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Bleiben und leiden – oder gehen und leiden?

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Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich mich in diesem Dilemma wiederfand. Ich begleitete eine Frau, die in einer schwierigen Ehesituation steckte. Ihre vier Kinder waren bereits erwachsen, als sie erfuhr, dass ihr Mann (ein aktives Mitglied im Finanzausschuss der Kirche) regelmäßig Prostituierte aufsuchte. Ein weiteres Problem war, dass er unverantwortlich mit dem Geld umging, das seine Frau geerbt hatte. Er kaufte sich davon einen Oldtimer und rechtfertigte es als kluge Geldanlage. Gleichzeitig gestand er seiner Frau kaum Freiheiten zu. Sie durfte nicht mit Freundinnen weg, ohne dass er laut protestierte. Er behandelte sie wie ein Dienstmädchen, das ihm pausenlos zur Verfügung stehen und ihn bedienen musste. Es gab viele Versuche, diese Ehe zu retten. Manchmal war temporär eine Besserung festzustellen, dann war wieder alles beim Alten. Die Frau zerbrach mehr und mehr unter der Last. Ernsthafte gesundheitliche Beschwerden stellten sich ein. Sie war verzweifelt und am Ende.

Je länger ich sie begleitete, umso deutlicher wurde, dass es so nicht weitergehen konnte. Es erschien mir unverantwortlich zu erwarten, dass diese Frau als „gute Christin“ ihren Mann und ihr Schicksal aus Gottes Hand nehmen und ertragen sollte. Gleichzeitig war auch das andere klar: Sie als Seelsorger in ihrem Vorhaben zu unterstützen, sich von ihrem Mann zu trennen, beinhaltete das Risiko einer Scheidung. Scheidungen gehören bekanntlich nicht zu dem, was Gott für Paare vorgesehen hat. Hier tat sich also das Dilemma einer Grauzone auf, in der die Orientierung schwierig wurde: Blieb sie, konnte der Mann weiter sein Unwesen treiben, und die Frau würde zunehmend depressiv und krank werden – eine undenkbare, unverantwortliche Situation. Verließ sie ihn, würde sie ihr Zuhause verlieren, wo sie sich wohlfühlte, und eine neue Wohnung suchen müssen. Wie sie diese finanzieren würde, war nicht klar. Gleichzeitig würde sie ihren Mann verlieren, der zeitweise auch fürsorglich sein konnte. Es war nicht absehbar, wie er reagieren würde und ob dieser Schritt eine Scheidung zur Folge hätte – und damit dieser Frau einen besonders schwierigen, schmerzhaften Prozess bescheren würde.

Was war hier richtig? Es gab keine Wahl zwischen Gut oder Schlecht, Richtig oder Falsch. Es gab nur die Wahl zwischen Falsch und Falsch.

Von der Kunst, sich selbst zu führen

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