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ОглавлениеL.A., Kalifornien, 1968
Kurt war nicht bei der Geburt dabei. Das heißt, er wäre dabei gewesen, wenn er nicht zu spät gekommen wäre; wenn er es nicht vergessen hätte.
Niccy war damals aus Sicherheitsgründen schon einige Tage vor der Geburt im Krankenhaus geblieben und am Tag von Brandons Geburt kreuzte Kurt erst Stunden später auf, nachdem sie ihn angerufen hatten, dass die Geburt unmittelbar bevor stünde.
Trotz all seiner traumatisierten, abgetöteten Emotionen hatte Kurt noch eine Zeit lang Schuldgefühle, dass er nicht da gewesen war, doch diese gab er bald auf. Zuerst war er noch enthusiastisch über Niccys Schwangerschaft, aber jetzt, wo das Kind erst einmal da war, interessierte ihn die ganze Sache nur mehr wenig. Der Zauber war verflogen.
Doch etwas anderes fiel ihm seit der Geburt Brandons auf: plötzlich waren alle Freunde von Niccy - Kurt selbst hatte noch immer keine Freunde, nur Arbeitskollegen – freundlich und beinahe liebevoll zu ihm. All diese Nichtsnutze, die ihn vorher verspottet und verabscheut hatten, die sich vor Marks Tod hinter seinem Rücken lustig über ihn gemacht hatten, wenn sie Niccy oder Mark in der Werkstatt besucht hatten, lächelten ihn auf einmal mit einem geradezu ehrlichen Ausdruck von Freude an, die ihn erschreckte und gleichzeitig durch seine Ironie amüsierte. Alles bekam plötzlich eine scheußlich künstliche, zerbrechliche Harmonie, die jegliche problematischen Zukunftsaussichten einfach überdeckte.
Er kam sich vor wie eine der Hauptfiguren einer dieser unglaubwürdigen Seifenopern, die allmählich immer öfter im Fernsehen auftauchten. Obwohl Kurt sonst kein außergewöhnliches Gespür für Humor hatte, setzte ihm der Gedanke an all diese verlogenen Schwächlinge und das nun tägliche Theaterspielen immer wieder ein zufriedenes, erheitertes Lächeln auf.
Doch er fühlte noch ein anderes Gefühl in sich aufsteigen. Ein sehr negatives Gefühl, das nichts Gutes für Niccy und ihren Sohn bedeuten würde …
Dann, wenige Tage nach der Geburt Brandons, empfand Kurt keinen Funken Mitleid oder seiner abgestumpften, eigenen Art von Liebe mehr. Alles, was er nunmehr fühlte war Ekel, Hass und den Wunsch, die vergangenen drei Monate zu verleugnen und zu vergessen; diese Zeit ungeschehen zu machen. Als Brandon letztendlich aus dem Brutkasten genommen werden konnte, wurde Niccy ein völlig anderer Mensch. Sie war die geborene Mutter. Sie war die Königin, die Göttin aller Mütter. Zumindest für Brandon.
Sie blühte vollkommen auf und genoss jede Sekunde mit Brandon, wohingegen Kurt sich vorkam, als wäre er nur mehr zum nebensächlichen Familien-Geldautomaten geworden.
Allerdings hatte ihn Niccy ohnehin schon seit ihm wirklich bewusst geworden war, dass sie schwanger war, sowieso nicht mehr sexuell interessiert. Kurt hatte, als sie sich kennen gelernt hatten, ihre Schwangerschaft seiner Liebesgefühle wegen schlicht ignoriert und sich erst wenige Monate vor der Geburt daran 'erinnert', als ihr Bauch schon merklich gewölbt war, als er es einfach nicht mehr leugnen konnte. Und gerade wegen seinem sexuellen Desinteresse und seiner Agonie gegenüber allem reichten ihm über die nächsten Jahre seine normalen Beschäftigungen, die er seit dem großen Unfall bevorzugt betrieben hatte: Arbeiten, Bourbon trinken, fernsehen und masturbieren.
Es kümmerte ihn einen Dreck, was er alles in seinem Leben hätte erreichen können. Die Explosion hatte ihn körperlich so weit zurück geworfen, dass er jeden Ehrgeiz trotzig aufgegeben hatte. Er hatte alles, was er brauchte. Er konnte auf all dieses Gedöns von Selbstverwirklichung und Lebensverbesserung liebend gerne verzichten.
Es ging ihm blendend.