Читать книгу EXIT NOW! - Teri Terry - Страница 26
AVA
ОглавлениеKurz nach Mitternacht sind wir zurück bei Sam.
Wir treten durch den Haupteingang und wollen gerade die große Treppe hoch, als das Licht von Autoscheinwerfern durch die Fenster hineinfällt.
Sam dreht sich um. »Wer von meinen Eltern war denn noch so lange weg?«
Kaum sind wir wieder unten, geht auch schon die Haustür auf. Es ist Sams Mutter.
Ich bin gespannt, denn aus irgendwelchen Gründen ist sie ständig in der Zeitung: wegen ihrer Haare, ihres Kleides oder eines Empfangs. In natura ist sie noch schöner. Geradezu atemberaubend, in einem langen Kleid, das Haar hochgesteckt. Und an Hals, Ohren und im Haar funkeln echte Diamanten, zumindest glaube ich das. Sie ähnelt Sam, nur dass sie größer ist. Und sie wirkt so jung, dass die beiden Schwestern sein könnten.
»Samantha, Liebling.« Die Mutter streckt die Hände nach Sam aus und zieht sie an sich, gibt ihr rechts und links ein Luftküsschen. »Und wer ist deine Freundin?«
»Das ist Ava. Ich habe dir doch geschrieben, dass sie über Nacht bleibt. Sie ist meine Nachhilfelehrerin. Wegen der Straßensperren kommt sie nicht nach Hause.«
»Natürlich. Freut mich sehr, Ava«, sagt sie und lächelt. Dann bekomme auch ich ein Luftküsschen. »Was habt ihr zwei denn heute gemacht? Warum seid ihr überhaupt noch wach?«
»Auf dich gewartet, was sonst. Du kommst aber spät.« Sam setzt eine gespielt strenge Miene auf.
Ihre Mutter lacht glockenhell. »Wir saßen in der Royal Albert Hall fest! Die haben uns nicht gehen lassen, bevor die Straßen alle wieder frei waren. Was für eine Aufregung! Geh ins Bett, Liebling!«
Als sie Sam über die Wange streicht, flackert in mir plötzlich Sehnsucht auf – das fehlt mir.
Gemeinsam steigen wir die Treppen hinauf, doch ihre Mum verabschiedet sich im ersten Stock, während wir noch einen weiter gehen.
»Penny hat mir vorhin geschrieben, dass du das Gästezimmer gegenüber von mir bekommst«, sagt Ava. »Es sollte alles da sein. Klamotten, Handtücher und so. Und ein eigenes Bad hast du auch.« Wir gehen durch den Flur. »Da ist es.« Sam öffnet die Tür und schaltet das Licht ein.
Das Zimmer ist so groß wie Sams, nur dass es keine persönlichen Dinge dort gibt. Obwohl es sehr nobel eingerichtet ist, wirkt es hotelmäßig. Unsere gesamte Zwei-Zimmer-Wohnung hätte darin locker Platz.
»Ist das okay?«
»Das ist mehr als okay. Danke.«
Zögernd bleibt Sam in der Tür stehen. »Bist du müde?«
Ich zucke die Achseln. »Müde schon, aber ich weiß nicht, ob ich schon schlafen kann.«
»Ich auch nicht. Lass uns noch ein bisschen reden.« Wir gehen in ihr Zimmer. Auf dem Tisch neben dem Sofa steht ein Tablett mit Popcorn- und Chipstüten und Getränken. Und ein paar Stücke von dem Schokoladenkuchen.
»Mmh. Ein Mitternachtsimbiss!«, ruft Sam. »Unsere Köchin kann Gedanken lesen.«
Sie schüttet das Popcorn in eine Schale und bedeutet mir, mich neben sie zu setzen.
»Was für ein Tag«, sagt sie.
»Ja.«
»Meinst du, das mit Lucas’ Freund stimmt?«
»Überraschen würde es mich nicht. Fehler passieren doch ständig, aber das ist schon heftig.« Ich schaudere. »Die Verantwortlichen sollten richtig Ärger bekommen und sich nicht hinter Lügen verstecken können.« Ich runzle die Stirn. »Aber schon seltsam.«
»Was denn?«
»Wenn es Lucas’ Freund war, auf den geschossen wurde, warum ist er denn auf die Party gekommen?«
Sam legt den Kopf schief. »Weiß ich auch nicht«, sagt sie schließlich. »Anfangs wirkte er auch noch nicht aufgebracht. Vielleicht hat er nur versucht, sich abzulenken.«
»Vielleicht.« Dafür habe ich Verständnis. Dinge, die mich am meisten belasten, vergrabe ich auch am tiefsten in mir. Nur warum hat er das Thema denn überhaupt angeschnitten? Irgendwas stimmt da nicht.
Eine Weile sagen wir beide nichts und kauen gedankenverloren vor uns hin. Aber das macht nichts, ich fühle mich wohl – irgendwie geborgen, hier bei Sam und in den schönen geliehenen Klamotten.
»Deine Mutter ist so hübsch«, sage ich schließlich.
»Hhmm. Sollte sie auch. Schönsein ist ihre Lebensaufgabe.«
»Sam!«
»Ist doch wahr. Das ist das Wichtigste für sie.«
»So solltest du nicht über deine Mutter sprechen.«
»Du kennst sie doch gar nicht. Ich schon.«
»Stimmt. Aber ich bin überzeugt, dass sie dich gernhat. Wenigstens hast du eine Mutter.«
Es dauert eine Weile, bis Sam begreift. »Tut mir leid«, sagt sie. »Das wusste ich nicht. Was ist denn mit deiner Mutter passiert?«
»Sie hat uns verlassen. Vor sechs Jahren, als die Grenzen dichtgemacht wurden. Sie kam aus Schweden und ging dann lieber zurück, als hier festzusitzen. Sie hat uns einfach zurückzulassen.«
»Das ist ja furchtbar. Tut mir echt leid. Hat sie sich nie gemeldet?«
»Nein. Gar nicht. Nicht mal eine E-Mail.«
»Oh, Ava.« Mitfühlend sieht sie mich an, greift nach meiner Hand.
»Am schlimmsten ist die Ungewissheit. Geht es ihr gut? Meldet sie sich nicht, weil ihr was zugestoßen ist?« Ich zucke die Achseln. »Manchmal wünsche ich mir das regelrecht. Wenigstens gäbe es so einen Grund dafür, dass sie nichts von sich hören lässt. Und dann fühle ich mich schrecklich, dass ich so denke.«
»Ich erinnere mich noch daran. Der Tag der Entscheidung, da hieß es: Geh oder bleib! Es muss für so viele Menschen schrecklich gewesen sein.«
»Es hat Familien zerrissen. Aber meine Mutter hätte nicht gehen müssen, niemand hat sie gezwungen, wegen mangelnder Sprachkenntnisse das Land zu verlassen. Sie sprach perfekt Englisch. Am Ende hat sie sich bewusst dafür entschieden, meinen Vater und mich zu verlassen.«
»Wie war sie so?«
»Wundervoll. Deshalb verstehe ich es auch nicht. Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich diese warmherzige, tolle Frau vor mir, die für mich da war, mir vorgesungen hat und sich in jeder Hinsicht gut um mich gekümmert hat. Ich habe nie begriffen, warum sie fort ist. Begreife es heute noch nicht.« Ich schaue Sam an, die noch immer meine Hand hält. »Normalerweise rede ich nicht über meine Mutter.« Und das stimmt auch. Ich rede nie über sie, warum bin ich Sam gegenüber so offen?
In vielerlei Hinsicht ist Sam nicht, wie ich es erwartet habe. So gar nicht. Am Anfang habe ich mich in ihrer Gegenwart total unwohl gefühlt, aber sie ist so viel mehr, als man zunächst sehen kann: lustig, talentiert, liebenswürdig.
Jetzt lässt sie meine Hand los. Rückt ein wenig von mir ab, als sie nach einem Stück Schokokuchen greift. Plötzlich ist da eine Distanz, vielleicht sind es nur Zentimeter, dennoch kommt es mir unüberbrückbar vor.
Und nun hoffe ich, dass sie nicht gesehen hat, dass ich ihr nah und auch wieder nicht nah sein wollte. Dass ich insgeheim gehofft hatte, dass sie jemand wäre, den ich verachten könnte. Aber das ist sie nicht und das macht es schwerer.
Sam fängt an, über Lucas zu sprechen, gibt zu, dass sie ihn ins Englischheft gezeichnet hat.
»Ist er denn dein Romeo?« Ich necke sie ein wenig, doch es interessiert mich auch. Sam schüttelt den Kopf, aber so ganz kaufe ich es ihr nicht ab. Da scheint mehr zu sein.
Und dann lächle ich, bin glücklich und traurig zugleich. Glücklich über Sams Vertrauen und ihre Freundschaft. Ich fühle mich nicht mehr ganz so einsam wie zuvor. Aber dennoch bin auch traurig.