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SAM

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Ständig muss ich mich verstellen. Ich bin schon so gut darin geworden, dass ich gar nicht mehr weiß, wie ich wirklich bin.

Ich versuche, mich in Julia hineinzuversetzen, stelle mir vor, wie es in ihr aussieht: auf der einen Heftseite ein Bild, auf der anderen Worte. Die Zeichnung hilft mir beim Schreiben. Ava sieht mir zu, gibt Hilfestellung, wenn ich nicht weiterweiß, erinnert mich immer wieder ans korrekte Reimschema.

Als ich fertig bin, streicht sie über die Zeichnung von Romeo. Er ähnelt Lucas, aber ich habe ihn so perfekt dargestellt, dass er beinahe abstoßend wirkt. Ob die Lehrerin den Witz versteht? Und Ava?

»Romeo ist eine Karikatur«, sagt sie zu meiner Zufriedenheit.

»Fertig. Zeit für eine Pause.«

Auf einmal gehen die Lichter aus. Ohne Vorwarnung, ohne Flackern, von einem Moment auf den anderen ist es dunkel. Die Türen sind verschlossen und in dem kleinen Zimmer gibt es keine Fenster. Es ist stockfinster.

Automatisch steigt bescheuerte Panik in mir auf: Mein Herz klopft, mein Magen rebelliert und ich fummle in der Tasche nach meinem Handy. Als ich es gefunden habe, schalte ich die Taschenlampe ein. Mit dem dünnen Lichtstrahl kann ich schon wieder besser atmen.

»Was ist los?«, fragt Ava.

»Vielleicht ein Stromausfall?«

Ich mache die Tür auf und schaue in den dunklen Gang. Keiner da. Ava ist inzwischen durch die andere Tür zum Nachbarzimmer, das ein Fenster hat.

»Nicht nur in der Schule«, sagt sie. »Die Lichter sind überall aus.«

Mist. Ich habe gestern Abend vergessen, mein Telefon aufzuladen. Es hat nur noch elf Prozent. Wie lang reicht das wohl? Diese alten Gebäude haben so wenig Fenster und ich will unbedingt nach draußen, ins Licht und an die Luft.

»Das ist wohl ein Zeichen, dass wir für heute fertig sind«, sage ich.

»Einverstanden«, entgegnet Ava.

Wir sammeln unsere Sachen zusammen und laufen durch den schmalen Gang, der nur vom dünnen Lichtstrahl meines Telefons beleuchtet wird. Dann treten wir nach draußen in den Hof. Andere Leute kommen dazu, Lehrer und ein paar Schüler, die aus irgendwelchen Gründen länger geblieben sind. Wir laufen Richtung Sekretariat und Hauptausgang, aber bevor wir ihn erreichen, taucht die stellvertretende Direktorin auf.

»Fürs Erste wurden wir gebeten, alle hier …« Der Rest ihres Satzes geht im Sirenengeheul unter.

»Was ist passiert?«, fragt eine Lehrerin besorgt. Die stellvertretende Direktorin wirft ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Bestimmt ist alles in Ordnung. Vielleicht legt der Stromausfall auch den Verkehr lahm? Wir kümmern uns darum. Fürs Erste bleibt bitte hier im Hof oder kommt mit in die Bibliothek. Die Hausmeister gehen durch die Gebäude und trommeln alle zusammen.«

Die anderen verschwinden durch die Türen zur Bibliothek, aber ich steuere auf eine Bank zu, ich möchte lieber draußen im Tageslicht bleiben. Ava zögert.

»Geh ruhig rein, wenn du magst«, sage ich.

Stattdessen setzt sie sich neben mich auf die Bank; ich bin erleichtert, dass ich nicht allein bleiben muss, gleichzeitig ärgert mich das auch schon wieder.

»Du hast Englisch erledigt«, sagt sie. »Abgemacht ist abgemacht. Wir können uns auch hier draußen zeichnen. Aber ich bin echt nicht gut, also nimm’s nicht persönlich.«

»Werde ich nicht.« Und ich hole meine Zeichenutensilien hervor, die ich immer dabeihabe, reiße ein paar Seiten aus dem Zeichenblock und reiche sie Ava. Wenigstens lenkt mich das ein wenig ab. Wie lange haben wir noch Licht? Die Sonne steht schon ziemlich tief.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, meint Ava.

»Versuch es mit einem Detail, einer Haarsträhne zum Beispiel. Es muss nicht gleich das ganze Gesicht sein. Konzentriere dich auf dieses eine Detail, du kannst es möglichst genau wiedergeben oder es auch verändern, wenn du es mit dem Auge des Künstlers anders siehst.«

»Dass ich ein Künstlerauge habe, bezweifle ich! Aber ich gebe mein Bestes.«

Mit dem Stift in der Hand mustert sie mich lange, blickt dann aufs Papier, beginnt, blickt wieder auf. Ich betrachte noch immer ihr Gesicht, die Proportionen. Ava ist … nicht unbedingt schön, aber faszinierend. Sie zieht Blicke auf sich. Hat hohe Wangenknochen, ein markantes Gesicht. Ihre Augen stehen ein wenig auseinander, mit langen Wimpern, ohne dass sie getuscht sind. Ihr dunkles, glattes Haar ist links hinters Ohr geklemmt, rechts fällt es bis über die Schulter. Ihr Blick ist intensiv, immer. Sie lebt im Moment, konzentriert sich voll und ganz auf das, was sie gerade tut. All das muss ich zu Papier bringen, wenn ich ihr Wesen erfassen will. Ich schnappe mir einen Stift und lege los.

Gestern habe ich gelogen. Wir haben uns vielleicht noch nie unterhalten, aber ich wusste, wer sie ist, und ich male sie auch nicht zum ersten Mal. In dem Meer aus geschminkten Gesichtern und sorgfältig frisiertem Haar sticht sie aus der Menge heraus, sie ist einfach anders. Als man mich gestern ins Nachhilfezimmer geschleift hat, war ich so überrascht, sie zu sehen, dass ich mich nicht gleich setzen konnte. Ich musste mich erst mal sammeln. Ava hat was an sich, das ich bislang noch nicht einfangen konnte. Nun, wo ich sie direkt vor mir habe, bin ich wild entschlossen.

Ava gehört hier keiner Clique an, hat auch keine engen Freunde, jedenfalls ist mir niemand aufgefallen. Zwischen all den Gruppen in der Schule bleibt sie für sich. Sie ist ziemlich isoliert. Ob sie sich einsam fühlt? So wirkt sie aber nicht. Eher unabhängig, als wären wir anderen ihr egal oder als würden wir in ihrer Welt gar nicht vorkommen. Irgendwie schafft sie es so, dass die anderen sie mit ihren üblichen Lästereien in Ruhe lassen – obwohl sie ein Stipendium hat und sich, na ja, nicht gerade super kleidet. Bei solchen Sachen ist man hier sonst nicht unbedingt zimperlich, gerade weil es Schülerinnen wie Charlize und Ruth gibt, deren Kleiderschränke größer sind als die kompletten Häuser von anderen Leuten.

Wenn ich rumlaufen würde wie Ava, würde ich ihre Krallen zu spüren bekommen. Wahrscheinlich würde ich in der Zeitung auf der Liste mit den schlechtangezogensten Leuten landen. Irgendwie beneide ich Ava. Wie kommt sie nur damit durch?

Mir ist bewusst, dass Ava aufgehört hat zu zeichnen und wartet, dass ich fertig werde. Sie beugt sich vor, um einen Blick auf meine Zeichnung zu erhaschen, aber ich halte den Block hoch.

»Noch nicht!«

Sie setzt sich wieder zurück und ich arbeite weiter an ihren Augen, verwische die Linien ein wenig …

Ich arbeite so konzentriert, dass ich zusammenzucke, als sie sich räuspert.

»Kannst du denn überhaupt noch was sehen?«, fragt sie.

Mir ist gar nicht aufgefallen, dass es schon fast dunkel ist. Sofort bekomme ich es wieder mit der Angst zu tun. In den Gebäuden ringsherum geht der Strom immer noch nicht, aber hinter den Fenstern der Bibliothek flackert Licht. Bestimmt haben sie ein paar Kerzen aufgetrieben.

»Lass uns reingehen«, sage ich und klappe den Block zu.

»Darf ich mal sehen?«

Bevor ich es richtig hinbekommen habe, will ich es ihr nicht zeigen, deshalb schüttle ich den Kopf. »Später. Hier ist es zu dunkel, und wenn ich es dir drinnen zeige, sehen es die anderen, das will ich nicht.«

»Okay. Warte mal kurz. Bevor wir reingehen, rufe ich meinen Vater an.«

Ava holt ihr Telefon aus der Tasche, es ist praktisch museumsreif. Kaum zu glauben, dass es noch funktioniert. Kurz darauf spricht sie mit ihrem Dad und erklärt, dass sie noch in der Schule ist und wir keinen Strom haben. Sie hört eine Weile zu und verabschiedet sich dann. Nachdem sie aufgelegt hat, sieht sie mich mit großen Augen an.

»Dad meint, ganz London ist abgeriegelt.«

»Ist er bei der Polizei?«

Sie schüttelt den Kopf, zögert. »Er ist Taxifahrer.« So wie sie es sagt, klingt es fast trotzig. Ich wusste es nicht und bestimmt weiß es auch sonst niemand auf der Schule, sonst hätte das längst die Runde gemacht. Selbst wenn sie unterm Radar fliegt, würde das nicht unbeachtet bleiben. Hat Ava mir gerade etwas anvertraut, was sie sonst für sich behält? »Er weiß immer, was wo vor sich geht.«

Ich krame mein eigenes Handy hervor, es war auf lautlos gestellt. Verpasste Anrufe von Dads Assistentin und einer von Dad. Daneben hat er mir noch eine Nachricht geschrieben: Bist du noch in der Schule? Bleib da.

Ich drücke auf den grünen Hörer und lausche dem Freizeichen.

EXIT NOW!

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