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ERSTES KAPITEL

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Mary Taylor fragte sich, warum man keine Fernsehteams zugelassen und die Pressekonferenz nur auf die Vertreter der Printmedien und Radiosender beschränkt hatte. Sogar die Fotografen waren ausgeschlossen worden. Meistens waren bei den Pressekonferenzen in Camp David drei oder vier Kamerateams zugegen. Sicherheitsgründe konnten es nicht sein. Vielleicht wollte er nur den Zeitrahmen so knapp wie möglich halten. Fernsehleute machten sich immer wichtig und zogen alles in die Länge.

Die Techniker waren noch mit dem Überprüfen der Mikrofone und Aufnahmegeräte beschäftigt, als er zum Podium schritt. Blaues Hemd, keine Krawatte, graue Hose und Reebok-Turnschuhe, die so aussahen, als kämen sie tatsächlich zum Einsatz. Die feinen Haare hoben sich leicht im Wind, und um seinen Mund spielte bereits das gewinnende, etwas schiefe Lächeln, als ihm jemand das Hauptmikrofon hinschob. Sie hatte ihn immer gemocht, schon damals, bevor er Vizepräsident geworden war. Eigentlich hatte er nichts mit Reagan gemein, aber in mancher Hinsicht wirkten sie sehr ähnlich. Typisch liebenswerte amerikanische Jungs. Aber Bush war anders, weil er die Hebel in der Hand hatte und seine Hausaufgaben nicht nur machte, sondern sie auch verstand. Dafür hatte schon seine Arbeit als Chef der CIA gesorgt. Kaum wahrscheinlich, daß er Bolivien mit Brasilien verwechselte. Nicht daß Ronald Reagan wegen derartiger Schnitzer Wählerstimmen verloren hätte. Die Mehrzahl der Amerikaner war nicht in der Lage, anhand einer Weltkarte zu zeigen, wo die Tschechoslowakei lag. Reagan gab den Wählern das Gefühl, daß sie durchaus Präsident der Vereinigten Staaten werden könnten, wenn sie nur wollten.

Es gab die üblichen Fragen zu den Themen Abrüstung und »Star Wars«, wie die Presse das SDI-Programm getauft hatte, das den Aufbau eines im Weltraum stationierten Waffensystems zur Abwehr sowjetischer Interkontinentalraketen vorsah. Die Sonderberichterstatterin der Washington Post versuchte ihm eine Stellungnahme zum Thema Abtreibung zu entlocken, aber er bedachte sie mit einem Lächeln und deutete auf den Mann von der Londoner Times.

»Ja, Mister Long.«

»Mister President, manche Menschen in Europa und meines Wissens nach auch in den USA fragen sich, ob man im Weißen Haus nicht der Entwicklung hinterherhinkt, nun, da sich durch Glasnost und Perestroika das internationale politische Klima verändert hat. Haben sie recht, Mister President?«

»Nun – wir haben bei unseren Abrüstungsverhandlungen mit den Sowjets beträchtliche Fortschritte gemacht, zum Beispiel bei der Ächtung chemischer Waffen und beim Truppenabbau. Ich würde das nicht gerade als Hinterherhinken bezeichnen.«

»Mister President, ich habe dabei mehr an die psychologischen Aspekte von Glasnost gedacht. Für alle Welt sieht es so aus, als wollten uns die Sowjets die Hand zum Frieden reichen und die US-Regierung reagiere darauf eher zurückhaltend. Als sei sie nicht bereit, sich mit dem Ende des Kalten Krieges abzufinden.«

Der Präsident lächelte. »Freut mich sehr, daß die Presse zur Abwechslung einmal guten Nachrichten soviel Platz einräumt. Aber lassen Sie mich klarstellen, daß diese Regierung, wie alle anderen Regierungen auch, für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bevölkerung verantwortlich ist. Wir hatten vierzig Jahre lang Kalten Krieg – und der ging, wie ich hinzufügen möchte, nicht von uns aus. Wir begrüßen die Veränderungen in den Ländern des Ostblocks und in der Sowjetunion von ganzem Herzen – und wir sind nur zu gern bereit, diese demokratischen Entwicklungen zu unterstützen. Aber man kann in diesen Ländern nicht über Nacht eine allmächtige Diktatur in eine Demokratie umwandeln – es gibt keinerlei organisierte politische Parteien, die in der Lage wären zu garantieren, daß sich demokratische Regierungsformen durchsetzen. Das dauert eine Zeitlang, und wir müssen ihnen diese Zeit lassen – wir dürfen in unserer Euphorie nichts überstürzen, sonst laufen wir Gefahr, daß man uns bewußte Destabilisierung vorwirft. Ja ...« Der Präsident nickte einem Mann in der hinteren Reihe zu. »Ja, Ted.«

»Mister President. Ist der Regierung bewußt, daß angesichts des veränderten Klimas zwischen den beiden Supermächten viele Amerikaner das Gefühl haben, es sei an der Zeit, unser militärisches Engagement in der NATO zu beenden?«

Der Präsident warf ihm das altbekannte Lächeln zu. »Wenn wir in den grundsätzlichen Fragen weitergekommen sind, wird zweifellos auch über die Streitkräfte der NATO und des Warschauer Paktes gesprochen werden. Wir müssen herausfinden, was die andere Seite im Sinn hat.«

Ein altgedienter Korrespondent von Reuters stand auf.

»Mister President, deutet die Verwendung des Begriffs ›die andere Seite‹ nicht darauf hin, daß die Regierung nur widerwillig dazu bereit ist, ihre ablehnende Haltung gegenüber der Sowjetunion aufzugeben?«

»Mister Olson – Sie sind doch Mister Olson? Richtig. Mister Olson, wenn zwei Anwälte vor Gericht auftreten, der eine als Verteidiger, der andere als Vertreter der Nebenklage, dann sprechen beide von der ›anderen Seite‹, und jeder trägt dem Gericht die Fakten vor, die seiner Sache am ehesten zupaß kommen. Und dennoch ist es nicht ungewöhnlich, daß alle zwei am Samstagnachmittag zusammen Golf spielen.« Er grinste. »Ich nehme an, die diplomatische Entsprechung dafür ist, daß man bei Abrüstungsgesprächen seinen jeweiligen Standpunkt vertritt und danach gemeinsam einen Waldspaziergang unternimmt.«

Es gab etliche Zwischenrufe, doch der Präsident sagte: »Tut mir leid, aber ich habe anderweitige Verpflichtungen. Ich danke für Ihr Kommen und Ihre Fragen.«

Sie sah, daß O’Brien auf sie zukam. Er war der Pressesekretär des Präsidenten, aber sie hatte ihn schon gekannt, als sie noch bei NBC gewesen war und O’Brien PR-Mann an der Madison Avenue.

Er zog sich einen freien Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Freut mich, dich zu sehen, Mary. Lang, lang ist’s her.«

»Empfängt er mich?«

»Für wen ist deine Geschichte?«

»Bislang für niemand. Ich bin jetzt Freelancer, könnte aber sein, daß ich sie bei einer der Überregionalen unterbringe.«

»Politisch oder intellektuell?«

»Intellektuell.«

»Okay. Ich kann dich in etwa zehn Minuten reinbringen. Im Moment erledigt er ein paar Anrufe. Aber nur unter zwei Bedingungen.«

»Als da wären?«

»Nicht länger als eine Viertelstunde und keine unmittelbaren Zitate. Hintergrundinformationen für dich, aber kein – ich wiederhole: kein – Interview.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«

O’Brien wirkte überrascht. »Oh, ich dachte, du wärst verschnupft. Wieso fühlst du dich geschmeichelt?«

»Weil er bereit ist, vertraulich mit mir zu reden, und sich darauf verläßt, daß ich keinen Mißbrauch damit treibe.«

Er lächelte. »Du hast eben allerhand vorzuweisen, Schätzchen. Wie geht’s dem Kleinen?«

Sie lachte. »Der Kleine ist in Yale und studiert Jura.«

O’Brien schaute auf seine Uhr. »Ich glaube, wir können jetzt reinspazieren.«

Der Präsident lächelte, als er ihre Hand ergriff. »Schön, Sie zu sehen, Mary. Ich nehme an, Sean hat Ihnen die Spielregeln schon mitgeteilt. Sind Sie damit einverstanden?«

»Natürlich, Mister President. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.«

»Setzen Sie sich doch, machen Sie es sich bequem.«

Als sie Platz genommen hatte, lehnte er sich zurück.

»Schießen Sie los.«

»Die sogenannten Ostblockländer und ihr Bemühen um Demokratie. Was wird letzten Endes dabei herauskommen?«

»In der DDR besteht die Chance, daß neue Parteien nach dem Vorbild der politischen Parteien in der Bundesrepublik entstehen. Helfen wird auch, daß man die BRD hinter sich hat und damit die Möglichkeit einer wirtschaftlichen und finanziellen Unterstützung aus Bonn. Aber die Kommunisten werden nicht kampflos aufgeben. Die melden sich zurück. Nicht sofort, aber vielleicht in ein, zwei Jahren. Euphorie ist kein Dauerzustand, und wenn die neuen politischen Führungskräfte den Lebensstandard nicht verbessern können, werden die Menschen enttäuscht sein. Und in der Tschechoslowakei und Ungarn muß wieder ganz von vorn angefangen werden. Und das wird nicht einfach werden.«

»Und die Wiedervereinigung?«

»In Bonn will man sie, und man wird alles daran setzen, daß sie kommt. Aber in Europa hat man ein gutes Gedächtnis. Den Franzosen wird das ganz und gar nicht gefallen, egal, was sie in der Öffentlichkeit dazu sagen, und den Polen und den Italienern auch nicht. Vielleicht in zehn Jahren, wenn die Ostdeutschen aus eigener Kraft soweit sind. Wenn man so etwas überstürzt, kann eine ganz vertrackte Situation herauskommen.«

»Was ist mit der NATO und dem Abzug unserer Streitkräfte aus Europa?«

»In Moskau rührt man bereits die Werbetrommel für einen Abbau der Kontingente auf beiden Seiten, aber es kommt darauf an, was die Sowjets darunter verstehen. Eine rein zahlenmäßig angeglichene Reduzierung kommt für uns nicht in Frage. Wenn, dann müssen schon die tatsächlich vorhandenen Truppen- und Waffenkontingente in die Rechnung aufgenommen werden. Im Augenblick sind sie in allen Belangen weitaus stärker als die NATO.

Und eins müssen Sie bedenken: Wenn etwas schiefgeht, brauchen sie bloß durch Polen oder Ostdeutschland vorzustoßen, und schon sind sie auf dem Marsch zum Rhein. Wir müßten erst Truppen aus den Vereinigten Staaten losschicken. Bis wir dort sind, könnte schon alles vorbei sein.«

»Glauben Sie, daß Gorbatschow es ehrlich meint?«

»Oh, selbstverständlich meint er es ehrlich. Er hat gar keine andere Wahl. Die sowjetische Wirtschaft bricht aufgrund allgemeiner Korruption und mangelnder Produktivität zusammen. Sie müssen bedenken, daß es Glasnost und Perestroika nicht erst seit Gorbi gibt. Schon Chruschtschow hat damit angefangen, als er beim Zwölften Parteitag Stalin verurteilte – neunzehnhundertsechsundfünfzig war das, wenn ich mich recht entsinne. Aber die Zeit war nicht reif dafür. Und Gorbatschow hat noch ganz andere Probleme als die Wirtschaft. Das Wiederaufflackern des Nationalismus ist ein ebenso großes Problem.«

»Wie steht es mit dem Vorwurf, wir würden bei der Beendigung des Kalten Krieges hinterherhinken?«

»Die haben den Kalten Krieg verursacht. Nicht wir. Und jetzt möchten sie, daß er aufhört. Das heißt nicht, daß sie erklärtermaßen davon Abstand nehmen, auch weiterhin auf Subversion und Expansion zu setzen, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet. Sie befinden sich in einer chaotischen Situation, und ich habe nicht die Absicht, etwas zu überstürzen und hinterher als Mitschuldiger dazustehen, wenn sie den Karren in den Dreck fahren – was wahrscheinlich der Fall sein wird.

Die Menschen im Westen haben sich von einer hervorragenden PR-Aktion des Generalsekretärs Gorbatschow einwickeln lassen. Aber die meisten sind sich nicht darüber im klaren, daß er in all seinen öffentlichen Stellungnahmen zum Thema Glasnost niemals, nicht einmal andeutungsweise, eine Reihe von Reformen angeregt hat, die die Sowjetunion in eine pluralistische Gesellschaft verwandeln würden, und auch die Allmacht der Kommunistischen Partei wurde nicht einmal annähernd in Frage gestellt. Er ist ein Kommunist, Mary. Vergessen Sie das nie. Und sorgen Sie dafür, daß es auch die Öffentlichkeit nie vergißt. Man sollte sich an Taten orientieren, nicht an Worten.«

»Und was ist mit Star Wars? Die scheinen ja ganz versessen darauf, daß wir das ganze Projekt aufgeben.«

Er blickte sie eine Zeitlang an, beugte sich dann vor und sagte: »Keinerlei Zitat, keinerlei Andeutung, nicht einmal einen vagen Verweis auf das, was ich Ihnen sage. Okay?«

»Natürlich, Mister President.«

»Die sind uns weit voraus, was SDI angeht. Das haben sie bereits. Genau das ist es doch, was mir durch den Kopf geht, wenn ich Glasnost und Perestroika höre, diese Scheinheiligkeit und Roßtäuscherei.« Er stand auf. »Ich muß los, Mary. War schön, Sie zu sehen. Bleiben Sie noch ein bißchen, und trinken Sie was mit Sean.«

An diesem Abend durfte außer den Marineinfanteristen vom Wachpersonal und den Agenten des Secret Service niemand in Camp David bleiben. Nicht einmal die Mitarbeiter des Weißen Hauses.

Der Präsident speiste mit seiner Frau und dem alten Mann zu Abend. Als sich der alte Mann zum Aufbruch anschickte, begleitete ihn der Präsident zur Tür. Er erinnerte sich, daß Malloy etwas von Arthritis gesagt hatte, und so gab er dem alten Mann ganz sanft die Hand zum Abschied. »Sie haben mir zu mehr Klarheit verholfen, und dafür bin ich Ihnen aufrichtig dankbar.« Dann lächelte er und sagte: »Do swedanja a spasibo.«

Der alte Mann lächelte ebenfalls. »Do swedanja.«

Bill Malloy fuhr mit dem Lincoln zum Dienstbotenbereich des Hauptgebäudes und half dem alten Mann auf den Beifahrersitz. Dann steuerte er den Wagen über den Versorgungsweg zur Hauptstraße und von dort zum Flugplatz.

Sie blieben im Wagen sitzen, während das Flugzeug durchgecheckt wurde. »Wollen Sie es sich nicht noch einmal anders überlegen?« sagte Malloy.

»Nein. Ich habe schon vor langer Zeit Schluß gemacht.« Er lächelte. »Ich hoffe, Sie lassen sich von Zeit zu Zeit mal sehen. Alle beide.«

»Bestimmt. Ich wünschte, wir könnten aller Welt mitteilen, wieviel wir Ihnen verdanken – dem Mann, der den Kalten Krieg gewonnen hat.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht gewonnen, mein Freund. Ich habe nur meinen bescheidenen Anteil dazu beigetragen, daß kein heißer Krieg daraus wurde. Und nur darauf kommt es an.« Er drehte sich zu Malloy um. »Ihre Leute haben allerhand zu tun, mein Freund. Wenn Sie sich die neuen Demokratien anschauen, müssen Sie immer daran denken, was Bertrand Russell gesagt hat.«

»Und zwar?«

»Wenn Ihnen jemand Demokratie bietet und jemand anders einen Sack Korn – wie ausgehungert müssen Sie sein, damit Sie das Korn freien Wahlen vorziehen?«

Dann gab man ihnen ein Zeichen, daß das Flugzeug startbereit war. Malloy begleitete den alten Mann zur Treppe und winkte ihm zu, als er unter der Tür stand.

Lange nachdem die Maschine abgehoben hatte, stand Malloy immer noch da. Wahrscheinlich hatte er den alten Mann zum letzten Mal gesehen, und er empfand Schuld und Trauer. Trotz aller Hilfe, die er ihnen geleistet hatte, war sein Leben leer. So einsam, selbst wenn er unter Menschen war. Blitzgescheit – und doch so unschuldig. Ein Humanist aus ganzem Herzen, und trotzdem fand er bei keinem Menschen Zuspruch. Ein Mann, den man achtete, aber nicht bewunderte. Er tröstete sich in der Gewißheit, daß man ihn zwar gebraucht, sein Engagement aber nicht mißbraucht hatte. »Wir werden jeden Preis bezahlen«, hatte Jack Kennedy gesagt, und der alte Mann war ein Teil dieses Preises gewesen. Aber das Herzblut hatte man ihm in Moskau abgezapft – für eine Sache, die auf der ganzen Welt im Zusammenbruch begriffen war.

Langsam ging Malloy zum Wagen zurück. Wenigstens hatte der alte Mann Tanja, die ihn als Heiligen betrachtete und genügend Liebe für sie beide besaß.

Ein echter Amerikaner

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