Читать книгу connect - Thea Mengeler - Страница 10

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Ava lässt sich in einen Sessel fallen. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass es hier so etwas geben könnte. Wie auch? Niemand würde auf der Suche nach einer Bar durch den Hausflur eines Wohnhauses gehen, den Hof überqueren und die Tür des Hinterhauses öffnen. Nicht einmal ein Schild verrät, was sich hinter der unauffälligen Fassade verbirgt. Nur ein paar murmelnde Stimmen und gedämpftes Licht, das durch die Scheiben sickert. Selbst im Innern sieht man der Bar noch an, dass sie früher eine Wohnung war. Die Zimmertüren hat man ausgehängt und in den verschieden großen Räumen drängen sich nun kleine Gruppen von Sesseln, Sofas und kleinen Couchtischchen, auf die zerbeulte Leselampen ihre schiefen Lichtkegel werfen. Alles macht einen etwas improvisierten Eindruck, wie vom Sperrmüll zusammengesammelt.

Kaum, dass sie sich gesetzt haben, steht eine Frau zwischen ihren Sesseln, berührt Lina leicht am Arm. Sie fügt sich perfekt in den Raum ein mit ihrer Kleidung aus mindestens zweiter Hand. In ihrer hoch in der Taille sitzenden Marlene-Hose steckt ein verblasstes und einige Nummern zu großes Chicago-Bulls-Shirt. An den Füßen leicht vergilbte Sneaker, um den Hals diverse Ketten. Ava findet einen solchen ausgestellten Stilmix eigentlich albern, doch irgendwie kann sie ihn an dieser Frau nicht albern finden. Vielleicht wegen der beiläufigen Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn trägt, vielleicht wegen des ungeschminkten Gesichts unter der schon rauswachsenden Kurzhaarfrisur, vielleicht wegen des übergroßen Mundes, der lächelnd fast ihr halbes Gesicht einnimmt.

Lina und sie umarmen sich fest und lange. »Wir haben dich vermisst letzte Woche«, sagt die Frau jetzt und hält Lina noch einen Moment an den Schultern fest, schaut ihr forschend ins Gesicht. »Es geht dir aber gut, oder?« Lina nickt, sie sei nur für ein paar Tage verreist. »Dann bin ich beruhigt«, das Lächeln breitet sich wieder über ihrem Gesicht aus, als sie sich Ava zuwendet.

»Entschuldige bitte, ich beanspruche Lina hier ganz für mich. Ich bin Paula.« Und ehe Ava reagieren kann, hat Paula sich zu ihr heruntergebeugt und auch sie umarmt. Dann setzt sie sich auf die Armlehne von Linas Sessel und plaudert noch etwas mit ihr, wobei sie jedoch immer wieder zu Ava herüberlächelt und kurze Erklärungen einflicht, wann immer es nötig ist. Ava kann dem Gespräch nicht ganz folgen, stört sich aber nicht daran. Sie mag Paulas Art, mit dem ganzen Körper zu sprechen, ihre ausladenden Gesten und ihr sich ständig veränderndes Gesicht. Ganz automatisch scheint sie die Menschen nachzuahmen, über die sie spricht. Die leicht geschürzten Lippen des Einen, das schiefe Lächeln der Anderen. Aber es hat nichts Herablassendes an sich. Es ist mehr, als schlüpfe sie kurz in die Haut der anderen, um besser von ihnen erzählen zu können.

»Aber ihr seid ja sicher nicht hier, um euch meine Geschichten anzuhören«, unterbricht sie sich schließlich selbst. »Was kann ich euch bringen?« Und zu Lina: »Grauburgunder wie immer?« Ava nimmt das Gleiche und Paula drückt beiden noch einmal kurz den Arm, bevor sie im Nebenraum verschwindet.

»Du bist öfter hier.« Es ist eigentlich eher eine Feststellung als eine Frage, aber Lina nickt trotzdem. »Der Laden gehört Freunden von mir. Paula hast du ja gerade kennengelernt. Sie macht das hier zusammen mit Lars und Dominique. Die drei wohnen gleich hier drüber.«

Wenig später halten beide ein Weinglas in der Hand. »Auf zufällige Begegnungen«, sagt Lina und lässt ihr Glas gegen Avas klirren. Beide nippen an ihrem Wein, und einen Moment lang ist nicht mehr zu hören als das dumpfe Gemurmel von Gästen aus den anderen Räumen und ein entferntes Klirren, das wahrscheinlich aus der Küche kommt. Was, wenn sie sich gar nichts zu sagen haben? Ein Paar durchquert den Raum, ihre Schritte dumpf auf dem Dielenboden. Man lächelt sich kurz zu, dann verschwinden die beiden in den nächsten Raum hinein. Wieder Stille. Ava zwingt sich, etwas zu sagen, irgendetwas zu sagen. »Ich wusste gar nicht, dass du auch hier wohnst. Bist du gleich nach dem Studium hergezogen?«

Lina wiegt ihren Kopf unbestimmt hin und her. »Jein. Also, ja ich bin nach dem Studium hergezogen, aber dazwischen war ich noch an so einigen anderen Orten.« Während Ava noch darüber nachdenkt, ob sie weiter nachfragen sollte, spricht Lina von selbst weiter. »Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht, aber zu Unizeiten war ich ziemlich extrem drauf. Überall dabei, immer hundertzwanzig Prozent.« Ava nickt. »Das fand ich ziemlich beeindruckend.« Lina schüttelt den Kopf. »Musst du nicht. Nach der Uni hab ich genauso weiter gemacht, nur jetzt in Agenturen. Also nachts und am Wochenende arbeiten, nie krank, selten Urlaub … und irgendwann saß ich dann morgens ne Stunde heulend im Flur, weil ich es einfach nicht geschafft hab, meine Wohnung zu verlassen.«

Ava dreht ihr Weinglas in der Hand. Feine Linien ranken sich darauf, treffen nicht ganz auf den Rand des Glases, laufen knapp darunter in Spitzen zusammen. Ava will etwas sagen, aber weiß nicht, was, sagt »Scheiße« und weiß selbst, dass eigentlich viel mehr zu sagen wäre. Sie denkt an diese endlosen Minuten in der Agenturtoilette und nimmt einen großen Schluck Wein.

»Ich hab mir dann drei Wochen frei genommen und bin nach Südamerika geflogen. Digital Detox. Was für ein Klischee«, sagt Lina, noch bevor Ava es denken kann. »Bei der Arbeit habe ich niemandem was gesagt. Offiziell hatte ich einfach nur Urlaub. Tolles Last-minute-Angebot«, sie schüttelt den Kopf. »Und natürlich meinte ich danach, alles verstanden zu haben. Ich würde viel weniger arbeiten und viel mehr meditieren.« Sie spricht nicht weiter.

»Und, hast du?«

Lina lacht. »Ungefähr zwei Wochen. Danach kam der nächste Pitch und ich hatte keine Zeit mehr zum Meditieren. Und dann kam irgendwann der nächste Burnout und da hab selbst ich gecheckt, dass das vielleicht alles nicht so ganz gesund für mich ist.« Lina lehnt sich zurück, legt ein Bein über die Sessel-Lehne. »Ich hab also gekündigt und bin nach Indien gegangen. Ich lass auch kein Klischee aus. Ich hab da ein Jahr lang eine Yogalehrer-Ausbildung gemacht.«

»Und jetzt unterrichtest du Yoga?«, Ava schafft es nicht, ihre Überraschung zu verstecken.

»Nein, das war eine ziemlich bescheuerte Idee. Ich bin nicht wirklich der Yogalehrer-Typ. Ich hab mich ziemlich schnell gelangweilt und um ehrlich zu sein … Ich hab auch das Agenturleben vermisst. So ätzend das auch manchmal ist, zumindest ist es nicht langweilig.«

Ava nickt langsam und Lina sieht sie mit schief gelegtem Kopf an. »Siehst du das anders?« Ava zuckt mit den Schultern. »Ne, stimmt schon.«

Aber die Antwort genügt Lina offenbar nicht. Sie drängt Ava zwar nicht, aber scheint darauf zu warten, dass Ava fortfährt. Einige Augenblicke ist es still, während Ava ihr Glas in den Händen dreht. Sie schaut Lina nicht an, als sie weiterspricht. »Irgendwie ist das doch alles total sinnfrei. Achtzig Prozent von dem, was man den ganzen Tag macht, landet eh in der Tonne und die restlichen zwanzig Prozent sind nicht mal gut. Und wenn man ungefähr einmal im Jahr echt was Geiles macht, schreibt irgendwer seinen Namen drauf, der das Ganze dreimal gesehen und abgenickt hat. Und wofür das Ganze?« Ava spricht schneller. »Damit irgendein Unternehmen noch ein bisschen mehr Geld scheffeln kann. Und die Sachen, auf die man eigentlich Bock hat, zu denen kommt man nicht mehr, wenn man nämlich mal frei hat, ist man so fertig, dass man gar nichts mehr machen will.« Sie bricht ab, ist selbst überrascht von ihrem Ausbruch.

Als sie den Kopf hebt, sieht sie Lina nicken. »Genau deshalb bin ich inzwischen Freelancer. Du glaubst gar nicht, wie befreiend das ist. Natürlich musst du einen anständigen Job machen, aber was aus den Projekten am Ende wird, kann dir völlig egal sein. Und mehr Freizeit hast du auch wieder.«

»Hmm …« Ava fährt das Muster auf ihrem Glas mit dem Finger nach. »Ja, versteh ich. Aber ich glaube, das wär nichts für mich.«

Lina zieht die Füße hoch auf ihren Sessel. »Wieso nicht?«

Ava antwortet nicht gleich. Sie hat nie so genau darüber nachgedacht, warum sie sich nie vorstellen konnte, als Freelancer zu arbeiten. »Ich glaube«, sagt sie zögernd »ich möchte nicht darauf verzichten, ein Team zu haben. Und auch die Jobs. Wenn ich mir einen TV-Spot ausdenke, dann habe ich keinen Bock drauf, dass irgendwer ihn danach übernimmt und komplett versaut.«

Lina scheint einen Moment darüber nachzudenken. »Macht Sinn. Ist mir aber komischerweise egal. Mir waren die Ideen immer wichtiger als die Umsetzung.« Sie zieht eine Grimasse. »Darauf hatte ich meistens eh keinen Bock, also passt das für mich ganz gut. Im Grunde bin ich faul. Ich fange Sachen gerne an, aber bring sie nicht so gerne zu Ende.«

»Oh ja, genau.« Ava fällt in Linas Tonfall ein. »Deshalb hast du auch deinen Abschluss als Jahrgangsbeste gemacht, weil du Dinge so ungern zu Ende bringst.« Und von da aus schwappt ihr Gespräch in leichtere Themen. In gemeinsame Erinnerungen an Professoren, über deren Sadismus man im Nachhinein lachen kann und andere, denen man bis heute dankbar ist. Zu Kommilitonen, von denen sie nur noch Brocken von Informationen haben, die sich meist in den ersten Jahren nach dem Studium verlieren. Am meisten Eindruck hinterlassen hat der, der gleich nach dem Abschluss alles hingeworfen hatte, um Gärtner zu werden.

Im Schein des kleinen Lichtkegels, der ihre beiden Sessel gerade einmal streift, lässt sich beinahe vergessen, dass sie sich in einer Bar befinden. Auch Ava hat jetzt die Füße hoch auf ihren Sessel gezogen, schmiegt sich in die Kuhle, die schon andere Rücken hinterlassen haben. Und nur unterbrochen von Paula, die kommt, um ihre Gläser nachzufüllen, spinnen Ava und Lina Alternativ-Leben, in denen auch sie keine Designer sind, sondern Bäcker, Alpaka-Züchter oder Schnapsbrenner. Sie gehen erst, als kein Murmeln mehr aus den anderen Zimmern dringt und Paula beim Nachschenken ein Gähnen nur mühsam unterdrückt.

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