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Frühe literarische Zeugnisse Der Hekate-Hymnus in Hesiods „Theogonie“
ОглавлениеDass Hekate bei Homer nicht erwähnt wird (genau so wenig wie Dionysos) berechtigt uns jedoch nicht zu der Annahme, sie sei damals noch ganz unbekannt gewesen. Göttin des Todes ist bei Homer Persephone, die von ihm häufig als „he Kêr“, die Todesgöttin, apostrophiert wird. Die Nichterwähnung der Hekate in der „Ilias“ und der „Odyssee“ könnte ein Indiz dafür sein, dass sie ursprünglich keine griechische Gottheit war und von der homerischen Adelsgesellschaft nicht verehrt wurde, da sie eher eine Göttin für Frauen und für nichtadlige Schichten der Bevölkerung war. Schon Wilamowitz-Moellendorf meint daher:
Sie ist also nicht durch Homer verbreitet, war aber in anderen Kreisen als denen, für die er dichtete, wohl schon verehrt; das südliche Ionien liegt ihm ja überhaupt ferner, und von da muss der Kult der Hekate ausgegangen sein.65
Die erste ausführliche Erwähnung der Göttin finden wir bei Hesiod in der Theogonie, v. 411 - 452. Der dort eingeschobene Hekate-Hymnus, dessen Echtheit heute weitgehend anerkannt wird, ist oft kommentiert worden.66 Er ist eingebaut in eine Reihe von Amtszuteilungen und Ehrenbekundungen, die Zeus ab Vers 348 den Töchtern der Tethys, der Göttin Styx und eben der Hekate zuteil werden lässt. Den Kontrast hierzu bilden die Besiegung der Titanen, die Ablösung des Kronos durch Zeus und die Bestrafung des Prometheus (ab V. 507).
Für Verwirrung unter den Philologen sorgt, dass Hekate hier nicht als dämonisch-blutrünstige Herrin der Nacht und der Zauberei erscheint, sondern als eine alte, sehr mächtige Göttin, die ihrem Verehrer Reichtum und Glück bescheren kann. Der Aufbau des Hymnus ist kompliziert, zerfällt aber doch organisch in zwei Hauptteile, deren erster Hekates Macht beschreibt, die sich über Himmel, Erde und Meer erstreckt und auch von Zeus anerkannt wird, während der zweite Teil an einzelnen Beispielen beschreibt, wie ihre Gnade dem einzelnen Menschen Glück und Sieg zuteil werden lässt.
Hekate stammt nach Hesiod von der Titanin Asteria und dem Titanen Perses ab, die ihrerseits Kinder der Gaia und des Uranos bzw. der Gaia und des Pontos sind. Hekate gehört also der vierten Generation der Götter an, ist damit gleichalt mit Zeus und stammt von den Elementen Erde (Gaia), Himmel (Uranos) und Meer (Pontos) ab. Ihr Vater Perses ragt „unter allen an Wissen und Klugheit hervor“ (V. 377). Ihre Mutter Asteria (benannt nach „aster“, „der Stern“?) ist eine Schwester der Leto, der Mutter von Apollo und Artemis, deren Cousine sie somit ist. Ihre Großeltern mütterlicherseits sind der Titan Koios, dessen Name auf vorgriechische Ursprünge verweist und die „goldbekränzte“ Titanin Phoibe („die Glänzende“, Theogonie Vers 146); ihre Großeltern väterlicherseits sind der Titan Kreios (ebenfalls ein vorgriechischer Gott, der auf dem Peloponnes verehrt wurde) und die Titanin Eurybia („die weithin mächtig ist“, V. 375), „die mit dem härtesten Herzen“ (t’ adamantos eni presi thymon echousan, V. 239). Nach späteren Autoren ist sie entweder ein Kind der Nacht (so Bacchylides), des Tartaros oder eine Tochter von Zeus und Asteria; nach orphischer Überlieferung gar eine Tochter der Demeter.67 Hervorzuheben ist, dass Hekate monogenes ist, „alleingeboren“, sie hat keine Geschwister, und wie Diana-Artemis verzichtet sie auf Mutterschaft. Sie ist keine Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe.
Merkwürdig ist, wie stark Hesiod betont, dass Hekates Macht von Zeus so sehr respektiert wird, dass er keinen Versuch macht, sie zu schwängern oder zu unterwerfen (was mythologisch gesehen auf dasselbe hinausläuft: Der Vatergott Zeus unterwirft sich die Göttin, indem er sie zu seiner Gattin, Liebhaberin oder Tochter macht). Im Gegensatz zu Hera, die Zeus als Gemahlin beigeordnet ist und nur indirekt gegen Zeus aufbegehrt, indem sie seine zahllosen Geliebten und Kinder verfolgt, hat sich Hekate ihre Unabhängigkeit erhalten können und sich nicht in die patriarchale Hierarchie der olympischen Götter integriert.
Der Name von Hekates Vater Perses führt uns wieder auf eine nicht-indogermanische Wortwurzel *persa mit der Bedeutung „Licht, Feuer, Sonne“, wie sie auch in den Namen Persephone und Perse enthalten ist. Perses dürfte daher auf einen vorgriechischen Sonnengott zurückgehen, der wiederum Sohn der Erdgöttin ist. Tatsächlich ist Perses’ Mutter die Titanin Eurybie, die als Tochter der Gaia selbst eine Hypostase der Erdgöttin ist, so dass wir in dem Mutter-Sohn-Verhältnis zwischen Eurybie und Perses wiederum den altorientalischen Mythos vorfinden, in dem der Sonnengott ein Kind der Erdgöttin ist.68
Hier nun der Text aus Hesiods „Theogonie“:
Phoibe aber bettete sich in Liebe mit Koios.
In der Umarmung empfing den Samen des Gottes die Göttin,
und sie gebar die schwarzgewandete Leto, die sanfte,
sanften Sinns seit Beginn, die friedlichste in des Olympos
Reich, den Menschen so freundlich gesinnt wie den ewigen Göttern.
Ferner gebar sie die namenschöne Asteria; Perses
Führte sie heim in sein Haus, auf dass sie Gattin ihm heiße.
Diese empfing und gebar dann Hekate, die der Kronide
Zeus vor allen geehrt, indem er sie herrlich begabte,
Teil an der Erde zu haben und an der Öde des Meeres.
Hohe Ehre auch ward ihr zuteil unter Himmelsgestirnen,
höchste Achtung genießt sie im Kreis der unsterblichen Götter.
Denn noch jetzt ist es so: Wenn einer der irdischen Menschen
Gnade erfleht, im heiligen Opfer dem Brauche genügend,
ruft er Hekate an. Und reichen Segen gewinnt er
mühelos, wenn nur die Göttin sein Bitten gnädig erhört hat.
Aus der Fülle der Macht gewährt sie Glück ihm und Wohlstand.
Denn von allen Göttern, die Erde und Himmel entstammen,
mögen sie noch so geehrt sein: Sie hält ihr Schicksal in Händen.
Niemals übte Gewalt gegen sie der Kronide, nie rührte
Er an die Macht, die ihr zukam unter den früheren Göttern.
Nein, was von Anfang an ihr heiliges Teil war, behielt sie:
Alle Ehre auf Erden, am Himmel wie auf dem Meere.
War sie auch einzeln geboren, empfing sie nicht kleineren Anteil,
nein, viel größeren noch, da Zeus sie achtet wie keine.
Ganz, wie sie will, gewährt sie Hilfe und Schutz einem Manne:
Ehrwürdig hohen Königen sitzt er als Richter zur Seite,
in der Versammlung ragt er hervor, der Günstling der Göttin.
So auch im Krieg: Wenn zum männermordenden Kampfe die Männer
Rüsten, hilft sie, die Göttin, dem Helden, dem ihre Gnade
Sieg zu schenken und Ruhm zu gönnen freundlich gewillt ist.
Gut ist sie auch, wenn Männer in sportlichen Kämpfen sich messen;
Denn auch denen leistet die Göttin Beistand und Hilfe.
Wer durch Kraft und Stärke gesiegt, den herrlichen Kampfpreis
Trägt er leicht, voller Freude davon, der Stolz seiner Eltern.
Gut ist ferner die Göttin den Reitern, denen sie wohl will,
auch den Männern zur See, die in schlimmer Bläue sich plagen,
wenn sie zu Hekate flehn und zum Erderschüttrer Poseidon.
Mühelos reichen Fang gewährt die erhabene Göttin,
leicht auch nimmt sie ihn fort aus dem Licht nach eignem Gefallen.
Hilfreich wirkt sie mit Hermes im Stall, dem Vieh zu Gedeihen.
Rinderherden und weithin weidende Ziegen und Scharen
Wolliger Schafe, und sind sie noch so gering: Sie vermehrt sie,
wie es ihr immer gefällt, und lässt sie auch wieder schwinden.
Also, obwohl als einziges Kind ihrer Mutter geboren,
steht sie dennoch in höchsten Ehren unter den Göttern.
Darum legt auch Zeus ihr ans Herz das Gedeihen der Jungen,
die das weithinschauende Licht des Morgens erblickten.
Uranfänglich hegt sie die Jugend. Das sind ihre Ehren.69
Der Hymnus zeigt Hekate als Schicksalsgöttin, die das Schicksal der Menschen in Händen hält. Hervorheben möchte ich die enge Verbindung zu Hermes, die hier hergestellt wird, und die Rolle der Hekate als Hüterin der Jugend (V. 452, όυτως εξ ‘αρχης κουροτρόφος, houtôs ex archês kourotróphos), die auch sonst mehrfach belegt ist. Als „kourotrophos“ bezeichnet man griechische Statuen der Göttin, in denen sie als Mutter eines kleinen Kindes dargestellt wird (wie Isis mit Osiris und später Maria mit dem Jesuskind). Wie sollen wir uns diesen scheinbaren Widerspruch zu ihrem sonstigen Erscheinungsbild als „Hexengöttin“ erklären? Ich glaube, man muss berücksichtigen, dass der Hymnus die Göttin gnädig stimmen soll, der Dichter also bewusst den segensreichen Aspekt betont und das ungnädige Gesicht der Göttin verschweigt. Vers 443 und 447 sind aber verräterisch: „leicht auch nimmt sie ihn (den Fischfang) fort aus dem Licht nach eignem Gefallen“, „wie es ihr immer gefällt, und lässt sie (die Tiere) auch wieder verschwinden“. Es ist erstaunlich, dass kaum einer der bisherigen Kommentatoren hier an das bekannte Motiv der Göttin als „Herrin der Tiere“ (potnia therôn) gedacht hat. Die Göttin kann Leben und Reichtum geben, genauso schnell kann sie aber auch Leben und Besitz wegnehmen. Sie ist also auch Göttin des Todes. Wenn ihr zum Schluss von Zeus die Kinder ans Herz gelegt werden, können wir daraus unausgesprochen die Angst vor der Kindestöterin Hekate herauslesen, die durch gutes Zureden davon abgebracht werden soll, die Kinder vorzeitig zu sich zu nehmen – ein Aspekt, der uns bei anderen Göttinnen (Ischtar, Lilith, Hel, Holle) ebenfalls begegnet. Sehr gut passt hierzu, dass Hekate an anderen Stellen als Geburtshelferin erscheint, die von den Gebärenden um Beistand angerufen wird, wie wir weiter unten noch sehen werden.
Ich komme daher zu dem Schluss, dass die Hekate-Episode bei Hesiod keineswegs im Widerspruch zu den sonstigen Zeugnissen steht, sondern die ambivalente Natur der Göttin sehr wohl erkennen lässt, obgleich ihre düsteren Züge nur vorsichtig angedeutet werden. Alle weiteren Informationen über Hekate ergänzen das Bild, das Hesiod zeichnet, aber widerlegen es nicht. Im Gegenteil, die Verbindung zu Hermes, die in V. 444 hergestellt wird, wird durch spätere Dokumente wie etwa die griechischen Zauberpapyri aus Ägypten nur bestätigt (s. unten). Insgesamt passt das Gesamtbild, das Hesiod von der Göttin zeichnet, gut zu einem mutmaßlichen Ursprung als kleinasiatische Sonnengottheit, die ähnlich ambivalent und ungezähmt ist wie die babylonische Ischtar und die phönizische Astarte.