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Dietrich Bonhoeffers Dilemma

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Einem vergleichbaren Dilemma war Dietrich Bonhoeffer ausgesetzt, als er vor der Entscheidung stand, wie er auf das von Hitlers Naziregime verübte Unrecht reagieren sollte. War Nichtstun eine echte christliche Option? Wegschauen und dulden, wie Menschen verfolgt und umgebracht wurden? Konnte dies Gottes Wille sein? Die Antwortet lautete klar: Nein! Sich also wehren? An einer Verschwörung gegen Hitler teilnehmen, an deren Ende seine Ermordung stand? Doch wie konnte es Gottes Wille sein, dass ein Mensch getötet wurde, selbst wenn es ein schlechter Mensch wie Hitler war? Es war anzunehmen, dass dies ebenfalls nicht gut war, denn das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“ verfügt bekanntlich nicht über den Nachsatz: „… außer es handelt sich um einen richtig schlechten Kerl, dann darfst du!“ Jesus und Paulus gehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern uns auf, unsere Feinde zu segnen, zu lieben und sie zu versorgen. Wir sollen mit Gutem auf das Böse reagieren, das sie uns antun.

Was Bonhoeffer also auch immer tat oder nicht tat – es war mit Unrecht verbunden. Es gab keine Entscheidung zwischen Richtig oder Falsch, sondern nur zwischen Falsch und noch mal Falsch. Die Frage war nun, welche der beiden falschen Optionen möglicherweise ein bisschen weniger falsch sein könnte … Aber welcher Mensch kann das schon zweifelsfrei beurteilen? Wer kann wissen, wie Gott die Dinge sieht und beurteilt? Wer kann mit letzter Sicherheit sagen, welches Verhalten er von uns erwartet?

Manche Christen schlagen vor, Gott in solchen Momenten um ein übernatürliches Reden des Heiligen Geistes zu bitten. Er soll zeigen, was er in dieser spezifischen Situation von uns möchte. Schließlich versprach Jesus, seine Schafe würden seine Stimme hören und sein Geist würde uns in alle Wahrheit führen (vgl. Johannes 10,27 und 16,13). Doch hatte Jesus solche Fälle vor Augen, als er diese Sätze aussprach?

Natürlich, Gott kann konkret reden und führen. Ich gehöre zu den Menschen, die in einem solchen Dilemma eindringlich darum bitten. Dennoch: Wer gibt mir die Garantie, dass ich Gottes Reden richtig wahrnehme? Wie unterscheide ich das, was ich von Gott zu hören meine, von eigenen, mir selbst unbewussten Regungen und Vorstellungen? Gibt es eine letzte und absolute Sicherheit zu wissen, was Gott tatsächlich möchte? Bonhoeffer verneint diese Frage. Er sagt dazu etwas Provozierendes: Unser Anspruch darauf, zweifelsfrei zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, sei unsere eigentliche und größte Sünde. Denn darin wollen wir sein wie Gott. Es war auch die Versuchung der ersten Menschen: wie Gott Erkenntnis über Gut und Böse haben zu wollen (vgl. 1. Mose 3,4-6). Gott verwehrte es ihnen. Es bleibt ihm allein vorbehalten. Wer meint, Gut und Böse zweifelsfrei erkennen und unterscheiden zu können, der macht sich zum Richter. Zum Richter über sich selbst und zum Richter anderer Menschen – denn er weiß ja stets genau, was er und andere falsch oder richtig machen. Bonhoeffer bezeichnete diese Haltung als die eigentliche Sünde der pharisäischen Juden zur Zeit von Jesus. Sie beanspruchten den Durchblick und beurteilten sich und ihre Mitmenschen durch ihr Raster von Richtig und Falsch. Damit aber taten sie, was nur Gott tun darf: über den Menschen (inklusive sich selbst) ein Urteil fällen.10

Von der Kunst, sich selbst zu führen

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