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Einleitung Wir stehen an einer Wegkreuzung
ОглавлениеEs erscheint heute als möglich, wenn nicht sogar unausweichlich, dass eine weitere Ausbreitung unserer technisch-industriellen Zivilisation die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zerstört. Seit der Jungsteinzeit hat die Menschheit versucht, die Natur durch Technik zu beherrschen und sich vor ihrer Unberechenbarkeit zu schützen. Während die Technologie ständig neue Erfolge erzielt (die es irgendwann vielleicht ermöglichen werden, den eigenen Körper beliebig zu modfizieren, das Bewusstsein in einen virtuellen Raum zu übertragen und das Weltall zu besiedeln), wächst andererseits bei vielen Menschen die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Einheit mit der Natur – sei es einem ländlichen Leben wie vor der industriellen Revolution oder gar einer Jäger- und – Sammlerexistenz wie vor der neolithischen Revolution.
Die Zwiespältigkeit unserer heutigen Existenz macht sich auch sozial und ideologisch bemerkbar. Die gesellschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau wird neu verhandelt, wobei die seit 5000 Jahren geltende Vorrangstellung des Mannes (das Patriarchat) zunehmend in Frage gestellt wird. In Religion, Kunst und Wissenschaft sind „Frauenthemen“ in den letzten 50 Jahren vom Rand zunehmend in den Mittelpunkt gewandert, wie etwa die Diskussionen um ein ursprüngliches Matriarchat (matrizentrische Gesellschaft u. ä.) zeigen. Vor allem aber macht sich unterschwellig ein immer stärkeres Unbehagen an und in den monotheistischen (d. h. patriarchalen) Religionsformen bemerkbar. Die Formen, in denen sich heute ein neues Heidentum artikuliert, mögen oft genug unbeholfen und naiv wirken, entspringen aber offenbar dem dunklen Gefühl, dass in den letzten 2000 Jahren eine Möglichkeit religiösen und Natur-Erlebens unterdrückt, verfälscht oder verzerrt wurde, dass unserem Dasein eine Dimension fehlt, die es früher wohl einmal gegeben haben muss und nach nach der eine tiefe Sehnsucht besteht.
Mit einem Wort: Die GÖTTIN wird wieder zum Thema.
Für die Aktualität des Themas „Göttin“ gibt es ontologische und historische Gründe. Ontologie, als Analyse der menschlichen Existenz verstanden, wird uns zu der Einsicht führen, dass der Mensch nicht nur in abstrakten Begriffen denkt, sondern auch innere Bilder erlebt, die symbolische Bedeutung haben (sei es individuell oder kollektiv). Diese inneren Bilder werden von Polaritäten strukturiert, d. h. von Gegensätzen, die sich logisch gesehen zwar gegenseitig ausschließen, sich im LEBEN aber gegenseitig bedingen und ständig ineinander übergehen, wie Tag und Nacht, Licht und Schatten, Sonne und Mond. Eine der grundsätzlichen Polaritäten ist die von männlich und weiblich, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Mit Ludwig Klages können wir sie wie folgt skizzieren:
Empfängnisvermögen, unten, Ruhe, Dunkelheit, Erde, Raum, Nacht, Sterben, Zügelung, Innerung, ‚Herz’, links auf der einen Seite;
Zeugekraft, oben, Bewegung, Licht, Sonne, Zeit, Tag, Entstehen, Antrieb, Äußerung, ‚Kopf’, rechts auf der andern.1
Ursprünglich sind „männlich“ und „weiblich“ (chinesische gesproch: Yin und Yang) keine feindlichen Gegensätze, sondern sich ergänzende Pole:
Gleichgültig, ob wir unterscheidende Eigentümlichkeiten des Verhaltens im Paarungsvorgang oder sonstige Haltungsunterschiede beider Geschlechte zum Leitbild wählen, immer besteht auf männlicher Seite ein Übergewicht des Sichbewegens, Aussicherhausgehens, Kräfteverschwendens, auf weiblicher des Verharrens, Empfangens und Kräftebewahrens. Darnach entsprechen dem Männlichen: offenbarende Helle, Beweglichkeit, Schleuderkraft, aufrechte Lage, heraklitischer ‚Weg nach oben’, Gestaltung des Kommenden; dem Weiblichen: verhüllendes Dunkel, Ruhe, Ziehkraft, liegende Lage, heraklitischer ‚Weg nach unten’, Hang zum Gewesenen. Wird aber jede der beiden Seiten als Pol und nicht etwa als vereinzelbare Hälfte gefasst, so haben wir die sinnbildlich gemeinte Mannheit als durchdrungen vom Weiblichen vorzustellen, die Weiblichkeit als durchdrungen vom Männlichen. Die heute vollzogene Spaltung der Geschlechter dagegen in zwei einander bald befehdende und gebrauchende, bald leidenschaftlich suchende Parteien, ist nur die praktische Folge der nämlichen Lebenszerklüftung, (...) der Entbilderung und Atomisierung der Welt durch den rechnenden Willen zum Ausdruck kommt.2
In der Geistesgeschichte des Westens wurde das „weibliche“ Prinzip in den letzten 2500 Jahren zweifellos immer weiter zurückgedrängt, ja geradezu als Ursprung des „Bösen“ und Irrationalen verteufelt – mit fatalen Konsequenzen, die von der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen bis zur Naturzerstörung reichen. Im Bereich der Religion drückt sich die einseitige Dominanz des männlichen Prinzips in der Errichtung monotheistischer Strukturen mit ihren Priesterhierarchien aus.
Zweiter Grund: Seit Bachofen mehren sich die Zweifel an der naturgegebenen Vorherrschaft des Mannes. Die Erforschung unserer Ur- und Frühgeschichte lässt es zunehmend glaubhaft erscheinen, dass am Anfang der Menschheitsgeschichte eine Epoche stand, in der religiöse Funktionen überwiegend von Frauen ausgeübt wurden und die Verehrung nicht einem allmächtigen Vatergott galt, sondern einer großen Göttin, die mit der Natur in all ihren Aspekten gleichgesetzt wurde. Sie war war nicht nur die Große Mutter, in deren Händen Liebe und Geburt ruhen, sondern auch die Herrin der Dunkelheit und des Todes; sie war unten und oben, Himmel und Erde. Diese ursprüngliche Einheit wurde dann in der Jungsteinzeit und Bronzezeit aufgespalten in eine Polarität von weiblicher Erde und männlichem Himmel, bis die neuen Himmelsgötter schließlich ganz die Macht an sich rissen und die Göttinnen als Gemahlin oder Tochter von sich abhängig machten. Die Geschichte des Abendlandes lässt sich so als gigantischer Verdrängungsprozess beschreiben, an dessen Ende die Dämonisierung der Göttin als Hexe oder ihre Reduktion auf eine bloß dienende Funktion erfüllt (wie wir dies etwa sehr gut am Beispiel des katholischen Marienkultus sehen können). Die abgespaltenen und verdrängten Aspekte lösen sich aber nicht einfach in nichts auf, sondern bleiben im kollektiven Bewusstsein latent vorhanden und drängen immer wieder nach oben, wobei sie, da sie nicht erkannt und akzeptiert werden können, Angst auslösen.
Einer dieser Aspekte, die ursprünglich ein Gesicht der Göttin waren, ist die Gestalt der Todes- und Hexengöttin. Bevor wir uns aber näher mit den vier Gesichtern der Göttin beschäftigen, wollen wir uns zunächst einmal der grundsätzlichen Frage zuwenden, was denn Götter eigentlich sein sollen – und wozu man sich im 21. Jahrhundert noch mit ihnen beschäftigen soll.