Читать книгу connect - Thea Mengeler - Страница 17
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ОглавлениеAva schreckt hoch, starrt auf ihr Handy, bis sie endlich begreift, dass es nicht der Wecker ist, sondern ein Anruf, der sich in ihren Schlaf geklingelt hat. Linas Name steht auf dem Display.
»Hey!«, Lina klingt verboten frisch. Wahrscheinlich ist es schon viel später als Ava denkt.
»Hi Lina«, Avas Stimme ist schwach und kratzig. Ihre Katerstimme.
»Oh, hab ich dich geweckt? Entschuldige! Ich kann auch später noch mal anrufen.«
Ava setzt sich auf. Sie ist durchgeschwitzt. Wahrscheinlich scheint die Sonne schon eine Weile direkt auf ihr Bett.
»Ich wollte eh gerade aufstehen«, sagt sie halbwegs aufrichtig. »Was gibt’s denn?« Sie steht auf und geht ins noch kühle Wohnzimmer, lässt sich aufs Sofa fallen.
»Ach«, antwortet Lina. »Ich hab dich bloß gestern in der Halle vermisst und wollte mal hören, wie es dir so geht.«
Irgendwie hat Ava das Gefühl, sie müsste sich rechtfertigen und murmelt was von Überstunden, doch Lina unterbricht sie. »Es ist völlig ok, wenn du nicht kommst. Ich wollte nur sichergehen, dass bei dir alles in Ordnung ist.« Dann wechselt sie das Thema, erzählt von ihrem aktuellen Kunden, einem Modeunternehmen, das sich als umweltbewusst, billig und qualitativ hochwertig positionieren will und nicht einsieht, dass das keine glaubwürdige Kombination ist.
Ava hat Schwierigkeiten, Linas Erzählung zu folgen. Wie immer, nachdem sie zu viel getrunken hat, fühlt sie sich niedergeschlagen, wie immer hat sie das Gefühl, etwas falsch gemacht, etwas unwiderruflich zerstört zu haben.
»Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«, fragt Lina, und erst jetzt merkt Ava, dass es ein paar Sekunden lang still war in der Leitung.
»Ich sollte weniger trinken«, antwortet Ava und Lina lacht. »Sollten wir das nicht alle? Aber weißt du, was hilft? Wenn du heute Abend in die Halle kommst.«
Ava stöhnt.
»Ich schwör’s dir. Nichts hilft besser gegen Kater, als wenn du dich gleich wieder bewegst. Klingt super abwegig, ich weiß, aber du solltest das echt mal ausprobieren.«
Vielleicht weil Ava zu katergeschwächt ist, hört sie sich irgendwann ja sagen. Schon einen Augenblick später bereut sie es, aber da hat Lina schon aufgelegt.
Wieder vergeht der Rest des Tages zwischen zu fettigem Essen und Serienmarathon und wieder ist Ava am Abend doch erleichtert, dass sie einen Grund hat, den Laptop zuzuklappen und rauszugehen. Auch wenn ihr schon beim Gedanken an Bewegung übel wird.
»Man sieht dir den Kater gar nicht an«, begrüßt Lina sie. »Wenigstens etwas«, gibt Ava zurück.
Sie setzen sich weit nach vorne und Ava ist froh, nicht später gekommen zu sein, denn heute ist die Halle noch voller als freitags.
»Wer von euch ist in einer Beziehung?«, fragt Luca nach ihrer üblichen Begrüßung. Überall in der Halle heben sich Hände. »Okay. Und jetzt mal ganz ehrlich: Wer von euch findet trotzdem auch mal andere Leute attraktiv?« Luca schaut sich im Raum um. »Ah ja, schon weniger.« Sie hebt eine Braue. »Und wer von denen, die sich gerade nicht gemeldet haben, ist mit Partner hier?« Fast alle Hände, die verschwunden waren, sind jetzt wieder in der Luft. Luca hebt auch die zweite Braue und die Halle lacht.
»Nein, aber mal ernsthaft«, fährt Luca fort. »Andere Leute attraktiv finden ist normal. Eigentlich ist uns das auch allen klar. Nur unsere Partner sollen das auf keinen Fall wissen, unsere Partner sollen denken, dass sie die Einzigen für uns sind. Aber das ändert nichts daran, dass wir uns zu anderen hingezogen fühlen. Und ich rede jetzt nicht nur von körperlicher Anziehung. Ich rede auch von intellektueller und emotionaler Anziehung. Wäre es nicht auch furchtbar, wenn wir plötzlich jedes Interesse an anderen Menschen verlieren würden, nur weil wir in einer Beziehung sind?« Luca schüttelt den Kopf. »Es ist normal, dass wir uns zu anderen Menschen hingezogen fühlen! Was nicht normal ist, sind exklusive Beziehungen.«
Ein Rascheln und Tuscheln bricht aus und Luca spricht lauter. »Ja, ich weiß, das widerspricht allem, was man euch von klein auf beigebracht hat. Man findet den perfekten Partner und dann wird man nur ihn lieben, für immer und ewig, bis dass der Tod euch scheidet. Aber denkt das doch mal zu Ende. Solche exklusiven Beziehungen sind ja nicht bloß eine Entscheidung für jemanden. Sie sind gleichzeitig auch eine Entscheidung gegen alle anderen. Sobald man eine exklusive Beziehung eingeht, wird es ein wir gegen alle anderen. Und weil wir jetzt ja nur diesen einen Menschen lieben dürfen, werden unsere Ansprüche an ihn auch immer unrealistischer. Wir erwarten, dass dieser Mensch perfekt zu uns passt, dass er all unsere Bedürfnisse befriedigt, dass er uns als ganze Person annimmt und liebt. Gleichzeitig verstecken wir aber die Teile von uns, die wir selbst als nicht akzeptabel oder liebenswert empfinden, versuchen ein Bild von uns zu erschaffen, das unserem Ideal entspricht, aber immer wieder damit kollidiert, wer wir tatsächlich sind. Und wenn das dann nicht gut geht – was ja eigentlich nicht anders zu erwarten ist – dann stehen wir plötzlich ganz ohne diesen Menschen da, der doch kurz vorher noch alles für uns sein sollte.« Luca wirft die Hände in die Luft. »Das ist doch völlig krank, oder?«
Das Gemurmel in der Halle ist inzwischen ganz verstummt. »Und genau deshalb sagt Dev, dass Beziehungen eigentlich wie gute Freundschaften sein sollten. Denn Freundschaften sind viel flexibler als exklusive Partnerschaften. Bei Partnerschaften gilt meistens: ganz oder gar nicht. Du bist alles für mich oder du bist nichts. Freundschaften dagegen können auseinander und wieder zusammen schwingen, man kann sich längere Zeit wenig oder gar nicht sehen und sich dann wieder annähern. Und natürlich kann man gleichzeitig auch mit anderen Menschen befreundet sein.«
Luca schaut sich in der Halle um, lässt ihren Blick über die Gesichter streifen. »Im Grunde ist es doch wie bei den Übungen hier. Ihr berührt jemanden und fühlt euch ganz intensiv mit ihr oder ihm verbunden. Und dann bewegt ihr euch weiter und berührt jemand anderen. Und die eine Berührung, die eine Verbindung ist genau so wertvoll wie die andere. Sie stehen nicht in Konkurrenz zueinander.« Luca legt die Handflächen aneinander, fast wie bei einem Gebet. »Wenn wir gleich mit der Körperarbeit beginnen, dann achtet einmal ganz bewusst darauf, wie es sich anfühlt, mit mehreren Menschen gleichzeitig so intensiv verbunden zu sein. Ohne Eifersucht. Ohne Besitzansprüche.« Sie lächelt in die Runde. »Wollen wir anfangen?«
Als Ava sich an diesem Abend zum ersten Mal mit den Armen hochstemmt, den Kopf nach unten hängen lässt, meint sie kurz, sich übergeben zu müssen. Wie soll sie das bloß sechzig Minuten durchhalten? Doch mit jeder Bewegung wird es besser und bald schon fühlt es sich fast an wie immer.
Beim Tanzen aber ist plötzlich eine Berührung, die sich anders anfühlt, und warmer, zu warmer Atem an ihrem Ohr. Sie öffnet die Augen, sieht kurze Finger, fast rechteckige Nägel, die so kurz geschnitten sind, dass es beim Ansehen schmerzt. Die Berührung dieser Hand bleibt wie ein Abdruck auf ihrer Haut zurück.
»Ist dir das schon passiert«, wendet sie sich später an Luca, »dass du nicht wolltest, dass jemand dich anfasst?«
Luca schaut sie an. »Ist dir das passiert? Hat dich etwa jemand bedrängt?«
Ava beeilt sich, zu verneinen. »Es hat sich nur irgendwie anders angefühlt. Falsch.«
Luca nickt. »Du solltest natürlich auf das hören, was dein Körper dir sagt. Die Frage ist nur, ob er dir etwas über dein Gegenüber sagt oder über dich selbst.«
Ava ist nicht sicher, dass sie versteht.
»Unser Widerwille gegen jemand anderen hat nicht immer etwas mit dieser Person zu tun«, erklärt Luca. »Vielleicht löst diese Person bloß etwas in uns aus, erinnert vielleicht an jemand anderen oder wir erkennen uns wieder auf eine Weise, die uns nicht gefällt.«
Ava nickt langsam.
»Nur du kannst entscheiden, ob du es aushältst, aber wenn ja, würde ich dir raten: Setze dich dem aus. Oder willst du auf Dauer allem ausweichen, was dir unangenehm ist?«
Vielleicht, denkt Ava, war es bloß das Katergefühl, dieser Selbstekel, der sich auf jemand anderen übertragen hat. Am nächsten Freitag also setzt sie sich neben den Mann mit den eckigen Nägeln. Doch es bleibt ein Widerwille, nach dieser Hand zu greifen, es bleibt ihr die Nähe dieses Körpers unangenehm bewusst. Als die Körperübungen vorbei sind, als endlich das Tanzen anfängt, bewegt sie sich weg von ihm, fühlt, wie sich eine schützende Wand aus Körpern zwischen sie schiebt. Sie tanzt all den Widerwillen aus sich heraus und zum ersten Mal kommt sie sich nicht ungelenk dabei vor. Ihr Körper ist Wasser, er fließt, fließt mit den anderen. Zum ersten Mal ist sie beinahe enttäuscht, als die Musik verklingt. Trotzdem achtet sie von jetzt an darauf, bei den Körperübungen nicht neben dem Mann zu stehen und ist froh, dass er bald nicht mehr auftaucht in der Halle.