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4.2. Emotionen und Haltungen der Nähe: Mitleid, Liebe, Sympathie

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Liebe, Sympathie und Mitleid werden häufig als die entscheidenden moralischen Emotionen angesehen. In Adam Smiths Ethik bildet die Sympathie die Grundlage, wobei Smith mit „sympathy“ die Fähigkeit bezeichnet, sich auf die Gefühle der anderen Personen einzulassen – also das, was im Deutschen der Ausdruck „Einfühlung“ (Empathie) meint. Schopenhauer [1788-1860] gründet die Moral auf das Mitleid bzw. die Menschenliebe (Schopenhauer 1840). Sympathie und Mitleid, aber auch Empathie, stellen sich weitgehend spontan ein. Wir können aber nur mit einer begrenzten Zahl von Personen oder Lebewesen wirklich mit-fühlen oder mit-leiden. Und erst recht sind uns nicht alle Menschen gleichermaßen sympathisch. Dennoch erwarten wir von den anderen, dass sie mit uns einen einigermaßen gesitteten Umgang pflegen, auch wenn sie uns gegenüber vielleicht nicht die allergrößte Sympathie hegen.

Was die Liebe betrifft, so ist sie wie kaum eine andere Emotion auf Nähe ausgerichtet. Liebende suchen ausdrücklich Nähe. Doch ist Liebe ein „knappes Gut“, an dem wir nur wenige Menschen teilhaben lassen. Außerdem schlägt enttäuschte Liebe leicht in Ressentiment und Hass um.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun leicht verstehen, weshalb Sympathie und Liebe nicht gut die Grundlage der Moral bilden können. Denn gesetzt den Fall, es wäre möglich, dass alle Menschen einander sympathisch sind oder gar einander lieben, und gesetzt den Fall, es gäbe keinen Hass, keine Verachtung und keine Schadenfreude zwischen den Menschen, so bedürfte es wohl keiner zusätzlichen Moral: Die Menschen gingen aus freien Stücken – sozusagen von Natur aus – respektvoll miteinander um. Leider ist diese Bedingung aber nicht erfüllt. Eben deswegen sind wir auf die Ethik bzw. Moral angewiesen. Wie David Hume bemerkt hat, ist die Ethik gleichsam die Krücke, die wir im Umgang mit anderen benötigen, weil wir nicht alle Menschen lieben und weil uns nicht alle Menschen sympathisch sind.

Eine Ethik der Nähe muss nicht auf Liebe gegründet sein. Nähe kann sich auch in Aufmerksamkeit, Konzentration, Präsenz manifestieren. Auch in diesem Fall ist mit einer Ethik der Nähe ein hoher Anspruch gesetzt.

Kasten 4.2.: Emmanuel Levinas’ Ethik der unmittelbaren Nähe

Emmanuel Levinas [1906-1995] vertritt mit seinem „Humanismus des anderen Menschen“ die Überzeugung, dass von jeder Begegnung eine unendliche Verantwortung für mich ausgeht: Der Andere verlangt meine volle Präsenz, meinen vollen Einsatz (Levinas 2005).

Für die Lehrkraft lässt sich daraus ein hoher Anspruch ableiten: Sie soll sich auf die Schülerin, auf den Schüler voll und ganz einlassen, gleichgültig, wie ihr oder sein Verhältnis zur Lehrkraft aussieht.

Die Emotionen der Nähe eignen sich also nicht als Fundament für eine Ethik. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass zwischen geographischer, kultureller und emotionaler Nähe keine sehr klare Beziehung besteht: Personen, die uns räumlich am nächsten stehen, können uns emotional sehr fern sein. Umgekehrt können wir zu Menschen, die auf einem anderen Kontinent leben, eine emotional enge Beziehung unterhalten. Dasselbe gilt für Menschen aus anderen Kulturkreisen und für Menschen, deren Lebensformen sich von den unsrigen stark unterscheiden. Auch wenn unsere Sympathiegefühle für jemanden nicht einmal davon abhängen, ob wir dieser Person je begegnet sind – ein gesitteter (ethischer) Umgang muss auch und gerade zwischen Personen, die nicht viel Sympathie füreinander aufzubringen vermögen, gewährleistet sein. Um die Burmesische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi zu bewundern, muss man sie nicht persönlich getroffen haben, und um in Martin Luther King ein Vorbild zu sehen, muss man nicht sein Zeitgenosse sein.

Zusammen leben und zusammen arbeiten müssen wir grundsätzlich auch mit Personen, zu denen wir keine gefühlsmäßige Nähe empfinden. Vertrauen muss auch in zwischenmenschlichen Beziehungen möglich sein, die nicht ausschließlich von positiven Emotionen getragen sind.

Handbuch Ethik für Pädagogen

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