gestern, Komma, am siebten Dezember neunzehnhunderteinundvierzig, Gedankenstrich, einem Datum, das ob seiner Infamie in die Annalen der Geschichte eingehen wird, Gedankenstrich, Komma, wurden die Vereinigten Staaten von Amerika überraschend und arglistig von den See- und Luftstreitkräften des japanischen Kaiserreiches angegriffen, Punkt. Zwischen den Vereinigten Staaten und diesem Land herrschte Frieden, Komma, und auf Ersuchen Japans führte man noch immer Gespräche mit dessen Regierung und dem Kaiser, Komma, da man eine Erhaltung des Friedens anstrebte ...«
Er brach ab und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Unsere Flugzeuge wurden am Boden zerstört.« Er sagte es ein ums andere Mal.