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Die Karer

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Als die Griechen im Laufe der ägäischen Völkerwanderung, die um 1250 v. Z. einsetzte, die Karer von ihren ursprünglichen Wohnsitzen in der Ägäis vertrieben, nahmen diese die Landschaft Karien in Besitz und gaben ihr ihren Namen, wobei sie eine ältere Bevölkerung (die Leleger) ins Landesinnere abdrängten:

Von den vielen Angaben über die Carier ist dieß die allgemeinste, dass die Carier von Minos Gesetze erhielten, und damals Leleger hießen, und die Inseln bewohnten. Dann begaben sie sich auf das feste Land und besetzten einen großen Theil der Küste und des innern Landes, den sie den vorigen Besitzern entrissen. Und auch dieß waren größtentheils Leleger und Pelasger; ihnen aber entrissen wiederum die Griechen einen Theil, die Ionier nämlich und die Dorier. Ihre Liebe für das Kriegswesen beurkunden die Handhaben der Schilde, die Wappen und Helmbüsche.27

Ob Leleger und Karer anfangs unterschiedliche Völker waren, ist nicht ganz klar, eine Stelle bei Homer (Ilias 10,42828) und Strabons Kommentar dazu (XIII, 58 f.) legen dies jedoch nahe. Jedenfalls scheinen die Karer, bevor sie selbst von den Griechen ins Landesinnere abgedrängt wurden, ursprünglich selbst über das Meer gekommen zu sein. Nach einer Sage sollen sie von der Insel Samos stammen. Auf Samos wuchs ein uralter Lygos-Baum (Agnus castus, Keuschlamm) der der Hera geweiht war. Unter diesem Baum soll die Göttin die Ureinwohner der Insel geboren haben. Dieser bis zu zwei Meter hohe Strauch mit bläulichvioletten Blumen ist seit jeher eine beliebte Bienenweide. Da die Biene schon bei den Hethitern ein Symboltier der Erdgöttin war, wie wir noch sehen werden, lag es dann nahe, die Pflanze ebenfalls der Göttin zuzuordnen.

Die Karer konnten, obwohl sie zunehmend hellenisiert wurden, doch eine gewisse kulturelle Eigenart bewahren. Um dies zu verstehen, müssen wir zunächst auf die Geographie Kariens eingehen. Karien ist eine Bergregion, die von drei großen Flüssen durchzogen wird, dem Morsynos (heute: Dandala Çay), dem Harpasos (Ahçay) und dem Marsyas (Çine Çay), die in den Mäander (Menderes) münden. Das Bergland fällt zur Küste hin steil ab, die stark zerklüftet ist. Karien erstreckte sich vom Mäander im Norden bis zum Indos in Süden und grenzte an Lydien, Lykien und Phrygien. Die Bergzüge im Norden bestehen aus Gneis, Granit und Glimmerschiefer, während im Süden mesozoisch-alttertiäre Sedimente überwiegen. Die wichtigsten Städte an der Küste waren die ionischen Siedlungen Ephesos, Milet und Halikarnassos, die Heimat des Historikers Herodot. Während die berühmten Seestädte wie Milet und Halikarnassos Handelsverbindungen bis nach Griechenland und Indien hatten, war das Hinterland fast gänzlich von der Landwirtschaft geprägt, die Wein, Oliven, Feigen und Honig erzeugte. Die Kiefern- und Pinienwälder des Latmos-Gebirges lieferten Holz für den Schiffsbau der Küstenstädte. Viele Karer aus dem Landesinneren verdingten sich als Söldner, Seeleute und Handwerker. In der Tat waren die Karer in der Antike allgemein als gute Soldaten und Seefahrer bekannt (auch als Piraten scheinen sie sich betätigt zu haben, s. Herodot 2,152). Karische Söldner werden schon in der Bibel erwähnt (2 Könige 11,4) und standen auch im Dienste der ägyptischen Pharaonen (Herodot 2,152 und 3,11).

Am Südufer des Bafa-Sees (der in der Antike noch nicht vom Meer abgeschnitten war) wurde Marmor abgebaut, der zum Bau der Tempel in Iasos, Milas, Herakleia, Aphrodisias usw. verwendet wurde. Die Siedlungsstruktur im Landesinneren war dörflich geprägt. Die Architektur der Karer, wie sie heute noch in Latmos (oberhalb von Herakleia am Nordufer des Bafa-Sees), Alinda und Labranda erkennbar ist, unterscheidet sich deutlich von der griechischen. Die Bauten wirken klobig und wuchtig, passen sich aber geschickt dem gebirgigen Gelände an und haben eine gewisse herbe Schönheit. Typisch karische Ortsnamen sind oft an der nichtgriechischen Endung auf –anda erkennbar (Labranda, Alabanda, Alinda). Karische Personennamen erkennt man an den Endungen auf –assis, -ollos und –omos. Einige karische Wörter: ala (Pferd), banda (Sieg), gela (König), gissa (Stein), Soua (Grab). Seitdem der Ägyptologe John D. Ray die karische Schrift in den 1980er Jahren entziffern konnte, hat sich herausgestellt, dass Karisch zu den anatolischen Sprachen gerechnet werden muss. 29

Über die Frühgeschichte Kariens ist wenig bekannt, da sie bisher kaum erforscht wurde. Anneliese Peschlow-Bindokat, die in den 1990er Jahren im Latmos-Gebirge steinzeitliche Felsmalereien entdeckte, nimmt aber an, dass es schon im 8. Jahrtausend v. Z. einen Kult des Wettergottes und einer großen Muttergottheit gegeben hat.30 Die Felsmalereien im Latmos stammen ihrer Ansicht nach aus dem 8. - 4. Jahrtausend vor Z. Älteste Spuren einer minoischen Kolonisation an der Küste stammen aus dem 2. Jahrtausend v. Z. „Über die Geschichte Kariens in den ersten Jahrhunderten des 1. Jahrhunderts v.Chr. erfahren wir aus den Quellen nichts.“31 Erst in den letzten Jahren hat man Spuren gefunden, die auf Beziehungen zum Hethiterreich hinweisen. Um 1000 vor Z. entstand dort die karische Rückzugssiedlung Latmos.

Die Karer bildeten ab dem 6.Jahrhundert v. Z. einen Bund (chrysaorischer Bund), dessen Zentrum zunächst Mylasa, später das Heiligtum des Zeus Chrysaor in Stratonikeia war, „in welchem sie zusammenkommen, um zu opfern und sich über gemeinsame Angelegenheiten zu beraten“ (Strabon XIV, 2,25). Während des ionischen Aufstandes der griechischen Küstenstädte 500 v. Chr. standen die Karer auf Seiten der Griechen, unterwarfen sich aber bald wieder dem Perserkönig Dareios. Im 4. Jahrhundert wurde Karien von der Herrscherfamilie der Hekatomniden beherrscht, deren Name offenbar von Hekate abgeleitet ist. Der bekannteste Herrscher aus diesem Satrapen-Geschlecht war Mausolos (377 - 351), dessen Frau Artemisia in Halikarnassos (Bodrum) das berühmte Mausoleion errichtete. Als Alexander der Große Karien eroberte, bestätigte er Mausolos’ Schweser Ada in der Herrschaft über Karien und ließ sich sogar von ihr adoptieren. Die Kultur der Karer war wie die der Lyder mutterrechtlich organisiert; was auch erklären mag, warum bei den Hekatomniden nach dem Tod eines Königs Schwestern und Gattinnen offenbar ganz selbstverständlich die Herrschaft übernehmen konnten. Die verwickelte Familiengeschichte der Hekatomniden und das selbstbewusste Handeln der beiden Königinnen Artemisia und Ada wird von Strabon in Buch XIV seiner Erdbeschreibung erwähnt:

Hekatomnus nämlich, der König von Karien, hatte drei Söhne, Mausolos, Hidrieus und Pixodarus, und zwei Töchter, mit deren älterer, Artemisia, der älteste der Brüder, Mausolus, vermählt war, während der zweite, Hidrieus, die andere Schwester, Ada, zur Gemahlin hatte. Als jener kinderlos starb, hinterließ er das Reich seiner Gattin, von welcher ihm das erwähnte Grabmahl errichtet wurde. Als aber auch sie aus Gram über den Verlust des Gatten an der Auszehrung verschieden war, herrschte Hidrieus, und ihm folgte, als er an einer Krankheit starb, seine Gemahlin Ada; diese aber verdrängte der Pixodarus, der noch übrige von den Söhnen des Hekatomnus. Dieser, ein Freund der Perser, ließ einen Satrapen zur Teilnahme an der Herrschaft kommen, und als auch er aus dem Leben schied, behielt der Satrap Halikarnassus, da er die Ada, eine Tochter des Pixodarus und der Aphneis, einer Kappadocierin, zur Gemahlin hatte. Als aber Alexander heranzog, hielt er eine Belagerung aus; Ada jedoch, die Tochter des Hekatomnus, welche Pixodarus verdrängt hatte, flehte den Alexander an und beredete ihn, sie in das ihr entrissene Königreich zurückzuführen, indem sie ihm ihre Mitwirkung in Bezug auf die abgefallenen Städte versprach, da ja deren jetzige Besitzer ihre Verwandten wären; auch übergab sie ihm Alinda, wo sie sich damals aufhielt. Alexander erklärte seine Zustimmung, ernannte sie zur Königin und überließ ihr, nachdem er die Stadt bis auf die Burg erobert hatte, die Belagerung jener.32

Ab 129 v. Z. gehörte Karien zur römischen Provinz Asia, ab 305 wurde es eigene Provinz (Caria), aus dieser Zeit stammt auch das Preisedikt des Diokletian in Stratonikeia. In byzantinischer Zeit gehörte es zum Thema Kibyrrhaiton, bis sich ab 1260 die Seldschuken und Osmanen in Karien festsetzten.

Ob die Karer die Gottheit Hekate aus ihrer ursprünglichen Heimat mitbrachten oder erst auf dem Festland kennen lernten, ist unklar, es spricht aber einiges dafür, dass Hekate eine autochthone kleinasiatische Gottheit ist. Karien war im Landesinneren eine eher unzugängliche Region, so dass sich dort altertümliche Sitten und Kulte länger hielten als andernorts (auch die Christianisierung verlief langsamer als andernorts). Nachdem man in den letzten Jahren die Schrift der Karer entziffern konnte und die wenigen Inschriften lesen konnte, ordnen Sprachwissenschaftler heute das Karische der Gruppe der anatolischen Sprachen zu, zu denen auch das Luwische gehört. Karisch wäre also eine indogermanische Sprache und folglich mit dem Hethitischen verwandt33. Eine Stelle bei Homer (Ilias II, 867) belegt jedenfalls, dass ihre Sprache von den Griechen als „rau“ empfunden wurde: Nastes führte die Karer, die rauh, ganz ungriechisch, sprechen 34

Strabon (XIV,2, 28) bemerkt zu diesem Vers, dass nicht etwa das Karische an sich „rau“ klinge, sondern das gebrochene Griechisch der karischen Söldner, die in ganz Griechenland angeheuert wurden.

Herodot geht jedenfalls davon aus, dass Lyder, Mysier und Karer stammverwandt sind; Strabon (XIV, 2,3) erwähnt überdies, die Einwohner von Kaunus hätten dieselbe Sprache wie die Karer und seien ursprünglich aus Kreta gekommen. Auch wenn die Karer also eine indogermanische Sprache sprachen, hatte ihre Kultur doch mit ziemlicher Sicherheit ein starkes Substrat aus der bronzezeitlichen ägäischen Kultur. In einem Gedicht des Kritias (460 - 403 v. Z.) wird den Karern die Erfindung des Schiffs zugeschrieben, eine Kulturleistung, die sie auf dieselbe Stufe wie die Phönizier stellt:

Der Phoiniker erfand, Stütze des Geistes, die Schrift.

Theben baute zum ersten Male den Wagen - die Karer,

kluge Beherrscher der See, stellten die Lastschiffe her.35

Eine andere Theorie besagt hingegen, dass Hekate ursprünglich eine thrakische Göttin sei, da ihr Kult in Makedonien und Thrakien sehr alt war. Darauf lässt der Paian Pindars für Abdera36 schließen, in dem Hekate der Stadt an Neumond das Schicksal verkündet, sowie eine Stelle bei Pausanias (II,30), der zufolge die Bewohner der Insel Ägina behaupteten, Orpheus habe den Hekate-Kult zu ihnen gebracht. Jedoch wurden dem Orpheus bei den Griechen alle möglichen Kulte zugeschrieben, so dass man diese Aussage nicht überbewerten sollte, auch Nilsson spricht sich gegen den thrakischen Ursprung aus: „Vor allem hat man das Zeugnis der Personennamen übersehen, das unwiderleglich beweist, dass der feste Sitz der Hekate in den kleinasiatischen Städten und auf den Inseln im Südosten zu suchen ist. Von hier stammen fast alle Träger der Namen Hekataios, Hekatomnos usw., die wir kennen.“37

Auf der durch den Mysterienkult der Kabiren berühmten Insel Samothrake hatte sie eine eigene Höhle, in der ihr bei Fackelschein Mysterien gefeiert und Hunde geopfert wurden; Hundeopfer sind auch für Böotien, Kos, Thrakien und Kolophon belegt.38 Von den Griechen wurden sie sogar gelegentlich als „karisches Opfer“ (karikòn thyma) bezeichnet. Vermutlich wurde Hekate auf Samothrake mit einer vorgriechischen Göttin namens Zerynthia gleichgesetzt, die auf samothrakischen Münzen als thronende Göttin mit zwei Löwen dargestellt wird. Der Löwe ist, wie schon Alfred Laumonier zu Recht hervorhebt, auch das Symboltier der hethitischen Hauptgöttin von Yazilikaya, der Atargatis, Kybele, Artemis, Hera, Dea Syriaca, Kirke, Cyrene und Nemea (vgl. Porphyrios, De abstinentia, III, 16 - 17). Auf Münzen aus Stratonikeia wird Hekate mehrfach mit einem Löwen als Reit- oder Begleittier abgebildet.39 Bezeichnenderweise wird Hekate auch öfters als „despoina“ (Herrin) bezeichnet, eine Anrede, die sonst nur orientalischen Göttinnen zuteil wird. In den anderen Regionen Kleinasiens wurde Hekate allem Anschein nach stets mit mächtigen Erdgöttinnen gleichgesetzt: In Kilikien war sie mit Gê (Gaia) identisch, in Phrygien hieß sie Nenena und wurde mit Zeus Brontôn verbunden, in Lykien war sie äquivalent mit Leto, in Pisidien hingegen Partnerin des Sonnengottes Helios, während sie in Chalke und auf Kreta anstelle von Hera an die Seite des Zeus trat. In Kolophon wurde sie mit Kybele geglichen.40 Die Göttinnen, die in Karien am meisten verehrt wurden, sind Aphrodite (Aphrodisias), Artemis (Ephesus) und Hekate (Lagina-Stratonikeia).

Eine weitere Besonderheit der Karer war der Kult des Zeus Labrandeos, des Zeus mit der Doppelaxt. Nun ist die Doppelaxt ein altes Symbol der Potnia, der „großen Herrin“, die unter den Namen Diktynna, Rhea und Gaia verehrt wurde. Dass der karische Wettergott dieses Symbol übernahm, deutet darauf hin, dass er ursprünglich der Gefährte der großen Göttin war und rückt ihn in die Nähe des syrischen Zeus Dolichenus, des lydischen Zeus Targunnos und des hethitischen Tessub, die alle Blitz und Doppelaxt führen. Der Gipfel des Latmos war ihm heilig und war noch im Mittelalter das Ziel von Bittprozessionen, die bei anhaltender Trockenheit veranstaltet wurden: „Der Stein besaß Heilkräfte und verlieh den Äbten die Gabe der Erleuchtung.“41 So berichtet in einer Vita des heiligen Paulos des Jüngeren, die kurz nach 955 entstanden ist! Mit dem „Stein“ ist der 1375 Meter hohe „Radberg“ (Teherledag) oberhalb des Styrosklosters gemeint. Der Wettergott mit der Doppelaxt, der auf Berggipfeln haust, ist selbst den Türken heute noch als sagenhafter „Regenvater“ (Yamurbaba) geläufig.

Hekate

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