Читать книгу connect - Thea Mengeler - Страница 12
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ОглавлениеZur Sicherheit überprüft Ava noch einmal, ob sie hier wirklich richtig ist. Jägerstraße 14, ja. Nicht ganz das, was sie erwartet hat, auch wenn sie selbst nicht genau weiß, was das gewesen wäre. Jedenfalls nicht dieser quadratische Betonbau, der zwischen zwei heruntergekommenen Mehrfamilienhäusern klemmt. Nur eine schmale Schießscharte von Fenster, zwei Meter über dem Boden, scheint etwas Licht ins Gebäude zu lassen. Ava schiebt ihr Fahrrad zwischen die kleine Herde an Rädern, die dort bereits steht, zieht ihr Handy aus der Tasche. Keine Nachricht. Sie könnte schon reingehen, aber stattdessen schickt sie Lina ein »Bist du schon da?« und klickt sich durch ihre Apps, sieht nur aus den Augenwinkeln, wie andere an ihr vorbei zur Halle gehen.
»Gleich da!«, ploppt auf ihrem Screen auf und Ava scrollt weiter durch Bilder, die sie kaum wahrnimmt, bis endlich ein Bus am Straßenrand hält, aus dem gleich mehrere Leute aussteigen, alle in Klamotten, die bequem, aber nicht unbedingt nach Sport aussehen. Darunter auch Lina in einer schwarzen Hose, die ihr locker um die gebräunten Waden fällt. Dazu eine übergroße und leicht verblasst aussehende hellgrüne Jacke, die vielleicht in den 90ern irgendwann neu war und beiläufig perfekt zu den Schnürsenkeln in Linas schwarzen Sneakern passt.
Ava wird sich überdeutlich ihrer eigenen, neon-gemusterten Sporthose bewusst, doch Lina lässt ihr keine Zeit, darüber nachzudenken, umarmt sie und zieht sie noch in der gleichen Bewegung Richtung Halle, durch die Tür und einen langen Gang aus unverputztem Beton entlang. Als Lina am Ende des Ganges die Tür öffnet, ist Ava kurz geblendet von dem Licht, das unerwartet hell in den Gang flutet. Nach dem bunkerartigen Äußeren der Halle hatte sie mit einem düsteren, höchstens neonbeleuchteten Raum gerechnet, doch stattdessen betritt sie eine Halle, deren eine Wand vollkommen aus Glas besteht, nur durchbrochen von einem feinen Gitternetz dünner Holzrahmen.
Dem Raum ist deutlich anzusehen, dass er schon früher eine Sporthalle war. Allerdings hat er nichts von der miefigen Schäbigkeit, an die Ava sich aus ihrer Schulzeit erinnert. Der alte Boden wurde herausgerissen und durch glattes Parkett ersetzt, das farblich genau zu den Sprossenwänden passt, die sich noch immer über Teile der glatten Betonwände ziehen. Man sieht ihnen an, dass jemand viel Zeit darauf verwendet hat, sie abzuschleifen und zu ölen, sodass sie jetzt mehr Deko sind als Sportgeräte. Dasselbe gilt für die blank polierten Holzringe, die an dicken Tauen von der Hallendecke baumeln.
Alles wirkt so gepflegt, dass Ava sich fast in den Olympia-Raum ihrer Agentur versetzt fühlt, der mit Bänken und Hockern aus alten Sportgeräten eingerichtet ist und in dem eine Tischtennisplatte den Konferenztisch ersetzt.
Ava und Lina legen ihre Schuhe und Jacken ab und setzen sich zu einer der lose in der Halle verteilten Gruppen. Lina scheint ein paar Leute zu kennen, aber bevor Ava dazu kommt, sich vorzustellen oder vorstellen zu lassen, steht schon am anderen Ende der Halle jemand auf, winkt erst und legt dann beide Zeigefinger an die Lippen. Kurzgeschorene Haare, drahtiger Körper und eine helle Stimme, die seltsamerweise gut durch die gesamte Halle trägt.
»Schön, dass wieder so viele von euch da sind! Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dass bei dem Wahnsinns-Wetter einige von euch eher mit einem Bier im Park sitzen würden, als sich hier von mir ins Schwitzen bringen zu lassen.« Sie wendet sich an jemanden, der gleich zu ihren Füßen sitzt. »Ja, Mark, wie du am Mittwoch. Du glaubst doch wohl nicht, dass uns nicht aufgefallen ist, dass du nicht da warst.« Die Halle lacht, als sie einen auf Lehrerin macht und in gespielter Strenge den Zeigefinger hebt, nur um ihre Vorstellung gleich wieder mit einem Armwedeln wegzuwischen. »Nene, kennen wir ja alle, oder?« Ein kollektives Nicken antwortet.
»Also, für alle, die heute zum ersten Mal hier sind, ich bin Luca. Vielleicht wird euch manches hier am Anfang etwas komisch vorkommen, aber macht einfach mal mit, und wenn ihr euch danach immer noch fragt, was das alles soll, sprecht mich einfach an oder unterhaltet euch ein bisschen mit den anderen. Die meisten von euch kennen das ja schon, wie immer, bevor wir mit der Körperarbeit anfangen, möchte ich auch eurem Kopf ein bisschen was zu tun geben. Dabei geht es nicht darum, dass ich euch sage, was ihr zu denken habt, sondern ich lass euch einfach ein bisschen an meinen eigenen Gedanken teilhaben und vielleicht bringen sie euch ja was. Wenn nicht, könnt ihr sie auch gerne danach gleich wieder vergessen. Okay?« Wieder nickt es um Ava herum. Wahrscheinlich ist es schon ein Ritual, dass diese Frage gestellt wird und als Antwort kommt sowieso nichts anderes als ein Nicken in Frage.
»Als ich bei einem meiner ersten connect-Treffen war, hat Dev etwas gesagt, was ich damals ziemlich bescheuert fand. Er meinte, ›Social Media verbindet uns nicht, sondern trennt uns voneinander.‹ Was für ein Quatsch, oder? Ich meine, klar war ich auch manchmal genervt davon, aber trotzdem war ich online mit Leuten in Kontakt, die ich sonst längst aus den Augen verloren hätte, denen ich vielleicht niemals begegnet wäre. Leute, die in anderen Städten leben oder sogar in anderen Ländern. Das geht euch wahrscheinlich ähnlich, oder?« Auch Ava kennt das, nur zu gut kennt sie es.
»Ja, also habe ich das erstmal abgehakt. Ich muss ja nicht immer mit Dev einer Meinung sein, dachte ich. Aber irgendwie … diejenigen von euch, die Dev kennen, wissen wahrscheinlich was ich meine … irgendwie hatte er da schon einen Haken in meinen Kopf gesetzt.« Ein paar vereinzelte Lacher sind zu hören. Demonstrative Lacher von Leuten, die Dev eben kennen. Wer auch immer Dev ist.
»Und der Haken hatte es ganz schön in sich, denn in den nächsten Wochen habe ich dann immer stärker darauf geachtet, was ich online wirklich mache. Mit wem bin ich in Kontakt? Und was ist das für ein Kontakt? Reden wir wirklich miteinander oder like ich nur ihre Bilder, damit sie meine Bilder liken?«
Überall im Raum ertapptes Lachen, unterdrücktes Gemurmel. Stimmt ja auch, denkt Ava. Zumindest oft, vielleicht sogar meistens.
»Aber trotzdem«, fährt Luca fort, »ist diese Art von Kontakt nicht besser als gar keiner? Und schließlich schadet es ja auch nicht, oder?« Sie blickt sich im Raum um. »Aber dann ist mir noch etwas anderes aufgefallen. Und vielleicht klingt das jetzt auch total banal, weil eigentlich wissen wir das ja alle, aber trotzdem hatte ich es mir vorher nie so klar gemacht … diese völlig nichtssagenden virtuellen Kontakte überlagerten immer mehr die Beziehung zu den Menschen, mit denen ich zusammen war. Immer war ich mit einem Auge bei meinem Handy. Es könnte mir ja irgendwer geschrieben haben. Es könnte ja irgendwer mein neues Profilbild kommentiert haben.« Sie wirft einen Blick durch den Raum. »Jetzt mal ehrlich, wer von euch kennt das auch?«
Zögerlich heben sich die ersten Arme, bis Ava schließlich niemanden mehr sieht, der seinen Arm nicht gehoben hat. Wie sie. Wie alle.
»Ah ja. Sieht so aus, als gäbe es zumindest eine Sache, auf die wir uns einigen können. Ist ja schonmal etwas.« Luca lacht. »Als ich das festgestellt habe, hab ich eine Entscheidung getroffen. Ich wollte zumindest eine Woche lang komplett auf Social Media verzichten. Das wird schon gehen, dachte ich, eine Woche. Ist ja eigentlich nicht viel, oder?« Wieder schaut Luca sich in der Halle um und hier und da antwortet man ihr mit einem Kopfschütteln. »Ja, dachte ich auch. Ich hab’s trotzdem nicht geschafft. Und das hat mich dann wirklich erschreckt. Dass ich nicht mal eine Woche darauf verzichten könnte, hätte ich nicht gedacht. Naja, ich will das jetzt hier nicht unnötig in die Länge ziehen, aber es gibt einen Grund, weshalb ich euch das überhaupt erzähle. Diese Woche bin ich nämlich seit genau drei Jahren Social-Media-frei!«
Spontaner Applaus bricht aus verschiedenen Ecken im Raum aus. Luca verbeugt sich leicht. »Danke, Danke«, sie lacht. »Ein bisschen wie Selbsthilfegruppe, oder? Aber ernsthaft, ich hatte noch nie das Gefühl, so intensiv mit Menschen verbunden zu sein, wie ich es jetzt bin. Ich meine, ich stehe jetzt hier vor euch und denke nicht gleichzeitig darüber nach, wer mir vielleicht inzwischen geschrieben hat und bei wem ich mich mal wieder melden müsste. Deshalb möchte ich euch dazu einladen, während der heutigen Stunde eure Handys gedanklich auszuschalten und euch wirklich ganz darauf zu konzentrieren, hier zu sein. Lasst euch nicht ablenken von Leuten, die vielleicht gerade auf dem Klo sitzen und euch aus Langeweile irgendein Video schicken.« Irgendwer hinter Ava lacht laut auf, vielleicht weil er sich ertappt fühlt. »Also«, sagt Luca und breitet die Arme aus, »lasst uns anfangen.«
Die Grüppchen lösen sich auf und man verteilt sich im Raum, kniet sich in gleichmäßigen Reihen auf den Boden, immer zwei Armlängen voneinander entfernt. Auch Ava reiht sich ein, geht in die Hocke, setzt sich auf die Fersen. Sie weiß nicht wohin mit ihren Händen, legt sie schließlich auf den Oberschenkeln ab, wartet. Als nichts passiert, schaut sie sich um und blickt rundum in geschlossene Augen. Sie macht es ihnen nach, sitzt blind da. Versucht an nichts zu denken, weil das wahrscheinlich erwartet wird, an nichts zu denken. Aber jedes Rascheln, Husten, Atmen lenkt sie ab. Sie öffnet die Augen einen winzigen Spalt, lässt ihren Blick über die glatten, leeren Gesichter streifen, die sich offenbar an keinem Geräusch stören. Es ist seltsam beruhigend, von lauter Menschen umgeben zu sein, die mit geschlossenen Augen dasitzen, die einen nicht anschauen, deren Gesichter man in aller Ruhe betrachten kann. Bis sie sich mit einem Mal voyeuristisch vorkommt, als wären die Gesichter in Wahrheit nackte Körper, die nicht wissen, dass man sie anstarrt.
Über diesen Gedanken erschrocken, schließt sie erneut die Augen, zwingt sich, sie geschlossen zu halten, bis endlich Lucas Stimme wieder einsetzt. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf den Atem. Durch die Nase ein, durch die Nase aus. Das Zwerchfell hebt und senkt sich. Aber wo genau ist eigentlich das Zwerchfell? Den Atem strömen lassen. Durch den Scheitel ein und durch den Boden wieder aus. Ava versucht sich vorzustellen, wie etwas von oben nach unten durch sie hindurchfließt, wird ruhiger.
Luca spricht, und hundert Körper beugen sich vor, strecken die Arme lang und länger auf dem Boden aus, lassen sie in einem Halbkreis zur Seite wandern. Ava zuckt zusammen, als plötzlich eine Hand nach ihrer Rechten greift. Ihr Blick trifft den eines lächelnden Mädchens mit grau gefärbten Haaren und Nasenpiercing. Auch nach ihrer linken Hand greift nun jemand. Sie hebt den Kopf und sieht überall im Raum Leute einander an den Händen halten. Die Stirn auf dem Boden, die Arme zur Seite ausgestreckt, liegen sie da, regen sich nicht, halten sich nur.
Ava legt den Kopf wieder am Boden ab, versucht, die Hände der anderen weder zu fest noch zu locker zu halten, spürt ihre Handflächen schwitzig werden, spürt ihre hochgezogenen Schultern sich verkrampfen.
Es ist eine Erleichterung, als Lucas Stimme ihr erlaubt loszulassen, als ihre Arme sich wieder nach vorne schieben, als hundert Körper sich mit dem Ausatmen hoch drücken, ein Dreieck bilden aus Armen, Beinen, Boden. Es ist eine Erleichterung, auch wenn Avas Körper nicht das tut, was er soll, auch wenn ihre Fersen nicht Richtung Boden wollen und ihr Rücken nicht gerade wird. Mit dem nächsten Ausatmen schwingt ihr rechtes Bein nach vorne, einen Moment verspätet, erst nachdem sie geschaut hat, wie die anderen es machen. Eigentlich schwingt es auch nicht. Es schleift. Dann richtet sie sich auf, streckt die Arme aus, beugt das rechte Bein, hält.
Hält lange.
Hält so lange, dass ihr die Arme schwer werden.
Hält so lange, dass sie sie sinken lassen will, doch um sie herum schweben hundert Paar Arme schwerelos im Raum. Bis Lucas Stimme ihre Oberkörper dreht, bis wieder zwei Hände nach ihren greifen. Jetzt ist sie beinahe froh darüber, weil sie das Gewicht ihrer Arme nicht mehr alleine tragen muss.
Eine Stunde lang bewegen sich so hundert Körper voneinander weg und aufeinander zu. In einer perfekten Choreografie fließen sie von einer Übung in die nächste, halten einander, lassen los. Und bleiben schließlich am Boden liegen. Die Arme ausgestreckt. Die Hände ineinander verschränkt.
Nur, dass es Ava jetzt nichts mehr ausmacht. Nur, dass sie sich jetzt keine Gedanken mehr macht, ob ihre Hände schwitzig sind. Weil alle Hände schwitzig sind. Weil ihr Kopf vollkommen ausgefüllt ist von ihrem pumpenden Atem. Weil sie froh ist, endlich nur dazuliegen und zu hören, wie die Atemgeräusche um sie herum leiser werden, ruhiger. Bis auch ihr eigener Atem endlich ruhiger wird, sanft ein und ausströmt, ihre Bauchdecke sich hebt und senkt.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Kurz bevor Ava vom Dämmerzustand in den Schlaf hinüberschwappt, setzt Musik ein. Ein elektronisches Summen, das nur langsam, fast unmerklich in einen pulsierenden Beat übergeht. Um sie herum gerät der Raum wieder in Bewegung. Körper räkeln sich. Rollen über den Boden. Richten sich auf. Wölben die Rücken. Strecken die Arme.
Sie versucht, die Bewegungen zu kopieren, aber weiß nicht, an wem sie sich orientieren soll. Kommt sich albern vor, als sie mit überstrecktem Rücken die Arme kreisen lässt. Kommt sich nicht weniger albern vor, als sie auf allen Vieren den Rücken wölbt und streckt, als sie auf den Knien mit ausgebreiteten Armen hin und her schwankt.
Die Musik wird jetzt lauter, der Rhythmus schneller. Die Körper haben sich fast alle aufgerichtet. Beginnen sich zu wiegen, mit geschlossenen Augen zu tanzen. Berühren sich, tanzen umeinander, miteinander.
Es fasziniert Ava, wie sie blind tanzen, ohne sich in die Quere zu kommen, wie sie die Anwesenheit der anderen zu spüren scheinen. Sie selbst spürt nichts, traut sich nicht, die Augen zu schließen, aus Angst jemanden anzurempeln, steht als Brett zwischen fließender Bewegung. Als sie dann doch zu tanzen versucht, kommt sie sich ungelenk vor. Ihre Arme baumeln, ihre Hüfte ist starr und den Rhythmus verfehlt sie immer knapp. Sie ist dankbar, als die Musik mit einem letzten vibrierenden Bass verklingt.
Ein paar Momente lang scheint jemand die Pause-Taste gedrückt zu halten. Alle stehen reglos da, nur ein leichtes Beben geht durch die erschöpften Körper. Keiner scheint sich bewegen, die Stille brechen zu wollen. Also harrt auch Ava aus, versucht, sich so wenig wie möglich zu rühren, ist sich aber allzu deutlich bewusst, wie sich ihr Körper gegen ihren Willen doch bewegt, wie ihr Brustkorb sich fast schmerzhaft unter einer unsichtbaren Verschnürung weiten will, wie ihre Arme in einem unnatürlichen Winkel abstehen, wie der Zeigefinger ihrer linken Hand fast unmerklich zuckt.
Und endlich bewegt sich doch jemand. Vorsichtig erst, behutsam, wie man es in einer Kirche tun würde, in der man die Stille nicht einmal dann zu durchbrechen wagt, wenn man mit diesem Gott nichts anfangen kann. Irgendwer öffnet die großen Fenster und der würzige Geruch warmer Kiefernnadeln weht herein. Nur wenige ziehen ihre Schuhe an und gehen. Die meisten treten barfuß durch die Glastüren in den Garten und auch Lina winkt Ava, ihr dorthin zu folgen.
Wie lange sie wohl schon nicht mehr barfuß gegangen ist? Ava weiß es nicht mehr. Nur, dass es lange her sein muss. Lina und sie schließen sich einer Gruppe an und Ava merkt kaum, wer es ist, der ihr ein Glas Weißwein in die Hand drückt. Jemand anderes packt eine Dose mit Keksen aus und stellt sie in die Mitte des Kreises, noch jemand selbstgemachte Cracker. Ava lehnt sich zurück, nippt an ihrem Wein, knabbert gelegentlich an einem Cracker und lässt die Unterhaltung über sich hinwegbranden.
Die anderen scheinen zu merken, dass ihr nicht nach reden ist, drängen sie nicht. Überhaupt hat das Gespräch nichts von dem üblichen Bemühen, es nicht abreißen zu lassen. Ganze Minuten lang spricht keiner. Doch niemand wird nervös und unterbricht die Stille mit Belanglosigkeiten. Und sogar Ava fühlt sich heute einmal nicht verpflichtet, die Pausen zu füllen, wenn sich auch gelegentlich noch eine Unruhe in ihr aufbaut, wenn die Pausen allzu lange dauern.
»Diese Rede, die Luca am Anfang gehalten hat«, fragt sie Lina in einer dieser Pausen, »macht sie so was jedes Mal?«
»Wir nennen das Opening«, antwortet Lina. »Dev sagt, dass keine Verbindung zwischen Menschen entstehen kann, wenn man nicht erstmal offen zu einander ist. Das steht deshalb ganz am Anfang. Prinzip eins: Offenheit.«
Prinzip eins? Welche Prinzipien gibt es denn noch? »Es gibt aber nicht jedes Mal ein Opening. Manchmal erzählt Luca auch irgendetwas über unsere Gesellschaft oder über Devs Ideen. Das nennen wir Sharing.«
Ava nickt. Sharing. Opening. Das alles erinnert sie ein bisschen zu sehr an Predigt, an Beichte. Sie erinnert sich, wie sie mit gerade mal acht Jahren in irgendeinem Hinterzimmer der Kirche gekniet und versucht hat, sich an irgendwelche von ihr begangene Sünden zu erinnern. Keine Kommunion ohne Beichte, doch was haben Achtjährige schon zu beichten?
Wahrscheinlich aber sind es bloß diese Begriffe, mit denen sie ein Problem hat. Vorhin, als Luca sprach, war nichts daran Ava unangenehm vorgekommen.
»Hey Sonja!«, ruft Lina zu einer anderen Gruppe hinüber und eine Frau steht auf, kommt zu ihnen herüber. »Du siehst heute so glücklich aus«, sagt jemand. »Ich hatte gerade meine erste Ausbildungswoche«, antwortet Sonja und die Begeisterung der anderen zeigt, dass sie genau wissen, wovon die Rede ist. Sie gratulieren, fragen, wie es ihr gefällt, obwohl Sonjas spürbare Euphorie die Antwort schon vorwegnimmt.
»Es ist einfach unglaublich, wenn man sieht, was da noch für eine Energie in diesen Kindern steckt. Echt das komplette Gegenprogramm zum Gericht.«
»Du warst Juristin?«, fragt Ava und Sonja verdreht die Augen. »Ja, ich hab den ganzen Zirkus mitgemacht. Prädikatsexamen und dann auf dem besten Weg zur Staatsanwältin. Aber scheiße war ich unglücklich«, sie lacht. »Zum Glück haben diese großartigen Menschen hier mir klar gemacht, dass das praktisch seelischer Suizid war.«
»Wow, das ist eine ziemlich heftige Formulierung.«
Sonja wiegt den Kopf. »Weißt du, das Problem ist ja, dass man gar nicht so richtig merkt, wie schlimm es eigentlich ist, während man noch mittendrin steckt. Und wenn du dann irgendwem erzählst, dass du keine Lust hast, zur Arbeit zu gehen, dann sagen alle bloß ›Das ist völlig normal, das geht doch allen so.‹ Und so ist es ja auch. Aber das heißt noch lange nicht, dass es auch richtig ist. Oder dass es so sein müsste.«
Ava nickt. »Und jetzt machst du eine Ausbildung?«
»Zur Erzieherin, ja«, wieder leuchtet Sonjas Gesicht auf und Ava fragt sich, wie jemand bloß so glücklich darüber sein kann, den ganzen Tag von brüllenden Kindern umgeben zu sein und dafür auch noch schlecht bezahlt zu werden. Doch sie lächelt bloß höflich und sagt: »Anscheinend war es ja die richtige Entscheidung.«
»Oh ja!«, Sonja gerät regelrecht ins Schwärmen, als sie von den ganz alltäglichen kleinen Szenen im Heim erzählt. »Und das Beste ist, dass man wirklich das Gefühl hat, etwas Sinnvolles zu tun. Ich meine, ich kann einen echten Unterschied machen im Leben dieser Kinder. Bei Gericht, da geht es immer nur um Strafen, aber die machen aus niemandem einen besseren Menschen. Gerichte sind nichts weiter, als der verzweifelte Versuch, ein schlimmes System nicht noch schlimmer werden zu lassen.«
Und während Ava Sonja weiter zuhört, wird ihr immer unangenehmer bewusst, dass es in ihrem Kopf Job-Hierarchien gibt, die es ihr schwer machen zu verstehen, wieso man Erzieherin werden möchte, wenn man stattdessen Staatsanwältin sein könnte. Und sie fragt sich, ob in einem anderen System nicht vielleicht die Erzieher den höchsten sozialen Status hätten – und ob das nicht das bessere System wäre.
»Ava?«, sie hat nicht gemerkt, dass jemand ihr eine Frage gestellt hat, doch jetzt schaut ein bärtiges Gesicht sie erwartungsvoll an. Als »Paul der Pädagoge«, hat Lina ihn vorgestellt und Ava weiß nicht, ob er wirklich einer ist oder ob Lina bloß die Alliteration mochte. Aber es würde zu ihm passen, denkt Ava, würde passen zu der Art, wie er die Erzählungen der anderen mit seinem unaufhörlichen Nicken begleitet.
»Wenn du überhaupt nicht mehr arbeiten müsstest«, wiederholt Paul, »würdest du dann noch den gleichen Job machen wie jetzt?«
»Ich weiß nicht«, sagt Ava. »Vielleicht.«
Als Lina und Ava spät am Abend die Halle verlassen, werfen sie Geld in ein Glas neben der Tür. Ava hat kaum Bargeld dabei, schüttelt aus Verlegenheit all ihr Kleingeld ins Glas.
»Hat es dir gefallen?«, fragt Lina, während Ava das Schloss ihres Fahrrads öffnet.
»Ja«, sagt Ava, »ja, ich glaube schon.«
»Das Tanzen ist etwas gewöhnungsbedürftig, oder?«
Ava fühlt sich ertappt. »Ein bisschen. Ich glaube, ich sah ziemlich bescheuert aus dabei.«
»Tun wir das nicht alle?«, lacht Lina. »Irgendwann ist es dir einfach egal. Bei mir hat das auch ein bisschen gedauert. Aber wenn du es das erste Mal schaffst, dich einfach reinfallen zu lassen, dann ist das echt ein Wahnsinnsgefühl.«
»Vielleicht«, stimmt Ava zögernd zu. »Aber ich war noch nie so die Tänzerin.«
»Musst du auch gar nicht«, Lina unterbricht sich selbst mir einem leichten Kopfschütteln, »aber ich will dich gar nicht überreden. Du kannst ja einfach schauen, ob du noch mal Lust hast, mitzukommen. Ich würde mich freuen. Und wenn nicht, dann gehen wir eben beim nächsten Mal einfach nur Wein trinken.«
Sie umarmen sich zum Abschied, und auch wenn Ava nicht so weit gehen würde zu sagen, dass es ihr angenehm ist, ist es ihr zumindest nicht so unangenehm wie sonst. Ob es an Lina liegt oder daran, dass sie den ganzen Abend andere Leute berührt hat, kann sie selbst nicht sagen.
Sie genießt es, mit dem Fahrrad durch die warme Nacht zu fahren, sieht sich kurz selbst von außen, wie sie mit neben den Pedalen baumelnden Beinen den Hügel zu ihrer Wohnung hinunterrollt.
Erst als am nächsten Tag irgendwann die Spannung in ihren Nacken zurückkehrt, merkt Ava, dass diese für einige Stunden verschwunden war. Und vielleicht deshalb geht sie am nächsten Freitag wieder mit, als Lina sie fragt.