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Zerknüllt landete auch dieser Brief im übervollen Papierkorb und fiel zu Boden, der mit weiteren Papierbällen übersät war. Emma beschloss für diesen Abend aufzugeben. Seit fast einer Woche versuchte sie, diese völlig verrückten Briefe zu schreiben, aber sie hatte noch keinen fertig bekommen. Nie war sie ganz zufrieden.

War sie schon so verzweifelt und fertig, dass sie solche Tricks nötig hatte?

Sie streckte die Arme und den Rücken und blickte durch die große Scheibe des Erkers in die Nacht hinaus. Der leicht orangegelbe Schein der Straßenlampen fiel auf die zerkratzte Holzplatte, die direkt in den Erker eingebaut war. Emma machte die Füllfeder zu und beschloss, noch einen Spaziergang zu machen. Sie brauchte frische Luft.

In der Diele nahm sie ihre Jacke vom Haken, schlüpfte hinein und trat aus der Haustür in den langen Windfang. Er machte hier in Brighton und so nahe am Meer an manchen Tagen seinem Namen alle Ehre. Sie schritt nach vor zu den vier Stufen, die hinunter zur Straße führten.

Durch die Dunkelheit kam das Geräusch des Rollens der Wellen vom nahen Strand, und in der Luft lag der Geruch von Tang und Salz.

Sofort meldete sich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf: »Emma, Salz kann man nicht riechen.«

Egal. Die Luft hier in Brighton war so herrlich anders. Für Emma roch sie nach Freiheit und Weite, und tief in ihr war da die leise Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Blöde Idee, das mit den Briefen an den zukünftigen Traummann, dachte Emma, sauer auf sich selbst. Sie hätte die Zeit besser nützen können als mit dem Schreiben von Briefen, die sie ohnehin alle weggeworfen hatte.

Besser nützen. Aber wie eigentlich? Mit Putzen? Oder Saugen? Oder Lernen, wie man ein echtes Englisches Frühstück zubereitet, ohne Toast und Eier anbrennen zu lassen? Oder vielleicht sollte sie trainieren, die Betten der Gästezimmer schneller zu machen und die Decke wirklich glatt zu streichen. Der einzige Gast an diesem Wochenende hatte bei der Abreise spitz bemerkt, dass sein Bett am Abend ausgesehen hätte, als hätte schon jemand darin gelegen.

Allerdings war er ein Mann der Sorte, die nur glücklich sind, wenn sie an allem herumnörgeln können. Auf solche Typen konnte Emma wirklich verzichten.

Einen Mann, einen echten, liebenswerten Mann wie durch Magie ins Leben ziehen, wie sollte so etwas möglich sein? Wenn nirgendwo dort draußen einer lebte, der an ihr interessiert war? Wenn es nur Psychos gab, von denen sie wirklich die Nase voll hatte?

»Vergiss es einfach«, sagte sie sich. »Vergiss es und lebe jeden Tag wie eine Perle auf einer langen Kette.« Das war auch ein Rat von Patricia, und er klang einfach realer.

Wenig später saß sie aber wieder am Schreibtisch im Erker. Emmas Füller flog nur so über das Papier.

Lieber Wer-immer-du-bist,

ich kann es nicht lassen. Ich hatte wirklich fest beschlossen diese Briefeschreiberei bleiben zu lassen, weil sie nutzlos und sinnlos ist. Aber was ist die Alternative?

Ich kann in die Glotze schauen.

Ich kann auf Netflix Serien Binge gucken. Mein Rekord liegt bei neun Folgen an einem Tag. Fünfzig-Minuten-Folgen meine ich, nicht diese Fürzchen von Sitcoms wie »The Big Bang Theory«.

Ich könnte natürlich auch ein gutes Buch lesen, aber im Regal hier stehen nur Bücher, deren Titel ich nicht einmal verstehe. Die Bücher gehören meiner Tante Nell. Sie ist das, was man »intellektuell« nennt und statt Sex hat sie mit Männern wahrscheinlich nur spirituellen Gedankenaustausch, der zu einem geistigen Orgasmus führt. Tante Nell und vor Lust stöhnen sind zwei Dinge, die ich mir nicht zusammen vorstellen kann (und will). ;-)

Siehst du, es geht schon los. Denke ich nur: Ich will mir das nicht vorstellen, geht die Vorstellung nicht mehr aus meinem Kopf raus.

Tante Nell stöhnt sicherlich: »Oh, Henry, flüstere mir schmutzige Dinge ins Ohr. Zum Beispiel die Relativitätstheorie von Einstein.«

Oder: »Oh, Henry, lies mir Nietzsche vor, denn das macht mich so an.«

Oder: »Henry, ja, gib’s mir! PHI-LO-SO-PHIE mich! THE-O-RIE mich! THE-O-tiefer! Aaaaaa!«

Ich hoffe, du bekommst ein Bild, wieso die Bücher, die in diesem Haus stehen, mich nicht wirklich begeistern. Denk aber nicht, dass ich nie etwas lese. Ich tue es doch. Aber mehr Krimis oder Romane mit viel Herz und Schmerz, in denen sich die beiden Hauptpersonen am Ende kriegen.

Tante Nell hat mich nach meiner Lieblingslektüre gefragt, ich habe ehrlich geantwortet, und ihre naserümpfende Reaktion war: »Herz-Schmerz-Romane also. Ach ja. Wahrscheinlich als scheinbares Trostpflaster für das, was du im Leben nicht hast. Du flüchtest dich da in eine Scheinwelt, Emma, die ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit gibt. Romane dieser Art sind wie ein Esslöffel Zucker in eine Tasse Tee, weil man denkt, er wäre sonst zu bitter. Solche Romane verkleben den Geist und die Sinne.«

Ach ja, ist das so? Nell fährt voll auf Nietzsche ab. Daher hat sie auch ungefähr zwei Meter Bücher von ihm. Aber ist das nicht der Philosoph, der gesagt haben soll: Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht? Der Mann ist entweder auf Dominas gestanden oder aber er war Sadist. In Nells Augen ist er natürlich realer als jeder Liebesroman mit Happy End.

Kein Wunder, dass sie nie verheiratet war und selbst Papa einmal angemerkt hat, seine Schwester hätte bei Männern einen etwas eigenartigen Geschmack.

Ich schreibe dir, den ich nicht kenne, weil ich das Gefühl habe, es tut mir einfach gut.

Ich will dich wirklich nicht zumüllen mit meinem emotionellen Schrott und den Verbänden, die ich auf alle Wunden gelegt habe, die mir in den vergangenen Monaten geschlagen worden sind.

Das klingt sehr dramatisch. In Wahrheit ist die ganze Sache noch wesentlich schlimmer.

Da du diesen Brief nie wirklich lesen wirst, gestehe ich dir etwas, das ich sonst nie aussprechen würde: Als ich vor drei Wochen in Brighton angekommen bin, stand am nächsten Tag in der Zeitung ein Bericht vom Sohn eines Rockstars, der hier lebt. Der Bursche ist im Drogenrausch von den Klippen gesprungen und war tot.

Damals habe ich mir gedacht: Der hat es gut…

Liebesbrief an Unbekannt

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