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4.4. Die ethische Grundhaltung: Achtung

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Die Achtung entspricht einer mittleren Haltung zwischen einer emotionsfreien objektivierenden Einstellung und einer von starken Emotionen der Nähe (Liebe oder Sympathie) getragenen Haltung. Jemandem mit Achtung begegnen, heißt einerseits, ihn wie ein fühlendes Wesen mit seinen Bedürfnissen und Interessen zu behandeln und nicht wie ein Objekt, das keine Gefühle hat, andererseits aber eine gewisse Distanz zu wahren und die Rechte und Freiheiten der anderen Personen zu respektieren.

Ethisch betrachtet, beruht Achtung auf der Anerkennung anderer Menschen als moralische Personen, d.h. als Personen, die fähig und willens sind, die Grundnormen menschlichen Zusammenlebens zu befolgen; die also auch fähig und willens sind, sich an vereinbarte Regeln zu halten. Diese Fähigkeit setzen wir bei allen Personen voraus – zumindest bei allen zurechnungsfähigen Personen. Das bedeutet zugleich, dass wir sie für würdig halten, moralisch geachtet zu werden.

Menschenwürde beruht auf der Fähigkeit, moralisch zu handeln, und die Achtung ist die Einstellung, die wir anderen Personen aufgrund ihrer Würde entgegenbringen.

Wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt wurde, kann man die Moral als ein System von Normen betrachten, die für die Mitglieder einer Gesellschaft (wenn nicht für alle Menschen überhaupt) gültig sind, wobei zwischen Rechten und Pflichten ein enger Zusammenhang besteht. Wir können nun ergänzen, dass auf übergeordneter Ebene ein Zusammenhang auch zwischen der Fähigkeit, normative Erwartungen zu erfüllen, und der Würde eines Menschen besteht. Die Würde ist letztlich in der Bereitschaft einer Person begründet, den anderen Personen die gleichen Rechte zuzugestehen, die sie für sich beansprucht.

„Moralische Pflichten (…) setzen die Achtung vor der Würde des anderen in konkrete Verhaltensregeln um“ (von Kutschera 1999, S. 263).

Achtung bezieht sich auf drei Aspekte der anderen Person (Tugendhat 1993, S. 306f.; vgl. Tabelle 4.7):

(1) Auf die andere Person als Rechtssubjekt – als Person, die einen berechtigten Anspruch darauf hat, ihre Grundrechte wahrnehmen zu können. Die Rechte funktionieren wie kleine Verbotstafeln, die indirekt andeuten, welche Verhaltensweisen zu unterlassen sind, weil sie für den anderen eine Freiheitseinschränkung bedeuten.

(2) Auf die andere Person in ihrer Autonomie – als Person, die letztlich für sich selber entscheidet, die ich also nicht gegen ihr besseres Wissen zu irgendetwas zwingen darf, womit sie nicht einverstanden ist.

(3) Auf die andere Person in ihrer Würde und Selbstachtung. Diese gründet letztlich in ihrem Leistungswillen, in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch in ihrer Bereitschaft, die moralischen Erwartungen der anderen zu befriedigen. Das Recht, nicht gedemütigt zu werden, ist ein wesentlicher Aspekt verschiedener Menschenrechte (z.B. des Folterverbots oder des Schutzes der Privatsphäre).

Achtung bringen wir auch Personen entgegen, deren Ansichten wir nicht teilen oder mit denen wir konkurrieren. Es ist ein Zeichen persönlicher Wertschätzung, wenn der Verlierer dem Gewinner nach dem Wettkampf oder nach der Wahl gratuliert. Wer sich nicht zu dieser Geste durchzuringen vermag, ist kein guter Verlierer. Zwischen politischen oder ideologischen Gegnern ist eine Beziehung gegenseitiger Achtung, ja Hochachtung, nicht ungewöhnlich, vorausgesetzt, sie verhalten sich fair zueinander. Selbst Antipathie ist kein Grund, einer Person die moralische Achtung zu verweigern.

Kasten 4.4.: Achten, Beachten, Hochachten:

„Achten“ kann so viel bedeuten wie „be-achten“, (Aufmerksamkeit zollen) aber auch so viel wie „hoch-achten“. Im Straßenverkehr beachten wir Verkehrszeichen und Hinweisschilder, auf Bahnhöfen achten wir auf Durchsagen, die unsere Weiterreise betreffen. Wir be-achten (= befolgen oder respektieren) Regeln und Normen, etwa die Gesetze des Landes, in dem wir leben. Hochachtung verspüren wir gegenüber besonderen Personen. Moralische Achtung liegt in der Mitte zwischen Beachtung und Hochachtung. Eine Person achten heißt, sie als moralisches Wesen anzuerkennen, ihre Interessen und Rechte zu berücksichtigen, ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen.

Kasten 4.5.: Zur Entwicklungspsychologie der Achtung:

Achtung tritt im Kleinkindalter als Gefühl auf, in dem sich Furcht vor und Zuneigung zu den Eltern (oder sonstigen Autoritätspersonen) vereinigen. Diese Achtung ist als Gefühl spontan und unreflektiert. Piaget nennt sie „einseitige Achtung“ (Piaget 1983, v.a. Kap. 4).

In der mittleren Kindheit (ab ca. 7-8 Jahre) tritt eine neue Form von Achtung auf: die auf Gegenseitigkeit ausgerichtete Achtung – die moralische Achtung (ebd.). Anders als die einseitige Achtung enthält die gegenseitige Achtung weder Furcht noch Zuneigung oder Bewunderung. Sie entsteht in der Beziehung Eltern-Kind, wenn beide Seiten zwanglos, unter Abstraktion von jedem Abhängigkeitsverhältnis, interagieren. Piaget hat die Entstehung der gegenseitigen Achtung ganz aus der Beziehung zwischen Kindern unter sich erklärt. Die Gleichaltrigengruppe (Peer Gruppe) spielt dabei tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die gegenseitige Achtung drängt die Autoritätsorientierung (einseitige Achtung) der frühen Kindheit allmählich in den Hintergrund; doch diese überlebt bei vielen bis ins Erwachsenenalter…

→ Schule: Jüngere Kinder bringen der Lehrkraft einseitige Achtung entgegen, ältere vermehrt eine auf Gegenseitigkeit ausgerichtete Achtung: Sie erwarten, ihrerseits von der Lehrkraft geachtet zu werden (im ethischen bzw. moralischen Sinn)…

In seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ hat Erich Fromm ein anspruchsvolles Konzept davon entworfen, was „Liebe“ bedeutet, wenn sie die Haltung der Achtung im Vollsinn umfasst. Fromm nennt eine Vielzahl von Haltungen, die alle in der Achtung enthalten sind (Fromm 1956, Schlusskapitel) – so unter Anderem Konzentration, Geduld, unbedingtes Interesse, Überwindung des Narzissmus, Fähigkeit objektiv zu denken, (rationaler) Glaube, Menschlichkeit und Mut.

Kasten 4.6.: Eine Kontroverse um das christliche Liebesgebot

1. Das neutestamentliche Liebesgebot lautet: „Jesus aber spricht: ‚Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst’“ (Matthäus 11, 37-39).

2. Dieses Gebot geht auf ein entsprechendes Gebot im Alten Testament zurück: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr“ (3.Mose 19,18).

Gemäß dem hebräischen Urtext kann dieses Gebot auch anders übersetzt werden: „Du sollst deinen Nächsten lieben, denn er ist wie du.“ Nach dieser Übersetzung würde es sich hier um eine Version der Goldenen Regel handeln (vgl. Kapitel I.7.3.).

3. Sigmund Freud hat das christliche Liebesgebot vehement kritisiert:

„Das Gebot, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen“ (Freud 1930, S. 503).

4. Was meint das christliche Liebesgebot wirklich?

Das griechische Wort für „lieben“ – αγαπαν (agapán) – hat eine Vielfalt von Bedeutungen. Einige davon (sie sind hervorgehoben) liegen in der Nähe von „achten“ (Menge-Güthling, S. 3):

„i. a) jemanden freundlich aufnehmen, liebreich behandeln, bewillkommnen, willkommen heißen, begrüßen, sich jemandes liebevoll annehmen, jemanden schützen.

b) lieben, gern haben, gern mögen, zugetan sein, an jemandem hängen, hochschätzen, etwas hoch aufnehmen oder anerkennen […] etw. vorziehen.

c) wünschen […].

ii. mit etwas zufrieden sein oder sich begnügen, sich bei etwas beruhigen, sich etwas gefallen lassen, etwas geschehen lassen, froh sein […]“ (eigene Hervorhebungen).

Diese Bedeutungsvielfalt im Wort „agapán“ macht deutlich, dass eine Reduktion seiner Bedeutung auf die gängigen Konnotationen des deutschen Wortes „lieben“ zu einem verkürzten Verständnis der zitierten Verse aus dem Matthäus-Evangelium führen würde.

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