Читать книгу Handbuch Ethik für Pädagogen - Thomas Kesselring - Страница 47
4.1. Die moralische Bedeutung von zwischenmenschlicher Nähe und Distanz
ОглавлениеWir haben striktere moralische Verpflichtungen gegenüber Personen, mit denen wir zusammenleben, als gegenüber uns ferner stehenden Personen. Wir engagieren uns prima facie lieber für Personen, zu denen wir eine enge emotionale Bindung haben, als für Menschen, die uns emotional fern stehen. In einer Millionenstadt sind die Umgangsformen zwischen Menschen, die einander auf der Straße begegnen, sich aber nicht genauer kennen, anders als in einem Dorf, wo man sich grüßt und wo alle von allen wissen, wer sie sind. In einer Kleinstadt kennt zwar nicht jeder jeden. Kommt man mit jemandem, der einem unbekannt ist, ins Gespräch, so entdeckt man aber leicht ein paar gemeinsame Bekannte. Mit dieser Entdeckung hebt sich der Schleier der Anonymität; die gemeinsamen Bekannten bilden eine Art Garantie dafür, dass die Begegnung zwischen den beiden, die sich erstmals begegnen, gesittet bleibt. Je größer die Stadt, desto geringer ist allerdings die Anzahl gemeinsamer Bekannter. Die Anonymität wächst, und mit ihr steigt auch das Risiko unliebsamer Begegnungen (Kasten 4.1). Dennoch setzen die Menschen nicht nur im Dorf, sondern auch in der Großstadt gewisse Erwartungen ineinander, z.B. die, dass keiner gegen den Anderen Gewalt ausübt.
Kasten 4.1.: Mathematische Gründe, die dagegen sprechen, dass Liebe und Sympathie die Grund-Emotionen der Ethik sein können
Angenommen, zwei Personen begrüßen sich, indem sie sich die Hand geben, so kommt es zwischen ihnen zu einem Handschlag. Treffen sich drei Personen, so kommt es bei der Begrüßung zu drei Handschlägen. Bei vier Personen sind es sechs, bei zehn fünfzehn usw.
Wenn eine Schulklasse 15 Schüler zählt, gibt es zwischen ihnen 105 mögliche Beziehungen. Treten 5 weitere Schüler in die Klasse ein, so wächst die Anzahl möglicher Beziehungen auf 190…
Die Formel lautet:
Wächst die Gruppengröße [n], so nimmt die Anzahl der möglichen Beziehungen [m] exponentiell zu. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf die Umgangsformen in Dörfern und Städten unterschiedlicher Größenordnung: Wächst über die Jahre die Bevölkerung einer Stadt um den Faktor zehn, so verhundertfacht sich in etwa die Anzahl möglicher Beziehungen: