Читать книгу Handbuch Ethik für Pädagogen - Thomas Kesselring - Страница 44
3.6. Beispiel Toleranz (vgl. Kapitel 10.4.)
ОглавлениеZur Veranschaulichung soll auf das Beispiel Toleranz näher eingegangen werden. Zunächst ist Toleranz eine Eigenschaft, auf die alle vier von Aristoteles einer Tugend zugeschriebenen Charaktermerkmale zutreffen: Toleranz ist eine Haltung und als solche nicht angeboren – sie wird durch Sozialisation erworben. Sie erfährt (zumindest in modernen westlichen Gesellschaften) soziale Wertschätzung. Toleranz als Haltung enthält zwar eine intellektuelle Komponente; wesentlicher aber ist, dass sie auch die Regulierung von Emotionen voraussetzt. Und schließlich gibt es zur Toleranz nicht nur eine, sondern zwei gegensätzliche Haltungen, die in keinem sehr guten Ruf stehen: Intoleranz und Indifferenz.
Dass auch die Indifferenz zur Toleranz in einem Gegensatzverhältnis steht, wird häufig übersehen. Viele Menschen setzen alles darauf, nur ja nicht den Anschein von Intoleranz zu erwecken, und schauen bei ethisch unhaltbaren Verhaltensweisen einfach weg. Aus dem gleichen Grund verstehen sich viele Menschen als Relativisten. Um nur ja nicht intolerant, fundamentalistisch oder absolutistisch zu erscheinen, „tolerieren“ sie alles und jedes, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, dass es Handlungen, Praktiken und Bräuche gibt, die auf keinen Fall geduldet werden dürfen – Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel. Echte Toleranz setzt die Bereitschaft voraus, im Zweifelsfall gegen den mainstream zu schwimmen, auch wenn dieser eher zuviel als zu wenig Toleranz empfiehlt.
Aristoteles zufolge muss die positive Haltung nicht exakt in der Mitte zwischen den zwei negativen liegen. Auch dieser Hinweis ist zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Toleranz und Intoleranz bzw. Indifferenz wertvoll: Je nach Situation ist es in der Tat angebracht, sich eher in Richtung Intoleranz oder umgekehrt in Richtung Indifferenz zu bewegen. Wo die Grenze zwischen diesen Haltungen im Einzelfall verläuft, bleibt dem „orthos logos“ oder dem Fingerspitzengefühl überlassen.