Читать книгу Von der Kunst, sich selbst zu führen - Thomas Hamblin Harry - Страница 32
ОглавлениеKAPITEL 4
„GEBT ACHT AUF EUCH SELBST“ –
PAULUS ZUR SELBSTFÜHRUNG
Kein biblischer Autor spricht so direkt von der Aufgabe, sich selbst zu führen, wie Paulus.8 Er tut es dort, wo es um einen hilfreichen, seelsorgerlichen Umgang von Christen untereinander oder um Leitung geht.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: In einer Gemeinde wird bekannt, dass jemand einen folgenschweren Fehler begangen hat und schuldig geworden ist. Alle sind schockiert. Sofort steht die Frage im Raum: Wie soll man dieser Person in Zukunft begegnen? Ist es richtig, einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen? Oder muss es Folgen haben, damit deutlich wird, dass ein solches Verhalten nicht dem Evangelium von Christus entspricht? Das sind schwierige Fragen. Christen sind im Verlauf der Geschichte sehr unterschiedlich damit umgegangen. Manche Gemeinden verhängten teilweise drastische Strafen. Die betroffene Person durfte das Abendmahl nicht mehr einnehmen oder musste seine Aufgaben in der Gemeinde abgeben. Andere ließen es gut sein und beriefen sich auf die Gnade beziehungsweise auf die Sündhaftigkeit aller Menschen. In seinem Brief an die Galater schlägt Paulus einen anderen Weg vor:
Geschwister, wenn jemand sich zu einem Fehltritt hinreißen lässt,
dann sollt ihr, die ihr von Gottes Geist geführt seid, ihn wieder zurechtbringen …
Doch schau dabei auf dich selbst, dass du nicht selbst versucht wirst.
Jeder soll sein eigenes Tun prüfen …
Denn jeder wird seine eigene Last zu tragen haben.
Galater 6,1.4-5; eigene Übersetzung
Falsche Selbstsicherheit
Paulus zeigt: Wegsehen löst keine Probleme und hilft niemandem. Wer über ein Fehlverhalten zu schnell den Zuckerguss der Gnade gießt, der fürchtet sich in Wahrheit davor, einem anderen Menschen Korrektur, und damit letztlich auch Veränderung und Wachstum, zuzumuten. Man soll also über das Vorgefallene sprechen und einen Weg suchen, damit die betroffene Person einen Neuanfang machen kann. Doch noch ausführlicher als über denjenigen, der versagt hat, spricht Paulus nun über diejenigen, die ihm auf den rechten Weg helfen wollen. Das ist erstaunlich. Paulus kennt das menschliche Wesen offensichtlich sehr gut und weiß: Wenn jemand auf die Nase gefallen ist, dann ist nicht bloß er selbst in Gefahr. Die vielleicht größere, meist aber nicht wahrgenommene Gefahr lauert bei denjenigen, die sich um ihn kümmern sollen. Sie besteht einerseits darin, dass man einfach wegschaut und gar nichts unternimmt. Keiner will sich die Finger verbrennen, keiner sich unbeliebt machen. Bei den Galatern scheint diese Gefahr allerdings nicht zu bestehen, sondern eine andere, die genauso problematisch ist: dem Schuldiggewordenen aus einer Haltung der Selbstsicherheit und Überlegenheit heraus zu begegnen. Sie stehen in der Versuchung, sich für besser zu halten und das Geschehene zum Anlass zu nehmen, sich mehr mit den Sünden dieses Menschen zu beschäftigen als mit ihren eigenen Unarten und Abgründen. Und das, so scheint es, wäre das folgenschwerere Versagen. Denn was die andere Person falsch gemacht hat, ist offensichtlich. Das Versagenspotenzial ihrer „Helfer“ aber versteckt sich hinter einer Fassade scheinbarer Frömmigkeit und Selbstsicherheit.
Paulus beschreibt eine typisch menschliche Tendenz: dass wir uns zu stark mit den Fehlern anderer beschäftigen. Selbst dort, wo wir anderen helfen wollen, geschieht das: Wir sind so darauf konzentriert, dass sie das Richtige tun, dass wir aus den Augen verlieren, was noch wichtiger ist, nämlich dass wir selbst das Richtige tun. Darum ist die Betonung von Paulus an dieser Stelle so klar: „Wenn jemand von euch einen Fehler macht, dann ist es gut, dass ihr ihm helfen wollt, sich zu korrigieren. Aber vergesst dabei nicht, was noch wichtiger ist: Beschäftigt euch weniger mit dem richtigen oder falschen Verhalten des anderen. Konzentriert euch lieber auf euer eigenes Verhalten, und achtet darauf, dass ihr einen guten Weg geht!“
„Was schaut ihr auf diese Frau herab?“
Vor einigen Jahren besuchte ich den Gottesdienst einer kleinen christlichen Gemeinde in Tansania. Ein Teil war der Wiederaufnahme einer Frau gewidmet, die irgendeinen Fehltritt begangen hatte. Dort ist es üblich, dass jemand nach bestimmten Verfehlungen eine Zeit lang vom Abendmahl ausgeschlossen wird und nur noch den Gottesdienst besuchen darf. Ob das (und auch die Öffentlichkeit dieser Vorgehensweise) angemessen ist, will ich hier nicht erörtern. Mir geht es um die Art und Weise, wie Seth, der einheimische Pastor, bei der Wiederaufnahme vorging. Nach ein paar einleitenden Worten bat er die betroffene Frau, nach vorne zu kommen. Dort hieß er sie willkommen und versicherte ihr, dass sie von nun an wieder ein vollgültiges Gemeindeglied sei.
Es war interessant, die 30,40 Menschen in dieser Kirche zu beobachten. Alle kannten den Grund, der zum vorübergehenden Ausschluss geführt hatte. Einige zeigten ihre Freude darüber, dass es nun vorbei war. Andere blickten distanziert, mit einer Spur von Ablehnung im Gesicht. Der Pastor schien das zu bemerken. Nachdem er ein paar Worte an die Frau gerichtet hatte, wandte er sich an die Gemeinde. Seine Stimme wurde laut, sein Gesicht entschlossen: „Und ihr, was ist mit euch?“, begann er und blickte in die Runde. „Schaut ihr immer noch auf diese Frau herab, die einen Fehler begangen hat? Was gafft ihr sie an? Denkt ihr, irgendjemand von uns sei besser als sie? Ist jemand hier, der keine bösen Gedanken, keine Versuchung, kein Versagen kennt? Was beschäftigt ihr euch mit dieser Frau? Was redet ihr im Dorf über sie? Lasst uns lieber auf uns selbst schauen! Lasst uns Gott das bekennen, wo wir ihm untreu geworden sind. Lasst uns unsere Sünden bekennen und zu Gott umkehren …!“
Das war nur der Anfang einer fünfzehn Minuten dauernden Bußpredigt – nicht etwa an die Frau, sondern an die gesamte Gemeinde. Die Stimmung kippte. Auf einmal ging jeder in sich – die Frau war vergessen. Und es wurde deutlich, dass jeder von uns nur eine Person hat, auf die er sich wirklich konzentrieren sollte, wenn es um Versagen und Schuld geht: sich selbst. Pastor Seth hat in diesem heiklen Moment die richtige Spur gefunden. Die Spur, die Paulus in Galater 6 für die Gemeinde vorgezeichnet hat, die mit einer solchen Situation konfrontiert ist.
Paulus’ Rat an Leitende
An zwei weiteren Stellen beschäftigt sich Paulus mit Selbstführung. Beide Male wendet er sich dabei an Leiter. In der ersten Situation hat er die Gemeindeleitung von Ephesus vor sich. Er hat sie zu sich nach Milet im griechischen Kleinasien gerufen, kurz bevor er nach Jerusalem aufbricht. Paulus rechnet damit, seine Freunde nicht wiederzusehen. Er ahnt, dass Verfolgung und die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes auf ihn warten. So verabschiedet er sich von den Leitenden in Ephesus, denen er zuvor die Führungsverantwortung der von ihm gegründeten Kirche übergeben hat. Er führt ihnen ein letztes Mal vor Augen, worauf es bei der Leitung ihrer Gemeinde ankommt, und beginnt mit den Worten: „So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist eingesetzt hat …“ (Apostelgeschichte 20,28; LUT).
Achten Sie auf die Reihenfolge. Bevor er den Leitern Anweisungen gibt, wie sie die Gemeinde führen sollen, fordert er sie auf, sich selbst zu führen: „Habt acht auf euch selbst!“ Das hat Priorität! Führt euch selbst – und danach die Menschen, die euch anvertraut sind.
Ähnlich klingt es in seinem Brief an Timotheus, dem Paulus viele Jahre später schreibt. Wieder geht es um Ephesus; Timotheus soll die Gemeinde in einer Problemsituation führen. Hören Sie, was Paulus seinem Freund rät:
Vernachlässige deine besondere Gabe nicht, die Gott dir geschenkt hat …
Übe dich darin, bleibe darin, damit alle deine Fortschritte sehen. Achte auf dich selbst und auf die Lehre, bleibe engagiert in beidem. Wenn du das tust, rettest du dich selbst und alle, die auf dich hören.
1. Timotheus 4,14-16; eigene Übersetzung
Wie damals in Milet betrachtet Paulus auch viele Jahre später die Selbststeuerung einer Leitungsperson als Voraussetzung, damit sie gut führen kann. Er fordert Timotheus auf, seine Fähigkeiten kontinuierlich zu entwickeln und zu trainieren9 und in die Ressourcen zu investieren, die Gott in ihn hineingelegt hat. Er soll alles ausschöpfen, was Gott ihm gegeben hat, und es ohne falsches Zögern in die Waagschale werfen. Und wieder gibt er den Rat: „Achte auf dich selbst …!“ Timotheus soll bei sich beginnen, nicht bei den anderen. Damit tut er sich selbst Gutes – und den Menschen, die er führt. Treffender kann man die Essenz von Selbstführung kaum beschreiben.
Damit Selbstführung nicht selbstbezogen wird
Hinter uns liegt ein erster Überblick über die biblischen Wurzeln unserer Verantwortung, uns selbst gut zu führen. Ich spüre beim Schreiben eine gewisse Versuchung, Ihnen nun zügig die Lebensfelder vorzustellen, in denen unsere Selbstführung im Alltag zum Tragen kommt. Wir könnten uns dann ausführlich der Anwendung widmen, und ich könnte Ihnen viele Tipps geben, wie Sie in Ihrer Selbstführung wachsen können. Doch ich halte mich zurück. Ein paar wichtige Fragen sind noch ungeklärt. Lassen wir sie unbeantwortet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir das Anliegen, uns selbst zu führen, falsch verstehen und umsetzen.
Die große Herausforderung für uns Christen besteht darin, einerseits unsere Verantwortung für die aktive Gestaltung unseres Lebens, unserer Umstände und unserer Beziehungen wahrzunehmen. Gleichzeitig geht es darum, dabei aus Gottes Ressourcen zu schöpfen und nicht aus eigenen. Und es geht darum, unsere Verantwortung zur Selbstführung den Werten und Leitlinien des Reiches Gottes unterzuordnen. Also alles zu tun, was der Nachfolge Christi entspricht, was uns darin geboten und erlaubt ist. Gleichzeitig sollten wir auf Verhaltensweisen, Möglichkeiten und Strategien verzichten, die uns vom Weg Jesu wegführen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
In den kommenden zwei Kapiteln wollen wir deshalb folgende Fragen klären:
• Welcher Rahmen hilft mir, dass ich bei meiner Selbstführung nicht unbedacht in Widerspruch zu Gottes Willen gerate?
• Nach welchen Überzeugungen und Leitlinien gestaltet sich die Selbstführung eines Menschen, der ernsthaft Jesus Christus nachfolgen will? Wie bleibt sie auf gute Weise eingebettet in meine Beziehung und meinen Gehorsam Christus gegenüber?
Um diese Fragen zu beantworten, definiere ich in Kapitel 5 einen dreifachen Rahmen für die Kunst der Selbstführung. In Kapitel 6 versuche ich anhand des 12. Kapitels im Römerbrief aufzuzeigen, wie sie auf gute Weise in unsere Nachfolge von Jesus Christus eingebunden bleibt und was sie davor schützt, zur Egonummer zu werden.