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Kurts Mutter hatte ihn bis jetzt ein paar Mal besucht. Man merkte ihr die Sorge an dem gegerbtem Gesicht und den von Tränen aufgeweichten Augenringen an. Dies war auch der Grund, warum Kurt ihr verzieh, dass sie nicht jeden Tag vorbei kam, um ihm den grauenhaft monotonen Krankenhausalltag ein wenig vergessen zu lassen. Sie hatten nun seit Jahren ja ohnehin nicht mehr die innigste, emotionalste Bindung zueinander. Er verstand auch, dass sie ihn einfach nicht so sehen konnte, dass es ihr trotz seiner Betäubung durch die Schmerzmittel das Herz brach, ihren Sohn so leiden sehen zu müssen.

Er verbrachte die nächsten Wochen im Krankenhaus. Laut den Ärzten würden aber noch Monate vergehen, bis er nach und nach wieder selbständig jede Aufgabe des Alltags bewältigen und jeden seiner Muskeln, die durch die Verbrennungen geschädigt wurden, wieder vollständig bewegen könne. Mindestens.

Er konnte zwar gehen, aber seine Hände waren bei weitem noch nicht einsatzbereit. Seine Mutter, andere Patienten und Ärzte waren die einzigen Menschen, die er in dieser Zeit zu Gesicht bekam. Bis eines Tages jemand an die Tür seines Zimmers klopfte, den Kurt zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht erwartet hätte.

Die anfangs unbekannte Person, die schüchtern durch die Tür seines Zimmers auf ihn zu getrottet kam, war Niccy Patton, seine alte High-School-Mitschülerin und Verlobte seines verstorbenen Arbeitskollegen Mark. Sie und Kurts Chef, Bob Smooler, waren damals nicht in der Werkstatt gewesen und waren somit unverletzt geblieben. Niccy schlich verunsichert auf ihn zu, sah ihn einen Moment an und legte dann mitleidig die Hand auf seine Stirn.

Niccy: „Hi, Kurt. Wie geht es dir? Hast du große Schmerzen?“

Kurt war baff. Niccy war so ziemlich die letzte Person, die er hier und jetzt erwartet hätte.

Kurt: „Naja, bei jeder zweiten Bewegung fühl' ich mich, als würde mich ein ganzer Staat von giftigen Ameisen irgendwohin beißen, aber es wird besser. Hoffe ich wenigstens.“ Er lächelte hilflos.

Niccy: „Schön zu hören. Ich weiß nicht, ob du jetzt gerade nicht schon beschäftigt genug bist, aber ich wollte dich fragen, ob du zu Marks Begräbnis kommen möchtest. Ich habe die erste Zeit für mich gebraucht, um das alles zu verarbeiten, deswegen ist die Trauerfeier erst so spät. Ich würde mich freuen, wenn du kommen könntest.“

Und obwohl Kurt an jedem anderen Tag jedem anderen Menschen wohl lauthals ins Gesicht gelacht hätte, sagte er zu.

Nicht wegen Mark. Er hatte den Typen nicht mal richtig gekannt, obwohl sie so lange zusammen gearbeitet hatten. Ob er es aus aus Freundschaft, aus Mitleid oder aus aufgestauter Sexualität für Niccy tat, darüber war er sich nicht sicher, aber er sagte höflich zu und kam pünktlich dort an. Zwar nur in schwarzem Rollkragenpullover und Jeans, aber er kam und trauerte.

Als die Zeremonie vorbei war und Kurt schon ein Taxi rufen wollte, tippte ihn jemand auf die Schulter: Als er sich umdrehte, stand Niccy vor ihm.

Niccy: „Hey, danke, dass du wirklich gekommen bist. Das bedeutet mir viel, wirklich. Hör zu, hast du noch ein bisschen Zeit? Jetzt, wo das alles vorbei ist, fühl' ich mich echt hundeelend und ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann. Kannst du nicht noch ein wenig hier bleiben? Bitte!“

Da Kurt jegliche Beschäftigung als angenehmer empfand, als sofort ins Krankenhaus zurück zu gehen, dort herum zu sitzen und auf die Nachmittagstherapie zu warten, blieb er bei ihr. Sie setzten sich in ein Café und Niccy sprudelte nur so los, wie sie es sonst nie getan hatte – sie war sonst immer ein sehr zurück haltendes Mädchen gewesen.

Niccy: „Weißt du, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mark war die Liebe meines Lebens, wir haben unsere gesamte Zukunft miteinander geplant und jetzt ... jetzt das. Außerdem weiß ich nicht, wo ich jetzt auf die Schnelle einen Job herkriegen soll, damit ich nicht aus unserer Wohnung fliege. Und das Dickste kommt erst noch: ich bin von Mark schwanger.“

Ihr standen Tränen in den Augen, die sie zu unterdrücken versuchte, doch sie beruhigte sich nach wenigen Sekunden wieder.

„Ich hab' keine Ahnung, wie ich weiter machen soll! Kannst du mir irgendwie helfen? Ich weiß wirklich nicht mehr weiter.“

Kurt sah sie ausdruckslos an, ohne zu antworten.

„Aber, es tut mir leid, ich quatsche dich hier mit meinen beschissenen Problemen voll und langweile dich und du hast gerade sowieso selbst genug um die Ohren...“

Da klickte es in Kurts Hirn. Er spürte zum ersten Mal seit vielen Jahren, eigentlich fast zum ersten Mal in seinem Leben, so etwas wie Mitleid und Hilfsbereitschaft in sich aufsteigen. Er wollte Niccy wirklich helfen. Das war neu, ungewohnt. Er wusste nicht, warum, aber irgendwie fühlte es sich gut an ...

Niccy sah ihn mit noch immer feuchten Augen an und als sie schon aufspringen und weinend wegrennen wollte, hielt Kurt sie am Arm fest und ... umarmte sie. Kurt, der sein halbes Leben nur Prügel, Enttäuschungen und Wut erlebt hatte, wurde zum empfindsamen, hilfsbereiten Psychotherapeuten. Wo er bis heute nur seine Aggressionen an unbelebten, materiellen Dingen ausgelassen hatte, wollte er plötzlich helfen. Jemand Anderem helfen. Er konnte selbst nicht glauben, was er gerade tat.

Erst wehrte sich Niccy gegen seine Umarmung, dann wurden ihre wütenden, traurigen Schläge auf seine Oberarme schwächer und hörten bald ganz auf. Plötzlich war Kurt der, der Wut bekämpfte, anstatt sie selbst aus zu üben. Niccy schloss ihrerseits ihre Arme um Kurt und alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, brach plötzlich in einem einzigen Schwall aus ihr heraus. Sie ließ Kurt los und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, noch immer in seinen Armen.

Sie verharrten viele Minuten so, bis Niccy sich wieder beruhigt hatte. Dies sollte das erste von bald regelmäßigen Treffen zwischen Kurt und Niccy sein, bei denen sie ihren Frust gegenseitig mithilfe des Anderen bewältigten.


Das Blut der Auserwählten

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