Читать книгу Liebesbrief an Unbekannt - Thomas Brezina - Страница 7
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ОглавлениеEmma richtete sich auf. Ihr tat der Rücken weh, weil sie so schief über das Papier gebeugt gesessen hatte. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte im kleinen Arbeitszimmer auf und ab.
Auf dem Regalbrett, zwischen den Ordnern, stand ein gerahmtes Foto der Berge von Salzburg. Es hatte sie schon in das Wohnheim bei der Uni nahe von London begleitete, als sie Tourismus und Hotelmanagement studiert hatte. Das Bild zeigte den Blick aus ihrem Kinderzimmer, und es hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie.
Nun war sie also in Brighton gelandet. Emma, studierte Tourismusfachfrau, ziemlich gescheitert, beruflich wie privat, Vertretung für ihre Tante Nell, der das B&B gehörte. Als sie es vor ein paar Wochen von ihr übernommen hatte, ließ Tante Nell wenig Zweifel, dass Emma für sie eine Notlösung war, weil der Nachbar, der es eigentlich hätte leiten sollen, frisch verliebt war und lieber Freizeit wollte.
»Aber jetzt im März und April kommen ohnehin kaum Gäste«, hatte Tante Nell gesagt. »Du kannst dich also einleben.«
Wovon Emma leben sollte, hatte sie nicht gesagt. Keine Gäste hieß nämlich kein Einkommen. Emma war sehr knapp bei Kasse. Die Saison, so hoffte sie wenigstens, würde Ende Mai beginnen, also in zwei oder drei Wochen. Bisher hatte sie aber praktisch keine Reservierungen bekommen.
Genug gegrübelt, entschied sie. Frische Luft würde ihr nun wirklich gut tun. Sie trat aus dem Arbeitszimmer, das gleich neben dem Eingang lag und schlüpfte noch einmal in die blaue Regenjacke aus dem Secondhand-Laden einer Wohltätigkeitsorganisation. Emma nahm die Hausschlüssel aus der Schale auf dem Ablagebrett in der Diele und verließ das Haus.
Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und blickte über den länglichen Platz. Sein Name war New Steine, eine seltsame Mischung aus Englisch und Deutsch, die ihr noch keiner hatte erklären können. Die Häuser waren in zwei gegenüberliegenden Zeilen angeordnet, alle mit drei oder vier Stockwerken, einer Kellerwohnung und Dachzimmern. Die meisten waren weiß, dazwischen aber gab es ein blitzblaues und ein pfefferminzgrünes Haus. Das Haus von Emmas Tante Nell war gelb mit weißen Fenstern.
In der Mitte des langen Platzes befand sich ein Streifen Rasen, natürlich eingezäunt und am Abend abgesperrt. Sie hatte als Anrainerin einen Schlüssel.
Die meisten Häuser waren winzige Hotels und wurden von den Besitzern betrieben. Zu dieser Jahreszeit kamen noch nicht so viele Touristen nach Brighton, aber mit Juni fing die Hochsaison an. Emma hoffte auf viele Gäste, da sie Geld verdienen musste.
Die Nacht war windstill. Das war eine willkommene Abwechslung nach den Stürmen der vergangenen Wochen. Für den nächsten Tag war auch schon wieder starker Wind vorhergesagt.
Mehrere Male atmete Emma tief durch und füllte ihre Lungen mit der Meeresluft. Sie stieg die Stufen hinunter und ging nach links Richtung Strand.
Selbst auf der Marine Parade, der Straße, die 25 Meter über dem Strand entlang der Küste verlief, war um diese Tageszeit nicht mehr viel los. Sie musste nur ein paar Autos und ein Motorrad abwarten, dann konnte sie die Straße überqueren. Eine lange Treppe verlief im Zickzack an der steilen Mauer nach unten zum Meer.
Mit der Hand strich sie über das Metallgeländer, das von vielen Lackschichten überzogen war. Es trotzte Salz und Seeluft, aber der Rost kämpfte sich trotzdem durch und mischte sich mit dem gebrochenen Weiß. Emma stieg die steinernen Stufen hinunter und erreichte das Ende der Treppe, das unter Arkaden führte.
Sie mochte diese Stelle nicht sehr. Erstens hing hier immer der Gestank von altem Öl der Fish&Chips-Bude in der Luft, und zweitens war es ein wenig düster. Um schnellstens auf die untere Uferstraße zu gelangen, lief sie los. Am Ende des Handlaufs gab es eine Metallkugel, und aus einer Laune heraus packte Emma sie mit einer Hand, stieß sich ab und wirbelte herum Richtung Meer, so wie sie früher als kleines Mädchen manchmal gesprungen war.
Für eine halbe Sekunde fühlte sie sich so leicht und so befreit wie schon lange nicht mehr. Sie hatte das Gefühl zu fliegen, keinen Boden mehr unter den Schuhen. Die Schwerkraft holte sie schnell wieder zurück nach unten.
Emma landete auf dem Boden, prallte aber gleichzeitig gegen ein Hindernis, das sie dort nicht vermutet hatte. Sie kippte zur Seite und fiel.
Hinter sich hörte sie ein Aufstöhnen. Sie kämpfte sich in die Höhe, aber beim Versuch, mit dem linken Fuß aufzutreten, schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Knöchel. Sie musste ihn sich verstaucht haben. Gegen wen oder was war sie da gesprungen?
Als sie sich umdrehte sah sie am Ende der Treppe jemanden stehen. Es war ein Mann in einer Jacke mit aufgestelltem Kragen. Sie konnte nicht viel von ihm erkennen, nur dichtes Haar, das ihm in die Stirn hing, und einen Vollbart. Sein Gesicht lag im Schatten.
»Habe ich Ihnen wehgetan?«, fragte sie stotternd.
»Nicht so schlimm.«
»Das tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte.«
»Sie sind zum Glück nicht schwer.«
Emmas Tante hatte sie vor Drogensüchtigen und Obdachlosen gewarnt, die hier in der Nacht herumlungerten.
»Sie haben so aufgestöhnt, wenn ich Sie verletzt habe, dann kann ich Sie ins Krankenhaus bringen…« Emma kam näher auf ihn zu.
Schnell drehte der Mann den Kopf weg, als wollte er nicht, dass sie sein Gesicht sah.
»Wirklich kein Problem«, hörte Emma ihn murmeln. Er wandte sich ab, und als er ein paar Schritte machte, konnte Emma sehen, dass er leicht hinkte. Trotz der Schmerzen in ihrem Knöchel humpelte sie ihm hinterher, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war.
»Ich habe Sie wirklich nicht verletzt, oder?«
»Lassen Sie mich in Frieden!« Schroff stieß er sie weg. Emma stolperte erneut, und ihr Knöchel erinnerte sie mit einem heftigen Schmerz, dass er Schonung wollte.
»Ich habe mir nur Sorgen um Sie gemacht«, rief sie aufgebracht. »Kein Grund, so unfreundlich zu sein.«
Der Mann blieb stehen, kehrte ihr aber den Rücken zu. Emma fielen die Ermahnungen ihrer Tante ein, und sie wich zurück. Wenn er sich auf sie stürzte, sie niederschlug oder vergewaltigte? Hörte es hier jemand, wenn sie schrie?
Es sah aus, als wollte der Mann noch etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders. Kopfschüttelnd stapfte er nach vorne gebeugt, die Hände in den Jackentaschen, davon.
Armer Kerl, dachte Emma.
Sie überlegte, ob sie zurückgehen sollte, oder den Madeira Drive überqueren und noch ein wenig über den Kiesstrand schlendern.
Der Mann war in der Dunkelheit verschwunden. Sie blickte die lange untere Uferstraße hinauf und hinunter. Es waren nicht einmal Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern unterwegs. Was für eine einsame Nacht.
Eine Nacht, die ihrer Grundstimmung sehr entsprach.
Der Strand fiel in einer kleinen Stufe ab, die hoch genug war, um sich zu setzen. Die auslaufenden Wellen leckten über die Kiesel, und Emma hörte das Platzen der Schaumblasen. Sie ließ sich nieder und blickte hinaus zum Horizont, wo sich winzige Lichtpunkte bewegten. Es waren die Lastschiffe, die von Frankreich nach England unterwegs waren, wie man Emma erklärt hatte.
Zu ihrer en, nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt, erstreckte sich der berühmte Pier hinaus in das Meer. Es war ein langer Finger, ein Steg, an dessen Ende Achterbahnen und andere Rummelplatzattraktionen aufragten. Brighton Pier bedeutete Spaß, Fish&Chips, Popcorn, Eiscreme, Spielhallen, in denen jeder mit nur ein paar Pennys dabei sein konnte. Lachende Kinder, vergnügte Familien und Liebespaare, die ständig Selfies von sich machten.
Nur einmal war Emma zum Pier gegangen. Es war vor drei Wochen gewesen, und sie war durch die lärmerfüllten Spielhallen gewandert, bis zur letzten Achterbahn. Sie hatte sich sogar einen Token gekauft und war in einen der kleinen Wagen gestiegen. Wenige Sekunden später sauste sie durch die Kurven und den Looping, immer das Meer unter sich und mit einem Gefühl, als würde sie im nächsten Augenblick ins Wasser stürzen.
Sie schrie, wie sie es auch als kleines Mädchen auf dem Rummelplatz gemacht hatte. Aber nun hielt sie die Stange vor sich mit beiden Händen fest umklammert und streckte die Arme nicht mehr übermütig in die Höhe, wie sie das früher getan hatte.
Ihr Übermut war schon lange verschwunden und einer Niedergeschlagenheit gewichen, die einfach nicht mehr weggehen wollte. Lange war sie nicht am Pier geblieben, da sie die Ausgelassenheit der anderen Leute und vor allem die verliebten Pärchen nicht ertragen hatte.
Der Pier war in dieser Nacht bereits geschlossen, die Lichter auf die Hälfte gedimmt. Der Spaß schien zu schlafen und neue Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln.
Sie konnte die Augen nicht von dem langen Steg nehmen, und bei der Erinnerung an ihre bedrückte Stimmung, während sie mit der Achterbahn gefahren war, kam ihr ein Gedanke: Sie würde nie wieder die Arme in die Luft strecken und aus voller Kehle kreischen. Ihr fehlte dazu das Vertrauen.
Sie musste sich überall anklammern, um nicht erneut so schrecklich zu fallen. Ihr ganzes Leben war ein einziges Festhalten geworden, bis ihre Hände schmerzten und die Fingerknöchel weiß hervortraten.
Sie hatte das Vertrauen verloren, in sich und darin, dass sie auf den Beinen bleiben konnte.
Vor allem aber war in ihr ein tiefes Misstrauen in den Fluss des Lebens, in die Gerechtigkeit und die Möglichkeit, wenigstens für Tage wieder etwas wie Leichtigkeit, Glück und Liebe zu fühlen.
Emma beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie, legte das Gesicht in die Hände und schluchzte. Es war kein befreiendes Weinen, es war ein trockenes, verzweifeltes, fast würgendes Schluchzen, das schmerzte.
Zuerst dachte sie, das Meerwasser wäre hochgespritzt, als sie etwas Kühles auf ihrem Handrücken fühlte. Sie spreizte die Finger und spähte durch.
Vor ihr stand jemand, der sie angefasst hatte.